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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Verlagsporträt
Artikel online seit 18.03.13

Der Passagen Verlag

Es besteht ein Bedarf an Denken!

Anläßlich des 25-jährigen Bestehens des Passagen Verlages
sprach Bernd Leukert mit dem
Verleger Dr. Peter Engelmann

Die schlanken, grauen und weißen Bände kennt jeder, der in den Regalen der Buchhandlungen nach anspruchsvollem Lesefutter gesucht hat. Vornehm rot ruht darauf der Titel, schwarz und schmal der Name des Verfassers und unter einem roten Logo: Passagen Verlag.
Ihre weiß grundierten Vorläufer trugen Namen von Philosophen wie Derrida und Lyotard; heute – der Diskurs hat leicht seinen Gegenstand verändert – findet man die angesagten Protagonisten der aktuellen Diskussion, Badiou, Rancière und Nancy, im Angebot. Hinter diesem profilierten Programm, das sich indessen in alle möglichen Richtungen ausgeweitet hat, steht der Philosoph und Verleger Peter Engelmann. Im Gespräch erzählt er von seinen persönlichen Erfahrungen in der DDR, ohne die es vielleicht nie zur Verlagsgründung vor 25 Jahren gekommen wäre.


 

Als ich mir Ihre Biographie angesehen habe: Das, was Sie machen, erfordert irgendwie einen Impuls, der vorher da sein muss. Es hätte eine normale akademische Karriere sein können. Aber sich erstens auf Philosophie zu werfen, und dann mit der Ausrichtung auf vor allem französische Philosophen, aber auch das Umfeld, was ich so gesehen habe, – das erfordert schon eine gewisse Leidenschaft. Ich wollte Sie fragen, wo diese Leidenschaft herkommt.

Zu Beginn meines Studiums der Philosophie stellte ich mir meine berufliche Zukunft so vor, dass ich nach dem Studium an der Universität forschen und lehren würde, damit wäre ich damals sehr zufrieden gewesen. Es kam aber alles anders, und aus der anders als zunächst gewünscht und geplant verlaufenden Lebensgeschichte hat sich eine andere Logik ergeben, die schließlich zu 25 Jahre »Passagen« geführt hat, zu dem, was ich und der Verlag heute sind. Der Impuls und die Leidenschaft für das »Passagen« Projekt kommen aus meinen frühen Lebenserfahrungen, aus dem Aufwachsen im zwar geteilten aber doch einen Lebensraum bildenden Berlin bis 1961, aus der Schulzeit und dem Studium im nun wirklich geteilten Berlin nach 1961, aus der Auseinandersetzung mit dem, was ich bis Mitte meiner 20er Jahre in der DDR erlebt habe. Ich bin in Ostberlin groß geworden, bis 1961 mit offener Grenze, und habe dort studiert. Zu diesem Aufwachsen in der DDR gehörte eine antifaschistische Grundhaltung, ein humanistischer Gestus, das Gefühl oder der Glaube, in dem Teil Deutschlands zu leben, der die deutsche Schuld akzeptiert und bearbeitet und für sie einsteht. Zum Aufwachsen in der DDR gehörte für mich aber auch, mit dem System in Konflikt zu geraten und mich fragen zu müssen, was hat dieser Staat, was haben diese Verhältnisse mit den Idealen zu tun, die als Leitideen dieses Staates propagiert werden. Es ist ja nicht so, dass man dann die Zeit davor vergisst, wenn man mit großem Glück, wie ich es hatte, mit Mitte 20 aus der DDR herauskommt und nochmal ein neues Leben beginnen kann, nachdem man dort in eine Sackgasse geraten war. Die Prägung in der Jugend und die Auseinandersetzungen und die Fragen, die da aufgeworfen wurden, das alles wird durch den Wechsel des Landes nicht gelöscht, das begleitet einen noch lange, vielleicht für das ganze Leben.

Darf ich noch fragen: Was war denn der konkrete Anlass ihrer Verhaftung durch die Stasi?

