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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Bücher & Themen
Artikel online seit 28.10.13

Vorgeführt

Nils Minkmars Aufzeichnungen über ein Jahr
im Innersten der Politik »Der Zirkus«

Von Lothar Struck




 

 

"Der Zirkus" nennt der FAZ-Feuilletonchef Nils Minkmar sein Buch über seine Impressionen vom Wahlkampf Peer Steinbrücks. Ein mehrdeutiger Begriff. Man könnte ihn als pejorative Formulierung auffassen: Medienzirkus etwa. Oder, noch abfälliger: Politzirkus. Aber das trifft es nicht. Irgendwann befällt Minkmar eine Art Melancholie, als er ein liebloses Plakat eines chinesischen Zirkus sieht, der in dem Moment in einer Stadt gastiert, als Peer Steinbrück dort Wahlkampf macht. Minkmar sinniert über den früheren Stellenwert des Zirkus nach. Es war "eine laute Sache, alle Effekte waren analog. […] Es war Unterhaltung, die voraussetzungs-, aber nicht anspruchslos war und so alt wie die westliche Demokratie selbst." Früher Massenunterhaltung, der das Leben einer Region für kurze Zeit prägte, spielt der Zirkus heute keine Rolle mehr. Minkmar nennt die Zirkus-Analogie in Bezug auf den Bundestagswahlkampf "bitter, aber nicht von der Hand zu weisen". Dabei sieht er weniger die Gegenwart als die Zukunft. Noch interessieren sich die Menschen für Politik; die Wahlbeteiligung liegt im Vergleich zu andern Ländern immer noch verhältnismäßig hoch.  Politik zieht noch die Menschen an, wenngleich Minkmar gegen Ende konzediert, dass ein Politikwechsel wie 1998 nicht in der Luft lag (der Besuch der Veranstaltungen war zu schwach).    

In diesem Zirkus war Minkmar nun fast ein Jahr gelegentlicher Gast. Immer wenn er konnte und wollte, begleitete er den Kanzlerkandidaten der SPD, Peer Steinbrück, auf dessen Wahlkampf. Er sprach mit vielen Personen aus dem nahen und weiteren Team (darunter ein mysteriöser, nicht-googleerfasster Chefberater), war auf Journalistenempfängen, Unterstützertreffen, in Altenheimen, Universitäten (eigentlich ziemlich selten, wie er ein bisschen verblüfft feststellt), Künstlerateliers, vor Mittelstandsunternehmern, in Freiluftveranstaltungen mit Klartext-Garantie oder in stickigen Restaurants.

Nebendraußen

Man könnte Minkmars Position innerhalb des Journalistentross mit dem Wort des Schriftstellers Hermann Lenz beschreiben: Er war "nebendraußen" – nicht ganz drin, aber auch nicht mehr außenstehend. Involviert, aber nicht engagiert. Dabei, aber auch abseits. Früh macht er aus seiner Sympathie zu Steinbrück keinen Hehl. Er wäre "ein guter Kanzler", so schreibt er auf Seite 23. (Das finde ich übrigens auch.) Merkwürdig dabei diese fast entschuldigende, ein wenig rechtfertigende Bemerkung, die zwischen zwei Beistrichen eingefügt ist: "selbst die Kanzlerin hat daran keinen Zweifel". Und wenn sie nun Zweifel gehabt hätte?

Oft erzählt Minkmar von seinen räumlichen Orientierungsschwierigkeiten (was ich sehr gut nachvollziehen kann). Manchmal findet er nicht die richtigen, offiziellen Eingänge. Oder er steht im Weg, wie nach dem TV-Duell, als er plötzlich der Kanzlerin und ihrer Entourage fast nicht mehr ausweichen kann. Gleich zu Beginn besucht er das Willy-Brandt-Haus der SPD, in dem ihm ein "omnisensorische[r] Vertigo" befällt. Das Gebäude passend zur Lage der SPD und der Politik überhaupt: richtungslos, pseudo-dynamisch. Mittendrin die große Überfigur Willy Brandt. Er findet die Plastik gelungen und überlegt, wie sich die zahlreichen SPD-Parteivorsitzenden (das Gebäude existiert seit 1996) wohl in Gesellschaft dieser Überfigur gefühlt haben müssen und kommt auf die Idee, wie sich Angela Merkel fühlen würde, müsste sie permanent neben einer Obama-Figur reden. Aber war Obama jemals CDU-Vorsitzender? Minkmars Assoziationen sind oft interessant, aber manchmal auch einfach schrecklich daneben.

