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Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 22.11.12

Eine Welt der Täuschungen und eine große Liebe

A.L. Kennedy berührt mit ihrem Roman »Das Blaue Buch«
wieder einmal bis zur Schmerzgrenze

Von Georg Patzer



 

Es beginnt, wie Liebesgeschichten manchmal beginnen: Eigentlich ist Beth mit ihrem Fastverlobten Derek unterwegs, sie gehen gerade an Bord eines Luxusdampfers, der sie von England nach Amerika bringen soll. Auf dieser Reise will Derek ihr den Heiratsantrag machen, den sie schon erwartet. Aber dann macht ein Mann neben ihnen, Arthur, Zaubertricks, eine Zahlenspielerei, um den Wartenden die Zeit zu verkürzen. Später spricht Arthur sie an, und sie reden miteinander, bis »für sie alles zu spät ist«. Denn pötzlich merkt Beth, dass sie, als sie zum Büffet gehen, Arthurs Ellbogen angefasst hat. Und wenig später, als Derek seekrank im Bett liegt, sagt Arthur zart und leise, «nah am Flüstern, jedes Wort im gleichen, tiefen Ton, ehe er im rauen Ausatmen endet: 'Du hast meinen Arm berührt.'«

Denn Arthur und Beth sind sich nicht fremd, sie hatten eine lange Liebes- und Arbeitsbeziehung. Jahrelang sind sie zusammen durch Englands Provinz getourt, haben auf der Bühne verzweifelten und trostlosen Menschen vorgespielt, ihre Toten würden mit ihnen reden, ihnen Trost spenden, sie auffordern, mit dem Leben weiterzumachen. Sie waren gut darin, denn Arthur ist ein sehr feinfühliger Mann mit einer seltenen Gabe an Einfühlung, und auch Beth hat nach und nach gelernt, noch die kleinsten körperlichen Zuckungen, Bewegungen, Erstarrungen richtig zu deuten. In großer Perfektion haben sie eine Welt der Täuschungen aufgebaut, bis Beth nicht mehr konnte und sich von Arthur getrennt hat. Aber jetzt ist er wieder da. Und es folgt eine Geschichte der Annäherung, aber auch der Täuschungen und Fluchten. Es ist die Geschichte eines Paares, das schließlich versucht, sich vollständig zu öffnen und aufrichtig zu sein. Bis zum überraschenden Ende.

Die nobelpreisverdächtige schottische Autorin A.L. Kennedy, Spezialistin für abseitige Charaktere und Glücksmomente an den abstrusesten Ecken, zieht sprachlich alle Register. Sie kann ebenso grob wie zärtlich schreiben, sie erzählt von Beth und Arthur distanziert und doch wieder von innen. Sie versucht auch nicht, sie zu denunzieren, denn zwischendurch erzählt sie auch, welchen wirklichen Trost Arthur mit seinen Tricks spenden kann, u.a. einer kriegstraumatisierten Frau aus Ruanda, der Söldner eine Hand abgehackt haben. Oder den reichen Frauen, die ihn mit viel Geld versorgen.

»Das blaue Buch« ist ein unglaublich vielschichtiges Buch auf vielen Ebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven, mit vielen Geschichten und Themen: Gutgläubigkeit, Vertrauen, Liebe und Verrat. Es gelingt Kennedy aber virtuos, auch den großen Bogen zu spannen und vor allem, für alles jeweils eine passende Sprache zu finden, für den Sex, die Angst, die Gefühle. Mit prägnanten Sätzen charakterisiert sie die Menschen: »Derek hat sich an einem mürrischen und enttäuschten Ort in seinem Kopf verbarrikadiert«. Mit manchen Sätzen fängt sie eine ganze Beziehung ein: »Sie werden von da an und für immer nicht gut füreinander sein.« Mit anderen, wie eine Liebe entsteht: »Er streckt den Arm aus und merkt, dass sie seine Hand hält.«

Kennedy zeigt, wie schwer das Leben für Menschen mit einem reichen Innenleben und einer übergroßen Sensiblität sein kann, wenn sie jede Regung des anderen mitbekommen, sie zeigt auch, wie schwer wirkliche Liebe eigentlich ist. Aber das wichtigste ist, dass Kennedy stets den Kern der menschlichen Erschütterung trifft, dass sie einen bis zur Schmerzgrenze berührt. Denn die Frage ist doch: Wie viel kann man verstecken, wie weit kann man sich öffnen, und: Wollen wir das überhaupt? Beth und Arthur wollen, und das macht ihre Liebe so einzigartig. Leider.
 

A. L. Kennedy
Das blaue Buch
Roman
Übersetzt von Ingo Herzke
Hanser Verlag
368 Seiten
21,90 Euro

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