Verhaftet wurde ich aus nichtigem Anlass. Zugleich ist es aber eine komplexe Geschichte, die über den Fall hinaus interessant ist, weil sie eine Vorstellung von der Realität des Repressionssystems der DDR vermittelt, das eben nicht nur politische Verbrechen verfolgte, sondern den Begriff des Politischen so ausdehnte, dass unangepasstes Verhalten im weitesten Sinne als politisches Vergehen verfolgt und bestraft werden konnte. Beispielsweise gab es einen Asozialen-Paragraphen, der einen bei Arbeitslosigkeit in ein Erziehungslager oder ins Gefängnis bringen konnte. Heute unvorstellbar, damals in der DDR aber eine ständige Bedrohung für nicht systemkonforme Biographien. Ich bin am Ende einer längeren Geschichte mit der Stasi wegen versuchter Republikflucht verhaftet und verurteilt worden, wobei die ganze Geschichte aber viel komplexer war. Die Beobachtung durch die Stasi begann laut Stasiakten am Ende der Schulzeit und hörte nie mehr auf. Über alles wusste die Stasi Bescheid, über unsere Diskussionen über einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz genauso wie unsere Ablehnung der Invasion in der Tschechoslowakei. Einer Verhaftung bin ich damals nur entgangen, weil ich einfach in Ungarn geblieben bin, bis sich alles beruhigt hatte.
Der Anlass meiner Verhaftung aus einem gerade am Flughafen Schönefeld gelandeten Flugzeug heraus, war eigentlich, dass ich in Rumänien inhaftiert war, so komisch das jetzt auch klingt. Ich war in Rumänien im Gefängnis. Und dort war ich eigentlich – nach rechtstaatlichen Prinzipien – grundlos im Gefängnis, weil ich zwar in der Nähe einer Grenze war, die aber nicht als Grenzgebiet ausgewiesen war. Es gab keinerlei Verbotshinweise. Aber in Rumänien war man der Meinung, wenn man sich als DDR-Bürger in dieser Gegend aufhielt, wollte man flüchten. Dann wurde man, wenn es gut ging, eben verhaftet oder erschossen wie ein DDR-Bürger vor den Augen seines Kindes und seiner Frau einen Tag nach meiner Verhaftung in der gleichen Gegend. Das war noch zu einer Zeit, als Rumänien und die DDR kein Rechthilfeabkommen hatten. Weder die DDR-Behörden noch Verwandte wurden informiert, meine Eltern hörten monatelang nichts von mir und meldeten mich als vermisst. Bei der Ankunft im Gefängnis in Timișoara wurde man kahl rasiert, bekam eine pyjamaähnliche Gefängniskleidung verpasst und war nun ohne Prozess oder Urteil im rumänischen Strafvollzug gelandet. Nach ein paar Wochen wurde man dann mit hundert anderen Gefangenen, umringt von geifernden Hunden und Wachen mit Maschinenpistolen durch die Stadt zu einem Gerichtsgebäude getrieben und dort fließbandmäßig ohne Dolmetscher, der das Gerichtsverfahren übersetzen hätte können, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Trotz dieser Umstände war man sogar als DDR-Bürger noch glücklich dran, denn Rumänen bekamen auf die gleiche Weise, ohne größere Umstände zu machen, für lächerliche Vergehen 10, 15 oder 20 Jahre Gefängnis. Freispruch gab es nicht, denn kahlgeschoren und in diesen Sträflingsanzug gekleidet war man schon vor dem Prozess. Als DDR-Bürger war ich dann noch einmal vergleichsweise glücklicher dran als meine rumänischen Mitgefangenen, weil ich auf abenteuerliche Weise die Information über meine Inhaftierung nach Frankreich bringen konnte und meine damalige Freundin daraufhin Geld sammelte, um mich freizukaufen, was nur mit Devisen ging. Meine Eltern waren nicht von meiner Inhaftierung informiert worden, die konnten ja auch keine Devisen für mich zahlen. Nachdem meine Freundin die Kaution für mich bezahlt hatte, wurde ich aber nicht etwa freigelassen, sondern stattdessen nach Bukarest gebracht und dann in Begleitung von Securitate-Agenten nach Ostberlin geflogen und dort der STASI übergeben. Die STASI hat mich in Empfang genommen, ohne zu wissen, warum ich in Rumänien im Gefängnis war und hat dann eben meine Verhaftung völlig willkürlich in Gang gesetzt. Ich kann mich an die Einlieferung in die Magdalenenstraße erinnern, in das zentrale Untersuchungsgefängnis der STASI, das mit dem Hauptquartier in der Normannenstraße durch unterirdische Gänge verbunden war, durch die man zu den Verhören gebracht wurde. Ich wurde in einen Raum geführt, in dem ein Untersuchungsrichter und STASI-Offiziere saßen. Der Untersuchungsrichter sollte meiner willkürlichen Verhaftung einen legitimen Anstrich geben. Das spielte sich dann folgendermaßen ab: Der Untersuchungsrichter fragt die STASI-Offiziere: „Und wat soll ick denn da hinschreim?“ Ich werde nicht befragt und weiß in dem Augenblick, was ich von vorgeblicher Rechtsstaatlichkeit der DDR zu halten habe, nämlich gar nichts. Die STASI macht, was sie will. Das lernen sie in Minutenschnelle, trotz aller Versuche, formale rechtsstaatliche Normen einzuhalten. Und daraus ist dann ‚Versuchte Republikflucht’ geworden. Das war das, was mir Wolfgang Vogel, der mein Anwalt war, versucht hat einzuimpfen, dass ich das sagen sollte, – wiederum aus seiner Sicht, um mich schnell in den Strafvollzug zu bekommen und dann wieder raus. Das wusste ich aber nicht. Eine schwierige Situation, denn Wolfgang Vogel war zwar mein Anwalt, aber zugleich konnte ich ihm nicht vertrauen, denn ich sah, wie die STASI-Offiziere fast unmerklich, aber deutlich erkennbar, jedes Mal Haltung annahmen, wenn er auftauchte. Ein Rechtsanwalt, vor dem Stasioffiziere stramm stehen, das flößte kein Vertrauen in diesen Anwalt ein. Ich musste mich fragen, in wessen Interesse handelt dieser Mann eigentlich? Ist er Teil dieses Verhörsystems? Oder ist er wirklich ein Anwalt, der deine Interessen vertritt? Man selber ist dem System ja völlig ausgeliefert, und das ist eine böse Situation. Wie man heute weiß, war Vogel ja tatsächlich STASI-Oberst. Dennoch hat er letztlich auch in meinem Interesse gehandelt, durch sein Wirken konnte ich vorzeitig das Gefängnis und die DDR verlassen und mitte Zwanzig noch mal von vorn anfangen und ein neues Leben beginnen. Er war meine Rettung.

