Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 

Bücher & Themen
Artikel online seit 27.11.13

Sodom Friedberg

»Die Straße« führt Andreas Maiers Familiensaga fort

Von Patrick Wichmann

 


 

So langsam verlässt der kleine Andreas seinen Mikrokosmos. Nach »Das Zimmer« und »Das Haus« ist nun der dritte Band von Andreas Maiers pseudo-autobiographischem Wetterau-Zyklus »Ortsumgehung« erschienen: »Die Straße«.

Tja, was gibt es noch groß über das Projekt Maiers zu sagen? Wer die ersten beiden Bände gelesen hat, wird auch im dritten Teil auf die vertrauten Umstände treffen: Er lauscht Andreas Maier, wie sein recht soziophobes Alter Ego aufwächst. Und mit »Die Straße« – der Titel ist Programm – erweitern sich nun auch die Kreise: Andreas lernt Nachbarshäuser kennen, geht in die Schule und findet dort Freunde, die Freundinnen der Schwester scharen sich um ihn und ein amerikanischer Gastschüler wohnt im Haus der Familie. Leben kehrt ein. Der Horizont weitet sich mit den fortschreitenden Lebensjahren; die Andersartigkeit des Jungen bleibt zwar, er fügt sich mit dieser jedoch mehr und mehr in die Gesellschaft ein.

Denn der »Problemandreas« ist mittlerweile in der Pubertät. Und entsprechend entdeckt er nach und nach eine Welt für sich, die ihm hinter der bisher gekannten zu liegen scheint: die Welt von Sex und Körperlichkeit. Diese steht unverkennbar im Zentrum des Romans. »Es gab also zwei Welten. In der einen waren alle wie alle, in der anderen waren die einen anders als die anderen, da fehlte dann etwas und mußte erst einmal hineingesteckt werden, sei es zunächst auch nur, was man gerade zur Hand hatte.«

Und diese erwartet den Jungen in all den Häusern des Friedberger Barbaraviertels, in denen die Väter die Freundinnen der Tochter nicht nur begehrlich betrachten, sondern sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch kurz auf ihren Schoß absetzen und sich Mütter mit ihren Söhnen zusammen ins Bett legen, nur mit einem Nachthemd bekleidet, »stufenweise aufknöpfbar«. In der Altstadt warten derweil Senioren in ihren Häusern auf junge Buben, während im Wald der Exhibitionist wartet. Pädophilie allerorten offenbar in der Friedberger Erwachsenenwelt der 80er-Jahre.

Demgegenüber muss sich Andreas das Geheimnis dieser anderen Sphäre erst langsam erarbeiten. »Am Anfang ist alles eins, die Verschiedenheit kommt erst später, dann ist das Paradies bereits verloren.« Bei diesem Kennenlernen »behilflich« sind Mitschüler, die Freundinnen der Schwester, die dauernd den Reiz des Verbotenen genießen, wenn sie sich allerlei in allerlei stecken – und natürlich die »Bravo«, die im jungen Andreas überhaupt erst »bravo-geborene Worte« schafft. Worte, die er kennt, deren Bedeutung er jedoch nicht in ihrer ganzen Tiefe erfasst und die ihm von den Erwachsenen gegenüber als etwas Böses präsentiert werden.

»Es gab überhaupt keine Sprache dafür, denn es war omnipräsent und lag allem zugrunde, und die gemeinsame Verabredung war – die Kinder, die steckten, hatten das noch nicht gelernt –, daß all das nicht existierte und nie zur Sprache kommen würde, nur eben in Form des ganz Bösen, das dann aber auch nur das ‚ganz Böse‘ genannt wurde, ohne weitere Inhaltsangabe des Böseseins, abgesehen davon, daß die Kinder verzehrt wurden oder dieses Böse immer etwa so aussah wie Gert Fröbe.«

Verglichen mit den beiden Vorgängerbänden erscheint »Die Straße« recht monothematisch: Warf der 46-jährige Maier hier noch einen Blick auf die gesamte Lebensumwelt Andreas’ mit all ihren Facetten, ist das jüngste Werk nun von diesem allmächtigen Thema bestimmt, das alle anderen Elemente überlagert. Auch die zunehmende Amerikanisierung und das schwesterliche Schwärmen für die GIs sind dementsprechend lediglich die Umsetzung sexuell aufgeladener Bravo-Poster-Träume. Und so muss der Vater bei den ersten Treffen der Schwester und ihrem amerikanischen Freund auch mit im Wohnzimmer bleiben und aufpassen. »Nicht anders hätte ein orientalischer Stammesfürst aus Tausendundeiner Nacht in seinem Zelt sitzen und seine Töchter beaufsichtigen können, als es mein Vater in unserem Wohnzimmer im Mühlweg mit meiner Schwester tat.«

»Die Straße« ist die konsequente Weiterführung von Andreas Maiers »Ortsumgehung«-Zyklus und reiht sich relativ nahtlos an die vorherigen Bände an. Einmal mehr sind es Erinnerungen »eher atmosphärischer Art«, die diese »Erzählung eines Vierzigjährigen« prägen. Wenngleich dieser Band sicher nicht der stärkste des auf elf Bände angelegten Zyklus ist, so macht doch auch er Lust auf den nächsten Band. Denn schließlich will man ja wissen, wie aus dem kleinen Andreas in der Autofiktion der Andreas Maier wurde, der heute wohl zu den besten deutschen Gegenwartsautoren gerechnet werden darf.

 

Andreas Maier
Die Straße
Roman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
190 Seiten, 17,95 EUR.
9783518423950

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste