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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 28.03.14

Eine Art Anti-Anti-Heimatroman

Reinhard Kaiser-Mühlecker Roman »Schwarzer Flieder«
erzählt vom Ende der Goldbergers.

Von Lothar Struck




 

Da, eine langgestreckte weiße Limousine mit schwarz glänzenden Scheiben, aus der laute Bässe wummerten. Dort, eine Maus, die vor seinem Fuß über den Gehweg huschte. Und zwei Radfahrer, die mitten im gemächlichen Dahinfahren auf einmal um die Wette zu fahren begannen und sich dabei aus den Sätteln erhoben. Es war eine ähnliche Offenheit, fast Wehrlosigkeit der Sinne, wie er sie vor langer Zeit schon einmal erfahren hatte, und zwar an dem Tag, an dem er nach Wien gezogen war. […] Doch damals waren die Bilder stumm in ihn gesunken, die Fühllosigkeit hatte schon unmerklich begonnen. Wie anders, bei aller Ähnlichkeit, war es jetzt: Jedes Bild belebte ihn. So wie er durch die nächtliche Stadt ging, ging er durch seine eigene Verwandlung.

Die sich hier vor den Augen des Lesers ereignende Verwandlung des Ferdinand Goldberger – eine von vielen Metamorphosen, die dieser Figur noch widerfahren werden - hat mit Susanne zu tun. Nachdem sich beide schon einmal getrennt hatten, ergriff Ferdinand die Initiative. Merkwürdigerweise erfuhren zunächst sein Onkel Thomas und Sabine, die Frau des verstorbenen Bruders seines Vaters, die auf dem Hof der Familie im oberösterreichischen Rosental leben, von Ferdinands Heiratsplänen. Schließlich erklärte er sich Susanne, die, obwohl sie die Liaison damals beendet hatte, unter der Trennung scheinbar litt und sich abkapselte. Susanne willigte ein; der Termin wird ausgemacht. Ferdinand, Anfang 30, richtet sich in seinem Leben neu ein, erlebt glückliche Tage und Monate. Sowohl im Büro als auch mit Susanne verflog die Zeit geradezu, trotzdem nahm er alles überwach, wie mit gereizten Sinnen wahr. Auch mit seinem Vorgesetzten – er arbeitet nach dem Studium für Bodenkultur im Landwirtschaftsministerium -  entspinnt sich ein freundschaftliches Verhältnis; er soll sein Trauzeuge werden.

Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt die Geschichte von Ferdinand Goldberger mit großer sprachlicher Genauigkeit. Dabei spielt es für den Leser keine Rolle, dass "Schwarzer Flieder" eine Weiterführung der "Goldberger-Saga" des Autors ist, die 2009 mit "Magdalenaberg" begann, dann 2012 mit dem umfangreichen Roman "Roter Flieder" fortgesetzt wurde und hier – scheinbar – ihr Ende findet (der Autor schreibt auf seiner Webseite apodiktisch vom "Ende der Goldbergersaga"). Klaus Kastberger, dem ein gehöriger Verdienst an der "Entdeckung" Kaiser-Mühleckers gebührt, weist in seiner Besprechung zum neuesten Buch ausdrücklich darauf hin, dass Vorkenntnisse der anderen Bücher für diesen Roman nicht notwendig sind. Das war der Grund für mich, der die anderen Bücher nicht gelesen hat, mit diesem Buch die Beschäftigung mit Kaiser-Mühlecker zu beginnen. Nach der Lektüre zeigt sich, dass Kastberger Recht hatte. Und das man das Versäumte nachholen sollte.

Ein Wahrnehmungsnervöser

Ferdinand Goldberger ist von Kaiser-Mühlecker mit einer veritablen "Wahrnehmungsnervosität" (Thomas Mann) ausgestattet. Er erinnert an eine dieser Figuren des frühen Handke, dem Tormann Bloch, der sogar einen Mord beginnt oder, noch treffender, Gregor Keuschnig, der – wie Goldberger – im weitestem Sinne für den österreichischen Staat arbeitet und mit zuweilen überreizten Sinnen, spannungsgeladen, fast synästhetisch seine Umgebung wahrnimmt, Zeichen entdeckt und in intermittierende Stimmungslagen zwischen Melancholie, Tatkraft, Apathie und Energie gerät. Ferdinands Perzeptionen, die von ihm bzw. dem personalen Erzähler kaum reflektiert werden, erzeugen beim Leser Spannungsmomente jenseits der Aneinanderreihung von Impressionen. Im ersten, dem Susanne-Kapitel und auch im letzten Abschnitt, als Ferdinand wieder zurück auf den Hof geht, schwingt fast immer eine untergründige Spannung, ein "suspense"-ähnliches Gefühl beim Leser mit.