Und mit diesem Erfahrungsgepäck sind Sie dann…

Solche Erfahrungen prägen den weiteren Verlauf des Lebens, sie schlagen Pflöcke ein für die weitere Lebensgeschichte. Diese Erfahrungen erklären auch die Hartnäckigkeit, die Motivation und die Unbeirrbarkeit in der Verfolgung meiner politischen und theoretischen, meiner philosophischen und publizistischen und sonstigen intellektuellen Interessen. Denn so ein Erlebnis in der Jugend traumatisiert, und die Folgen dieses Traumas begleiten einen ein Leben lang, auch wenn das später nicht immer erkennbar ist. Zudem war es ja nicht wie heute, wo es Einrichtungen gibt, die sich um Trauma-Opfer kümmern und ihnen helfen. Damals jedenfalls gab es gar nichts. Wenn sie das Glück hatten, von der Bundesregierung als politische Häftling in der DDR freigekauft worden zu sein, war die Frage: Welches Bundesland? Dann gab es 50 Mark und eine Fahrkarte in ein Notaufnahmelager oder zu einer Person, die man kannte. Und das war’s. Keine Trauma-Hilfe oder ähnliche Angebote. Man kam mit einem kleinen Holzkoffer mit einem Hemd und Unterwäsche darin in die Bundesrepublik und musste sich von da an allein zurechtfinden, Fuß fassen und ein Leben entwerfen. Praktisch musste ich mein Studium wiederholen um dann in der Bundesrepublik promovieren zu können. Nicht leicht, wenn man keine Familie, keine Freunde, keine Lebenszusammenhänge, keine materiellen Ressourcen in diesem neuen Leben hat. Trotzdem war ich überglücklich, und dieses Gefühl hat mich durch alle Schwierigkeiten und Probleme getragen. Denn ich habe das als großes Glück empfunden, überhaupt rausgekommen zu sein, der Stasi, dem Gefängnis, einer hoffnungslosen Zukunft in der DDR entkommen zu sein. Aus tiefster Not gerettet zu werden, das war etwas, womit ich nicht hatte rechnen können und dürfen. Umso überwältigender war dann das Glücksgefühl, als ich in Herleshausen über den bis auf einen strammstehenden Offizier leeren Grenzübergang brauste. Dieses Glücksgefühl hat über viele Jahrzehnte gehalten, weil ich dachte, mir konnte nichts mehr passieren. Mir ging’s eigentlich immer gut im Vergleich zu dem, was meine Bestimmung ein paar Jahre vorher zu sein schien: Gefängniskarriere, nicht mehr in Berlin wohnen, unter der Aufsicht von irgend einem lokalen Parteisekretär stehen, das nicht aushalten, wieder verhaftet werden, wieder Gefängnis und so weiter. Ich habe im Gefängnis viele kennengelernt, die solche Knastkarrieren hatten, ohne jeden rechtsstaatlich akzeptablen Grund.