Im Gegensatz zum Vertigobau: die "Karg- und Biederkeit" der SPD-Wahlkampfzentrale. Scheinbar in vorauseilendem Gehorsam besonders asketisch ausgestattet; die Berichterstattung um Steinbrücks Honorare ließ nichts anderes zu. Von hier werde also der "gewaltfreie Regimewechsel" geplant. Viele Freiwillige seien dabei. Recht spät im Buch erscheint der Name Heiko Geue, der "operativer Wahlkampfleiter" war. Über dessen Kleinstaffäre erfährt der Leser nichts. Und schließlich vermisst man den Namen der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles (er fällt nur einmal beiläufig). Dafür gibt es ein kleines Portrait von Sigmar Gabriel und immer wieder Andeutungen zum Verhältnis zwischen Gabriel und Steinbrück. Es gab Differenzen, aber welche?

Kontinuität der Kleinmut

Gleich zu Beginn erzählt Minkmar von einem Gedichtvortrag Steinbrücks. Er liest aus Grass' "Tagebuch einer Schnecke". Grass hat hier seine Wahlkampfreisen von 1969 aufbereitet und fiktionalisiert. Minkmar ist begeistert von der Rhetorik Steinbrücks und Grass' Gedicht. Später wird er bei der Buchvorstellung des Briefwechsels zwischen Willy Brandt und Günter Grass dabei sein. Grass und Steinbrück und Thierse und ganz viele Journalisten. Grass kommt in Minkmars Buch nicht gut weg. Seine Zugehörigkeit zu einer Waffen-SS-Einheit wird als Mitgliedschaft bezeichnet – eine Ungenauigkeit, die jemandem wie Minkmar, der das SPD-Parteiprogramm für das Buch notwendigerweise gründlich durchlektoriert und die "All-inclusive-Sätze" gekonnt aufspiesst, hätte auffallen müssen. Im Briefwechsel zwischen Grass und Brandt wird deutlich, was Grass damals geleistet hatte. Zwischen März und September 1969 sprach er in über 60 Veranstaltungen, 25 Betriebs- oder Zechenbesichtigungen und hielt 46 Pressekonferenzen ab. Er redigierte und legte Zeitschriften auf ("dafür"), verfasste Flugblätter und schaltete Anzeigen. Daneben führte er Tagebuch und schrieb Briefe. So beklagte die Wahlkampf-Dampflokomotive Grass in einem Brief an Willy Brandt (damals Kanzlerkandidat und SPD-Parteivorsitzender) das erschreckende Niveau einiger Wahlkreiskandidaten und den "Kleinmut" der Genossen an der Basis. Wer das liest, stellt ein schreckliches Kontinuum fest, das auch Minkmar in einer Wahrnehmung streift: "…die SPD – nicht ihre Spitze, aber doch die mittlere Ebene der Funktionäre und Delegierten – haderte" mit ihrem Kandidaten. Die "Virtuosen der Geschäftsordnungen" konnten mit einem zupackenden, intellektuell brillant auftretenden Kandidaten wenig anfangen. Und auch die "'Regionalkönige'" (vulgo: SPD-Ministerpräsidenten der Länder) "schonten" sich.

Minkmar liefert viele Belege für Steinbrücks brillante und immer formvollendete Auftritte. Er schildert die detailreichen Argumentationsketten, erklärt seinen Duktus. Aber Steinbrück ist auch "Akrobat, Schauspieler und Entertainer". Er will überzeugen und unterhalten. Minkmar erzählt von der Lust der Journalisten, den gelegentlich gereizten Kandidaten zu provozieren und dann "zu skandalisieren oder zu exotisieren". Lust am Fettnäpfchenaufstellen. Als Steinbrück einmal sagt, dass er am Wochenende auch mal gerne neun Stunden schläft, tuscheln zwei Journalisten, das er also nicht mehr fit genug für langwierige Nachtsitzungen bei der EU sei.