Die Ahnung einer immer möglichen Bedrohung des sich abzeichnenden Familienidylls der Heirat wird mit dem ziemlich schnörkellos erzählten Freitod von Susanne eingelöst. Das zweite Kapitel beginnt mit den Anrufen aus Rosental, den einzigen Anrufen, die Ferdinand in seiner Trauer zuliess. Und wieder ereignete sich eine Verwandlung (keine Zäsur), die einher geht mit seiner Empfindlichkeit äußeren Reizen gegenüber und schließlich begann er auch überscharf auf alles, was er hörte, zu reagieren, und es machte ihn schließlich fast rasend, egal, wo er war, alles verstehen zu müssen. Für alles, dachte er, haben sie Erklärungen, für alles…obwohl doch alles ohne Worte geschieht. Die Konsequenz, die Ferdinand für sich zieht, ist radikal: Er bricht ohne jede Erklärungen nach Bolivien auf, auf den Spuren seines Vaters, der dorthin, so erfährt der Saga-Unkundige skizzenhaft in ein paar Sätzen, Ende der 1970er Jahre aufgebrochen war und die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Vorteil für Ferdinand: Er kann kein spanisch und damit löst sich der Zwang des Verstehen-Müssens. So taucht er ein in eine andere Welt, eine andere Kultur, zeigt Züge einer Depression, wird dann physisch krank, landet auf einer Kinderkrankenstation bei zwei österreichischen Zivildienstleistenden und bleibt dort auch nach seiner Genesung, wird der dritte "Zivi", gibt seinem Leben – so pathetisch steht das nirgendwo – einen Sinn, einen Ablauf, einen Rhythmus.

Am Grab des Vaters

Das klingt vielleicht als ein eher banales Setting, aber Kaiser-Mühlecker gelingt es das scheinbar Spröde atmosphärisch dicht zu erzählen, so dass man neugierig weiterliest. Ferdinand intensiviert die Suche nach den Orten seines Vaters; zwiespältig allerdings, aus Furcht, dass danach nichts mehr bleibe, dass es danach keine Fragen mehr geben würde, denen sich nachzugehen lohne. Aber er erfährt die Geschichte des Todes seines Vaters (er wurde erschlagen), trifft auf Menschen, die ihn kannten und schätzten und steht irgendwann vor seinem Grab; dem Grab mit Fliedersträuchern. Fliedersträuchern, die entgegen dem, was Ferdinand weiß, eine schwarze Rinde haben statt eine helle, was ihn fast verstört (die Wahrnehmungsempfindlichkeiten bleiben). Später wird ihm an ganz anderer Stelle diese Fliedersorte wieder begegnen. Er kniet vor dem Grab, weint, aber er wusste nicht, was diese Gefühlsaufwallung zu bedeuten hatte. Und doch begriff er es […] Das Glück, seinen Vater gefunden zu haben, und der Schmerz, ihn verloren zu haben – diese unnatürliche Reihenfolge -, das war es, was ihn bewegte.

Kurz darauf – und hier knistert ein ganz kleines bisschen im Roman-Gebälk – kommt der Anruf aus Oberösterreich: er muss nach Hause. Sein Onkel Thomas hatte den Sohn von Sabines Schwester, Leopold, der den Hof zusammen mit Thomas geführt und bewirtschaftet hatte, erschlagen. Im kurzen dritten Kapitel lässt Kaiser-Mühlecker fast ausschließlich Sabine erzählen. Der Leser bekommt einen Einblick in die Persönlichkeit von Thomas, das schwierige Verhältnis zu Leopold, dessen vermuteter sexueller Gewalt-Perversionen (er bringt irgendwann an den Wänden in seinem Zimmer Eierkartons an, damit die Schreie der Frauen nicht im Haus hörbar sind), die ökonomischen Gefahren und Probleme, die es bei der von Thomas betriebenen Expansion des Unternehmens hin zur Viehwirtschaft gab und die hieraus resultierenden sozialen Spannungen im Dorf. Ferdinand erklärt sich bereit, auf den Betrieb zurück zu kehren, ihn "zu übernehmen", allerdings unter der Bedingung, dass Thomas sich auch nach der Verbüßung seiner Gefängnisstrafe nie mehr auf dem Hof blicken lässt.

Rückbau

Ferdinand kehrt zurück und hebt nacheinander alle möglichen Modernisierungs- und Expansionsmaßnahmen, die Thomas eingeleitet hatte, auf. So annulliert er alle Pachtverträge für zusätzliche Grundstücke, die der Onkel für die Viehzucht erworben hatte. Thomas war für Ferdinand gestorben. Für ihn gab es ihn nicht mehr, nicht als etwas Gegenwärtiges. Aus diesem Grund fürchtete sich Ferdinand kein bisschen vor der Entlassung des Onkels, wenn er nicht von der Tante darauf gebracht wurde, dachte er nicht einmal daran. Über einen Dritten hört er, wie der inzwischen aus dem Gefängnis entlassene Thomas über ihn im Dorf spricht. Wieder eine Metamorphose: Es begann eine Phase, die Ferdinands Wesen veränderte. […] Jetzt, ausgelöst von Thomas' Verhalten…wurde sein Denken und Handeln nach und nach ein Goldbergersches. Ferdinand wollte den Zustand wie zur Zeit seines Vaters, der so gerne Hoferbe geworden wäre, aber als Zehnjähriger ins Stiftsgymnasium nach K. geschickt worden war und setzt die Rückbauaktionen auf dem Anwesen fort. Er reißt von Thomas errichtete Gebäude ab, widmet sich pflanzenbauliche[n] Experimente[n] in den inzwischen leeren Ställen und unübersehbar…hatte er Thomas einfach so den Betrieb abgenommen und dessen Lebenswerk innerhalb kürzester Zeit zerstört. Mit dieser Form des Zurück (was langfristig zum ökonomischen Desaster werden könnte) zeigt sich eine Entwicklung, die sich bereits mit der Reise nach Bolivien andeutete: Ferdinand möchte das von seinem Vater nicht gelebte Leben führen. Er bricht mit den wenigen Personen, zu denen er noch Kontakt hat. Nach einem Jahr nur notdürftigster Kommunikation verlässt ihn dann auch noch Sabine, der er den Dorfklatsch anlastet und die von Thomas schließlich abgeholt wird.

Ferdinand hatte es nicht bemerkt, dass sich mit Susannes Tod sein ganzes Wesen dunkler gefärbt hatte. Und auch nicht, dass es sich mit der Rückkehr aus Bolivien noch weiter, noch tiefer gefärbt hatte. […] Sein Wesen hatte sich in das Dunkel als in etwas Rettendes geflüchtet. Er versucht irgendwann über eine Kontaktanzeige eine Frau zu finden, was auch für kurze Zeit mit der resoluten Renate gelingt. Aber als Ferdinand mit Judith, der Tochter seines ehemaligen Chefs, zusammenkommt und sich eine Liebesbeziehung, fast täglich an Intensität zunehmend zwischen den beiden sozusagen unter Renates Augen entspann, packte Renate ihre Sachen und wechselte samt ihrer Enten zum Nachbarbauern. Am Ende gibt es noch eine kleine Pointe, die nicht verraten werden soll.

Ein neues Genre?

Ferdinands Häutungen, diese an äußere Umstände gekoppelten inneren Metamorphosen des nervösen Wahrnehmenden, begleiten, ja strukturieren dieses Buch. Die Figur bekommt dabei eine zuweilen mytisch-archaische Aura; ein bisschen unberechenbar und kauzig aber auch mit einem seltsamen Gefühl von Freiheit. In Kaiser-Mühleckers "Schwarzer Flieder" (vielleicht in der ganzen Saga?) könnte so etwas wie ein neues Genre angedeutet werden, eine Art Anti-Anti-Heimatroman, der eben nicht gleich Heimatroman ist (also Idyllen-Kitsch), aber auch nicht den "Ort des Unbehagens und des Verbrechens" (Rene Peinbauer) ausmacht und an "die Stelle der idyllischen Gegenwart…die Schatten der Vergangenheit" treten und die Figuren nach Emanzipation ihrer Heimat suchen lässt. Hier geschieht fast das Gegenteil: Ferdinand versucht die Vergangenheit zu tilgen, indem er die Veränderungen des Onkels rückgängig macht und sich damit eine Ausgangsposition imaginiert, wie sie weiland sein Vater vorgefunden hatte. Ferdinand ist demnach nicht das, was man einen "Aussteiger" nennt, keiner dieser Moderne-Verweigerer, der verklärend sein Idyll auf dem Land sucht.

Es ist bedauerlich, dass Kaiser-Mühlecker nicht mehr zu dem "Projekt" Ferdinands und beispielsweise dessen Pflanzenexperimente geschrieben hat. Dass es scheitert, ist mindestens angedeutet, denn nicht nur dass sich die gesellschaftlichen und ökonomischen Prämissen geändert haben, auch die Zustände auf dem Hof selber haben sich verändert (er ist praktisch alleine) und sind nicht mehr in einem Regressionsakt wieder her zustellen. Aber ganz dumm was das Geld angeht ist die Hauptfigur auch nicht:  Es gibt eine Szene, in der er sich seiner gut versteckten Gold- und Silberbarren vergewissert, die er durch einen Grundstücksverkauf beschafft hat und die infolge gestiegener Rohstoffpreise einen stattlichen Zugewinn versprechen würden.

So wirkt die Frauengeschichte mit Judith und Renate am Ende fast ein bisschen "störend"; die Pointe lässt dann durchaus noch die Möglichkeit zu, dass es weiter geht. Wie auch immer: Reinhard Kaiser-Mühleckers "Schwarzer Flieder" ist ein famoses Buch, auch weil es durchaus divergierende Interpretationsmöglichkeiten eröffnet (auch und vor allem beim zweiten Lesen). Es ist Ausweis eines großen literarischen Talents; eines Talents, das wohl im besten Sinne typisch österreichisch ist. So schnell lässt man sich kein Buch mehr von Kaiser-Mühlecker entgehen.
Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

 

Reinhard Kaiser-Mühlecker
Schwarzer Flieder
Roman
Hoffmann & Campe
240 Seiten
19,90 €
978-3-455-40470-8

 


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