Sie hatten eine außergewöhnlich lange Stasihaft und waren dann relativ kurz im normalen Strafvollzug. Was bedeutete Stasihaft in diesen Jahren?

Im ideologischen Selbstverständnis der DDR war ein Philosoph eine Art virtueller Nachfolger vom Gründungsvater Marx, der ja auch Philosoph war. Wenn ein Philosoph in den Fokus der Stasi geriet, war das ein besonderer Fall für die Stasi. Die Stasi wertete das Vergehen eines Philosophen zusätzlich als Verrat und verfolgte es deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit und Härte. Deshalb war ich auch nicht in einem normalen Stasigefängnis für Republikflüchtlinge, sondern in ihrem zentralen, direkt mit dem Hauptquartier der Stasi verbundenen Untersuchungsgefängnis in der Magdalenenstrasse in Berlin.
Man hatte in diesem STASI-Gefängnis das Gefühl der vollkommenen Rechtlosigkeit und des absoluten Ausgeliefertseins. Das war eines der Verfahren, mit denen sie versucht haben, irgendwelche Aussagen zu erpressen. Sie sagten beispielsweise: Herr Engelmann, wenn Sie uns nicht dies und das erzählen, dann bleiben Sie eben länger bei uns. Und sie haben ergänzend dazu erklärt: Rechtlich gesehen ist es so (also DDR-rechtlich gesehen), dass Sie bis zur Hälfte der zu erwartenden Strafe in Untersuchungshaft gehalten werden können. Wenn wir Sie der Spionage verdächtigen, worauf Todesstrafe steht, dann können wir Sie hier so lange behalten, wie wir wollen. Das haben sie einem erzählt, und es war vollkommen plausibel. Wenn Ihr Leben darin besteht, dass dreimal am Tag die Klappe aufgeht, durch die das Essen hereingeschoben wird, und sie ansonsten niemand und nichts sehen, wenn sie dann immer wieder durch den unterirdischen Gang vom Magdalenen-Gefängnis in die Normannenstraße zum Verhör und zurück geführt werden und andauernd mit dem Gesicht zur Wand warten müssen, damit sie niemand sehen, und wenn dann die Verhörer, die einzigen Menschen sind, zu denen sie Kontakt haben, dann machen Sie sich keine Illusionen, dass die Macht der Stasi irgendwelchen Einschränkungen unterliegt.
Es ist furchtbar schwer, unter solchen Umständen die Orientierung, den Überblick und eine kohärente Haltung zu behalten und bloß nicht aus Schwäche für einen Moment riskieren, dass man sich im Spiegel nicht mehr in die Augen schauen kann. Die Stasi hatte die psychologischen Mittel perfektioniert, Menschen ohne Anwendung körperlicher Gewalt und Folter zu zermürben und, wenn sie es schaffte, zu brechen. In der Zeit, als ich im Stasigefängnis in der Magdalenenstrasse war, in den siebziger Jahren, – ich hab’s nie erlebt und auch später im Strafvollzug nie gehört, dass Häftlinge bei der Stasi physisch attackiert, also verprügelt oder gefoltert wurden. Ich habe aber gelernt, dass man einen Menschen, ohne ihn anzufassen, sehr unter Druck setzen kann. Je mehr Zeit man hat, desto erfolgreicher wird man sein.
Sie empfinden es als großes Glück, wenn die Stasi aufgibt, bevor sie irgendetwas oder irgendjemand verraten mussten. Dieser Erfahrungskomplex, gewissermaßen als Abschluss meiner Jugend und krönender Abschluss meines Traums vom Sozialismus, hat eine lebenslange Motivation erzeugt, darüber nachzudenken und zu erforschen, wie solche totalitären Systeme entstehen, wie sie mit Ideologien zusammenhängen, die doch Freiheit und Glück für die Menschen wollen und versprechen. Von damals bis heute versuche ich mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, die Thematik totalitärer politischer Systeme im Zusammenhang mit Philosophie und ideologischen Systemen zu verfolgen, aufzuklären und gegen Totalitarismus und seine ideologischen Verfechter Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Menschenrechte und individuelle Freiheit als unsere höchsten gesellschaftlichen Güter zu verteidigen. Das ist bis heute die aus dieser Lebenserfahrung stammende, ungebrochene Motivation meiner Arbeit als Philosoph und Verleger.