Hommage an Peter Glotz

Die Stolpersteine in der Steinbrück-Kampagne verschweigt Minkmar nicht. Er erklärt, warum es ein strategischer Fehler war, das Kanzlergehalt zu thematisieren (verschweigt aber nicht die Lust der Journaille an der Skandalisierung). Die Tränen auf einer Veranstaltung mit seiner Frau nennt er den Tiefpunkt, weil sie die Wankelmütigkeit und Unberechenbarkeit Steinbrücks zeigen würden, die Wähler jedoch eher die Sicherheit und Kontinuität wünschen. Und den Stinkefinger wenige Tage vor der Wahl kosten Steinbrück, davon ist Minkmar überzeugt, die paar Prozentpunkte, die er durch das souveräne absolvierte TV-Duell, von dem er in den höchsten Tönen schwärmt, gewonnen hatte.

Gelegentlich beschäftigt sich Minkmar mit der Partei, der SPD. Er versteht sie nicht. Erklärt, wie man scheinbar nebeneinander arbeitet, statt miteinander. Er obduziert den Wahlslogan Das Wir entscheidet und sucht verzweifelt nach einer besseren Parole. Dabei ist für ihn sekundär, dass er bereits von einer Zeitarbeitsfirma verwendet wurde. Minkmar geht es um die Aussage.  Ich hätte "Gestalten statt verwalten" vorgeschlagen; einen Satz, den Steinbrück spät immer wieder betonte. Er hätte sowohl Merkels Stil konterkariert als auch Aktivität suggeriert.

In einer der schönsten Stellen im Buch entwirft Minkmar eine großartige Hommage auf den 2005 verstorbenen Peter Glotz. Er, der ehemalige Bundesgeschäftsführer der SPD, Vor-, Quer- und Nachdenker der Partei und Gesellschaft war nie das, was man "unumstritten" nannte. Immer eine Spur zu eilig, zu belesen, zu forsch. Aber er war nie langweilig; sprühte vor Intellekt und Kreativität. Er ist in der Partei vergessen. Nicht nur er als Person, sondern auch sein Anspruch. Es gibt niemanden, der sich über die nächsten ein, zwei Jahre hinaus substantiell mit den drängenden Fragen der Zeit und der SPD zu diesen Fragen stellt. Stattdessen nichtssagende Heilsversprechen im Wahlprogramm à la Gesundheit und Vitalität für alle.

Weichen umstellen statt große Visionen

Dabei ginge es auch ohne die ganz große Vision. Um kleine Änderungen. "Eine kleine Weiche umstellen" nennt Minkmar das – und dabei eine große Wirkung erzeugen. Steinbrücks Reden sind gespickt mit diesen Kleinigkeiten. "Der Profi kennt die Stellschrauben und Ventile, mit denen das komplizierte, hier und da auch rostige und dysfunktionale System wieder so läuft, dass das Leben der Menschen…leichter wird". Die Öffentlichkeit bekommt dies kaum mit; für die Medien ist es nicht sexy genug, wer die Maklercourtage für Mietwohnungen bezahlt. Stattdessen: Wahlkampf um Symbolthemen – PKW-Maut (Regierungssstreit!), Veggie-Day, Steuererhöhungen für Besserverdienende. Am Ende listet Minkmar die Themen des Wahlkampfs auf – und vergleicht sie mit den tatsächlich drängenden Problemen. Die Diskrepanzen sind erhellend.

Minkmars Tonlage in Bezug auf Steinbrück ist bei allem Engagement um Nüchternheit bemüht. Wenn es um die Analyse der Gesellschaft und der Politik von Angela Merkel geht, verlässt ihn diese Lakonik zuweilen. Den Erfolg des Phänomens Merkel und ihrer "opaken Benutzeroberfläche" versucht Minkmar im Skype-Gespräch mit dem Psychologen Stephan Grünewald zu klären, der ihm von der ermüdeten Gesellschaft erzählt (das erinnert sehr an Byung-Chul Hans "Müdigkeitsgesellschaft", wobei ich nicht weiss, wer zuerst dran war), die die politischen Probleme ausgelagert haben möchte, weil sie mit ihrer Existenzsicherung ausreichend, erschöpfend sozusagen, beschäftigt sei.

Der Versuchung, seine eigene links-liberale politische Agenda auszuführen, kann Minkmar nicht widerstehen. Auf den Gedanken, dass diese einfach derzeit nicht mehrheitsfähig ist, kommt er eher nicht. Gelungen ist ein entschiedenes Plädoyer für den Einkommensteuerzahler, der praktisch im Alleingang die größten sozialen, politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Bundesrepublik der letzten 60 Jahre finanziert hat – weil er eben keinerlei Möglichkeiten hat, Steuern zu hinterziehen oder trickreich zu umgehen. Dabei wird jedoch vergessen, dass diese Ausbeutung der "gebenden Hand" (Peter Sloterdijk), die Minkmar das "Milieu der Tüchtigen" nennt, unter allen Bundesregierungen mit steigender Intensität praktiziert wurde. Es wäre nicht zuletzt Steinbrück gewesen, der hier korrigierend eingegriffen hätte, aber leider schien dies niemanden besonders zu interessieren.

Gewissen und Diskretion

Minkmar bietet noch mehrere Merkel-Deutungen an (das Selbst-Kleinmachen ihrer Macht beispielsweise). Gelegentlich erinnert dies daran, wie sich in den 80er und 90er Jahren Journalisten am Phänomen Kohl abgearbeitet haben, ohne dass dies vom renitenten Wahlvolk gewürdigt wurde. Manches klingt ein bisschen formelhaft, etwa wenn er zu Beginn schreibt, Merkel spalte mit ihrer Austeritätspolitik Europa. Und daneben steht dann: "Zu manchen Aspekten ihrer Politik gab es keine großartigen Alternativen. Man hätte den griechischen Politoligarchen nicht einfach weitere Milliarden überweisen können […]". Schließlich heißt es einigermaßen hilflos: "Aber erklärt hat diese deutsche Position niemand, die Diplomatie fiel weitgehend aus." Als wäre dies das Problem gewesen: Die Deutschen haben nicht genug erklärt. Und noch etwas fehlt in diesem Bild: Die SPD hat dieser Politik immer wieder zugestimmt.

Ein bisschen schematisch fällt Minkmars Deutung der SPD-Außenpolitik aus, die er als eine Mischung aus "Patriotismus, Antiamerikanismus und [dem] Wunsch nach Autonomie…oft in guter Absicht" beschreibt. Dabei übersieht er, dass mit Brandt und Schmidt mindestens zwei der drei deutschen Bundeskanzler überzeugte Atlantiker waren. Und auch Schröder ordnete sich der Clinton-Regierung willig unter. Auch nicht ganz überzeugend ist Minkmars Bild von den postdemokratischen Strukturen; die These übernimmt er von Colin Crouch. Das Wahlergebnis zeigt ja sehr wohl, dass eine Partei im Bund noch über 40% kommen kann. Es stimmt auch nicht, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik nur zwei Mal direkt zu Abwahlen kam; auch 1969 stand praktisch schon am Wahlabend fest, dass die Große Koalition mit Kiesinger als Kanzler von sozial-liberal unter Willy Brandt abgelöst wird. 

Vorgaben für dieses Buch habe es von der Partei nicht gegeben, so Minkmar. Er solle das schreiben, was er mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Das Buch ist sehr diskret, und zwar nicht nur, was Kandidat und die SPD angeht, sondern auch in Bezug auf die Journalisten, oder die, die sich dafür halten. "Der Zirkus" ist, wo er sich mit Steinbrück und der SPD beschäftigt und beiden mit kritischer Sympathie begegnet, sehr lesenswert. Am Ende fragt man sich, in welchem Land wir eigentlich leben, dass sich den Luxus leistet, ein politisches Talent wie Peer Steinbrück zu Gunsten einer Keine-Experimente-Kanzlerin einfach links liegen zu lassen. Vielleicht wird man das noch einmal bitter bereuen.
 

Nils Minkmar
Der Zirkus
Ein Jahr im Innersten der Politik
S. Fischer
19,99

ISBN: 978-3-10-048839-8

Leseprobe

 


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