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Bücher & Themen Artikel online seit 05.10.13 |
Die
Kraft des Erzählens Von Bettina Johl
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Lassen sich Entfernungen, die Menschen voneinander trennen, in Teelöffeln messen? Kinder schaffen sich in ihrer Vorstellung eigene Maßeinheiten zur Vermessung ihrer Welt. Eine Welt, in die sie hineingeboren wurden, ohne gefragt zu werden. Eine Welt, die nicht für sie gemacht ist. In der sie sich nur mittels ihrer Phantasie Nischen schaffen können, in denen es sich überleben lässt. Überleben trotz aller Traumata, die Kindern in vielen Ländern der Erde durch Kriege, Revolutionen und Schreckensregimes zugefügt werden: Gewalterfahrungen, Verlust nahestehender Menschen, Heimatverlust durch Flucht oder Vertreibung. Erlebnisse, die unverarbeitet bleiben, weil die drängenden Fragen nach dem Warum nicht gestellt werden dürfen, in der Welt der Erwachsenen Tabus unterliegen. Und so hören die Kinder irgendwann auf zu fragen und schaffen sich eigene Antworten, ihre eigenen Geschichten, die ihnen helfen, das vor ihnen liegende Leben zu bewältigen, es ihnen erträglicher zu machen. Die Fragen jedoch bleiben, sie schlummern nur. Das Kind auf seinem Weg zum Erwachsenwerden steht ihnen sehr bald wieder gegenüber, merkt, dass es ihnen nicht ausweichen kann, sich ihnen stellen muss. Und auch ganz neuen Fragen: Wie zuverlässig sind meine Erinnerungen? Was ist Wahrheit, was Lüge?
In der Gegend im
nördlichen Iran, am Kaspischen Meer, in der Saba aufwächst, ist es üblich, dass
jeder Erzähler seine Geschichte am Ende mit einem Gedicht über Wahrheit und Lüge
abschließt, in dem sich die Wörter der Landessprache für »Joghurt« und
»Joghurt-Soda« (»maast« und »dugh«) auf »Wahrheit« und »Lüge« (»raast« und »dorugh«)
reimen. Ein Gedicht, welches aufrichtig Aufschluss über den Wahrheitsgehalt der
jeweiligen Geschichte geben soll. Saba, die stets nach Wegen und Mitteln sucht,
Regeln, die sie einzuengen drohen, zu übertreten, setzt sich im Laufe der Zeit
auch über diese hinweg. In ihren Geschichten, die sie erzählt, schafft sie sich
ihre eigenen Erklärungen über das Verschwinden ihrer Mutter und ihrer
Zwillingsschwester Mahtab seit dem Ausbruch der Islamischen Revolution. Ihre
Version vom neuen Leben in Amerika, das die beiden in ihrer Vorstellung führen,
ist für sie eine Wahrheit, mit der sie leben kann.
Die Autorin Dina Nayeri,
die während der Islamischen Revolution geboren wurde und als Zehnjährige nach
Oklahoma emigrierte, entwirft in ihrer Protagonistin Saba eine Art Spiegelbild
ihres eigenen Selbst. Eine Zwillingsgeschichte – keineswegs zufällig. Menschen,
die ihre Heimat mehr oder weniger unfreiwillig verlassen, bleiben zumeist in
ihrem Innersten zerrissen. Ein Teil von einem selbst geht fort, das andere
bleibt unweigerlich zurück. Mag auch ersteres zunächst die Oberhand behalten und
die notwendig gewordene Anpassung an ein völlig neues Leben erleichtern, wird
dennoch das andere stiller, aber unerbittlicher Begleiter bleiben und sich eines
Tages wieder sehr deutlich zu Wort melden. Die Zwillingsschwester, das andere
Selbst, welches vor Ort blieb, statt zu gehen. Viele Teelöffel Land und Meer
zwischen beiden.
Es fällt schwer, das bis
zur letzten Seite spannende Buch zwischendurch aus der Hand zu legen. Es
ermöglicht ein tiefes Versinken in eine Welt, von der wir sonst nichts wissen.
Eine Welt, die jenseits aller Bilder liegt, die uns aus den Medien durch die
Köpfe geistern. Es sind dies jene uns geläufigen Bilder schwarz verschleierter
Frauen unter Plakaten eines finster dreinblickenden Religionsführers, untermalt
von Schreckensworten wie Scharia, Sittenpolizei und öffentlichen Hinrichtungen,
welches viele der von uns in der freien, westlichen Welt Lebenden irgendwann
veranlasste, den Iran – einst das sagenumwobene Persien, Wiege der Kultur und
Ursprungsland der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht – in die zunehmend
bodenlos werdende Schublade der unbewohnbaren Gegenden dieser Erde zu verstauen
und uns nicht mehr weiter mit ihm zu beschäftigen. Eine fatale Entscheidung. Für
uns, weil sie dazu führt, unser Bild der Welt enger und enger werden zu lassen,
indem wir Dinge, über die wir nichts wissen wollen, weil sie uns Angst machen,
einfach aus ihr heraushalten, auch auf die Gefahr hin, damit gleichsam vieles zu
verbannen, was dazu angetan wäre, unser Leben zu bereichern. Umso mehr für die
Menschen in jenen Ländern, insbesondere die Frauen, die unter dem schwarzen
Schleier, der in weiten Teilen der Welt zum Symbol des Schreckens wurde, Gefahr
laufen, von eben diesen dem Vergessen anheim gegeben zu werden. Kein Ohr mehr zu
finden für ihre Stimme, die dringlich nach Gehör verlangt. In diesem Fall hätten
die fanatischen Machthaber in der Tat ihr Ziel erreicht, was niemand wollen
kann. Und so ist Sabas Geschichte zugleich auch ein wichtiges Sprachrohr für die
Menschen, insbesondere die Frauen, im Iran und in anderen islamischen Ländern,
ein Appell an uns, sie nicht zu vergessen, mit ihren Wünschen, Träumen,
Sehnsüchten und Hoffnungen, sie an unsere Seite zurückzuholen, uns solidarisch
zu zeigen, neugierig zu werden auf Begegnungen mit ihnen, auf ihre Erzählkunst
und ihr Wissen.
Auch ein Zwillingsleben
fordert letztlich Entscheidungen. Die Entscheidung für ein Leben in Freiheit,
welches für sie auch und vor allem uneingeschränkten Zugang zu Bildung bedeutet,
steht für Saba außer Zweifel, auch wenn dies Schmerz und Trennung von allem
Vertrauten und den geliebten Menschen, die sie zurücklassen muss, bedeutet. Nach
einigen Versuchen, ein Leben in der Heimat mit allen Beschränkungen zu leben,
nach der Auseinandersetzung mit der sich im Weiteren immer drängender stellenden
Frage, ob Liebe Selbstverleugnung rechtfertigt, bricht sie auf ins Ungewisse. Ob
sie ihr Glück finden wird, bleibt offen. Wer sie nach diesem Buch jedoch zu
kennen glaubt, wer die Facetten ihres bisherigen Lebens kennengelernt und
Freundschaft, erste Liebe, Freude und Übermut, wie auch Verlust und Trauer mit
ihr durchlebt und durchlitten hat, traut ihr zu, ihres eigenen Glückes Schmied
zu werden. Denn obgleich sie nur Weniges mitnehmen kann, trägt sie das
Wichtigste unsichtbar im Handgepäck, – ein Talent, das sie mit ihrer Schöpferin,
der Autorin, gemeinsam hat: Neben einem unerschütterlichen Selbstvertrauen – die
Kraft des Erzählens. |
Dina Nayeri |
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