Was mich dabei erstaunt hat, ist, dass Sie an die Wirkung glauben, und wenn ich mich recht erinnere, ist es sogar eine gesellschaftliche Wirkung, die Sie der philosophischen Literatur zutrauen.

Ich verstehe Ihre Skepsis, man sollte meinen, was ich im Leben erfahren musste, sollte mich eines Besseren belehrt haben. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass die Philosophie Wirkung hat. Ich bin in einem System groß geworden, wo Philosophie die Leitideologie war, und der Philosoph – also fast das platonische Ideal – war die Person, die die Lebensentwürfe für die Gesellschaft geschaffen hat, nach denen dann die Gesellschaft funktioniert und gelebt hat. Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis war in der DDR so groß, dass Ihnen der Glaube daran verging, dass die Philosophie, die die Ideale formulierte, eine lebensweltliche Wirkung hat. Dennoch als Philosoph zu arbeiten und philosophische Bücher zu verlegen, ist vermutlich eher eine Art Trotzreaktion. Ich glaube trotz aller realistischen Sicht auf die Wirkungslosigkeit von Philosophie und Kultur, dass ich in einem Gespräch jemand verändere, und mit Büchern verändere ich noch mehr Leute. Und irgendwo, mehr oder weniger vermittelt, erziele ich gesellschaftliche Wirkung. Daran glaube ich. Ohne das hätte ich keine Lust, weiter Bücher zu machen.

Ich hätte zwei Erfahrungen geltend gemacht: die eine ist, dass die Philosophie, wenn sie denn in diesem Sinne staatstragend wurde, gleichzeitig immer mißbraucht wurde. Und die andere ist, wenn sie nicht mißbraucht wird, hat sie Wirkung im Individuum, in Einzelnen, die es vielleicht schaffen, durch kommunikative Weiterverbreitung Kreise zu erreichen, was ich noch nicht mit einer gesellschaftlichen Wirkkraft identifizieren würde.

Ich dagegen schon. Bei aller Vorsicht, die der Begriff „Philosophie“ nahelegt, – wenn man gewisse, begründete Gedanken aus der Philosophie auf die Gesellschaft hin, auf unser Zusammenleben, auf unsere Normen, auf ethische Fragen umlegt, hat das einen Schneeballeffekt. Ich erzähle Ihnen was, oder Sie lesen etwas und Sie reden wieder mit jemandem darüber – es ist nicht messbar, aber Sie erzielen Veränderung. Und daran glaube ich. Und im Kleinen sehe ich das auch. Mir fällt noch ein anderes Argument ein. Anlässlich von 25 Jahre ‚»Passagen«’ habe ich gedacht, wir nutzen andere Medien, um das, was wir als Verlag tun und was ich als Verleger und Herausgeber tue, sichtbarer zu machen. Ich diskutiere mit meinen Autoren öffentlich jeweils über ihre Themen und stelle die Fragen, die ich ihnen immer schon stellen wollte. Das ist ein sehr interessantes Format geworden. So haben wir zum Beispiel mit Alain Badiou, der im Moment die Frage der Rückkehr des Kommunismus aufwirft, über dieses Thema im Semper Depot in Wien öffentlich gesprochen. Das hat 400 Leute interessiert, 400 zumeist junge Leute! Da haben wir bestimmt gesellschaftliche Wirkung erzielt. Mit Jacques Rancière haben wir 600 Leute im MUMOK in Wien gehabt, ebenfalls junge Leute. Das ist viel! Da muss man nicht hinkommen. Es ist anstrengend, einem philosophischen Vortrag, einer philosophischen Diskussion zuzuhören. Es besteht ein Bedarf an Überlegungen, wie man in der aktuellen Krisensituation reagiert, wie man unter diesen Umständen lebt. Es besteht, auch bei den jungen Leuten, ein Bedarf an Denken, an Ideen, an Philosophie. Ich ordne das Verlagsprogramm, das ich seit 25 Jahren, eigentlich seit 27 Jahren, wenn man die Edition hinzuzählt, mache und an dem ich arbeite, hier ein. Es geht darum, das Denken zu befördern, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen und ein Medium der Verbreitung zu entwickeln, mit dem man Diskussion initiieren und Anstöße geben kann, mit denen man hoffentlich eine Rückwirkung der Gedanken auf die gesellschaftliche Entwicklung erzielt. Wenn ich zurückblicke, sehe ich, dass ich Wirkung erzielen konnte. Vor 25 Jahren habe ich mit Derrida, Lyotard, Baudrillard, angefangen. Und heute bekommen wir viele gute Bücher von jungen Leuten, für die das, was wir damals publiziert haben, der wichtigste geistige Anstoss war. Ich sehe auf der Zeitachse: Es gibt Effekte. Wie einflussreich ist ein Bundestagspolitiker? Hat der einen Einfluss auf die Gesellschaft? Oder gehört er zum Stimmvieh der Fraktionen? Die Frage, was welches Tun bewirkt, ist schwer zu beantworten. Nehmen Sie einen Banker, der völlig gewissenlos Profit maximiert und zusammen mit seiner Industrie unsere demokratische Gesellschaft auf’s Spiel setzt, der hat zwar großen Einfluss und verändert die Welt. Aber dagegen steht das Nachdenken, die Philosophie, die Suche nach Lösungen als Resistance, als Widerstandskraft. Wenn ich jetzt in diesem Zusammenhang an die vielen jungen Leute denke, die zu unseren Veranstaltungen kommen, dann hat unsere Arbeit einen Sinn.

Vor 25, bzw. 27 Jahren haben Sie diesen Verlag gegründet?

Ja.

Und für mich stellt sich, gerade in den letzten Jahren, da ich gesehen habe, wie existieren Verlage, was müssen die tun, um zu überleben, die Frage, was für ein Risiko?! Sie machen ja keinen belletristischen Verlag. Sie haben zwar drei, vier Lyriker und Lyrikerinnen – was ich auch erstaunlich finde in so einem Programm – …

Aber das hat eine Logik, das kann man erklären…

… trotzdem ist das kein Publikumsverlag, wo man sagen kann, gut, ich mache mein Geschäft und kann absehen, dass ich ungefähr zehn Jahre lang damit zurechtkomme. Also, entweder hat man Geld und betreibt dann aus Interesse diesen Verlag, oder es muss irgendwie anders gehen.

Ihre erste Frage, war schon die Kernfrage. Es ist Energie, persönliche Leidenschaft und Hingabe an diese Aufgabe. Dieser Verlag ist eigentlich kein Verlag, sondern ein Kulturunternehmen wie ein Theater, eine Oper oder ein Konzerthaus, was sich nicht marktfinanzieren lässt, weil es Programmideen verfolgt. Wenn Sie solch ein Programm verfolgen, dann besteht ein großer Teil Ihrer Aufgabe darin, das Geld, das sie für die Verwirklichung ihrer Ideen, für die Realisierung ihres Programms brauchen, irgendwie zusammenzukriegen. Das ist der unangenehmste, manchmal ekelhafte, der wirklich bedrängende Teil ihrer Aufgabe. Denn Sie haben ja dabei auch mit Leuten zu tun, die nicht verstehen, was sie machen oder umgekehrt sehr wohl wissen, was sie tun und ihren Lebensinhalt darin sehen, es ihnen zu zeigen, dass sie das Sagen haben. Qualität und Kultur spielen für diese Leute überhaupt keine Rolle.
Sie sind auf subtile, vermittelte Weise korrupt, weil sie anderen Einflüssen folgen als der Ausrichtung an der bestmöglichen Qualität eines Verlagsprogramms. Die Leute, mit denen sie zu tun haben, funktionieren nach ganz anderen Kriterien als sie selbst. Wenn sie ein hochwertiges Programm entwickeln, heißt das ja nicht, dass diejenigen, die Gelder geben, dieses Programm kennen oder anerkennen, sondern es gibt vielfältige, sachfremde Motivationen und Kriterien bei der Vergabe dieser Mittel, die Qualität des Programms steht dabei nicht an erster Stelle, im Gegenteil.
Das ist keine Korruption im klassischen Sinne, aber der Eigensinn von staatlichen Bürokratien oder privaten Stiftungen ist im schlechten Fall von anderen Kriterien beinflusst als von der Qualität der geförderten Programme. In diesem ganzen Gemisch können Sie leider nicht damit rechnen, dass Sie wegen der Qualität des Programms die für die Realisierung eines Qualitätsprogramms nötigen Mittel zusammenbekommen. Um trotzdem immer weiter zu machen, um sich als jemand, der eigentlich ein intellektuelles Programm machen will, mit dem ganzen Drum und Dran zu beschäftigen, das zu lernen und so zu gestalten, dass sie ihre philosophischen, politische, kulturellen, verlegerischen Ideen verwirklichen können, brauchen sie diese ungeheure Leidenschaft, die einen starken Hintergrund haben muss.

Die Ausrichtung auf die französische Philosophie verdankt sich Ihrem persönlichen Interesse, das irgendwann einmal erwacht ist?

Nach der Gefängniszeit habe ich – auch ein Luxus, den man sich heute nicht vorstellen kann – fünf Jahre Hegel gelesen. Marx als Hegelianer – ich wollte eine fundamentale Kritik. Mich hat die Frage umgetrieben, inwieweit ist die Ideologie, die Philosophie tatsächlich mitverantwortlich für diese gesellschaftlichen Programme, die dann im 20. Jahrhundert realisiert wurden. Das ist tatsächlich eine Kernfrage. Und da kommt man von Marx unweigerlich auf Hegel. Zugleich gibt es in Frankreich plötzlich Leute, die den Marxismus von anderen Positionen aus kritisieren wie Foucault und Lyotard oder die strukturalistische Marxkritik von Althusser.
Insbesondere nach dem Mai 1968 gab es in Frankreich verschiedene Ansätze der Marxismuskritik und eine Diskussion. Wenn man fragt, ob es eine notwendige Beziehung zwischen der Marxschen Philosophie, der marxistischen Philosophie und der marxistischer Ideologie und dem realen Sozialismus des 20.Jahrhunderts gibt, dann kommt man unvermeidlich auf die französischen Denker nach 1968. Ich habe dann auch in Frankreich studiert und habe diese Philosophen kennengelernt. Ich habe auch schnell persönliche Beziehungen zu Ihnen entwickeln können, weil sie sich umgekehrt dafür interessiert hatten, was ich und mit dem realen Sozialismus erlebt hatte.
Die Gefängniserfahrung hat Foucault sehr interessiert. Ich war also im Gespräch mit den nichtmarxistischen gesellschaftskritischen französischen Philosophen jener Jahre. Von dort war es nur ein kleiner Schritt zu einem gemeinsamen Projekt, das darin bestand, die Blockade für das kritische Denken im deutschen Sprachraum zu durchbrechen. Ich war für ein eigenes Buch im Gespräch mit einem Verlag in Wien. Dieser Verleger hatte damals einen kommerziellen Erfolg und war motiviert und interessiert, sein Programm weiterzuentwickeln. In Paris haben wir über die Politik des Suhrkamp Verlages geredet, der als damals führender kritischer geisteswissenschaftlicher Verlag der natürliche Verlag gewesen wäre für die Weiterentwicklung der Theorie und der Ideologiekritik durch die französischen Philosophen, der aber beim westlichen Marxismus, bei der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule stehengeblieben war.
Wir haben versucht, uns das zu erklären, und kamen drauf, dass das der Habermas-Einfluss auf die Verlagspolitik war. Seine Position des westlichen Marxismus war damals, in den 70er Jahren, die dominante Ideologie der kritischen Bewegungen in Westdeutschland.
Habermas und seine Leute empfanden die neuen kritischen aber auch Marxismus-kritischen Theorien aus Frankreich als Konkurrenz und sahen ihr Kritikmonopol gefährdet. Sie diffamierten deshalb diese Theorien als rechts und nutzten ihre Stellung in den Verlagen, Universitäten und Medien dafür, deren Import in den deutschen Sprachraum zu unterbinden.

Später habe ich dann von Suhrkamp-Lektoren gehört, dass es tatsächlich so war, wie wir vermutet hatten. Die damaligen Suhrkamp-Lektoren wussten natürlich auch von der Qualität und der Bedeutung dieser Autoren. Sie sind bei der Verlagsleitung nur nicht durchgekommen. Und das ist hier der entscheidende Punkt. Damals haben wir mit den französischen Autoren, mit denen ich begonnen habe gesagt, jetzt machen wir was. Ich war der Jüngste und war Deutscher und hatte Kontakt zu einem Verlag, der interessiert war. Deshalb fiel mir die Aufgabe zu, dieses Projekt zu realisieren. Foucault war sehr treibend dabei. Er wollte das Projekt unterstützen, indem er seine Vorlesungen am Collège de France dafür geben wollte. Er war zwar Suhrkamp Autor, aber er ging da als Historiker durch. Er hat das durchaus gesehen und hat überlegt, wie man den anderen Autoren, Lyotard usw. Wirkung verschaffen konnte. Er ist aber während der Vorbereitung unseres Projektes gestorben. Die war zu diesem Zeitpunkt zwar schon sehr weit gediehen, aber die Vorlesungen konnten wir nicht mehr übersetzen, da sie in das Erbe gefallen sind. Die Edition »Passagen« war aber schon auf dem Weg und ist ohne Foucault gestartet. Im Herbst 1985 erschienen die ersten fünf Bände der Edition – schon mit einem durchdachten Konzept. Der erste Band war ein Fotoroman mit einem Text von Derrida. Ich wollte damit zeigen, dass Philosophie etwas anderes ist als nur ein akademischer Text nach akademischer Norm, dass sie ein viel größeres Potential hat. Mit einem Fotoroman mit einem Text von Derrida zu beginnen, war ein Signal für die Ausrichtung des »Passagen«-Programms.

Da geben Sie mir ein Stichwort. Mir ist aufgefallen, dass Roland Barthes fehlt.

Er ist nicht vertreten, weil wir ihn nicht hätten haben wollen, sondern weil er einfach schon publiziert war. Alles, was in unserem Programm fehlt, weil wir sehr beschränkte finanzielle Mittel hatten und deshalb eine Entscheidung treffen mussten, ob wir die Mittel konzentrieren oder möglichst von jedem etwas übersetzen. Wir haben nur ein Buch von Deleuze, nicht weil ich Deleuze nicht mochte, das Gegenteil war richtig. Ich habe damals auch mit Deleuze darüber gesprochen, was wir eventuell zusammen machen könnten. Nachdem er aber bereits im Fokus anderer Verlage war, habe ich darauf verzichtet und mich auf Autoren fokussiert, die bis dahin keinen Verlag im deutschen Sprachraum hatten, der ihr Werk vertrat. Wir haben mit sehr beschränkten Mitteln auskommen müssen, denn es gab keinen großen Finanzier, sondern nur eine intelligente Idee für die Anfangsfinanzierung. Ich musste deshalb überlegen, versuche ich jetzt, von allen Autoren ein bisschen was zu machen? Oder versuche ich, eine Position umfassend zu vertreten? Nachdem ich in erster Linie nicht nur Politiker, sondern Philosoph bin, war mir schon immer die sprachphilosophische, philosophische Derridasche Position die wichtigste. Zugleich hielt ich diese Position für die politisch fundamentalste Kritik, obwohl sie garnicht nicht marxismuskritisch auftrat und ihr politisches, totalitarismuskritisches Potential erst später in der Auseinandersetzung um Paul de Man explizit darlegte. Ich habe mich also unter Schmerzen entschieden, mich auf Derrida und einige andere Autoren zu konzentrieren und wenige Autoren, die anderswo schon eine Heimat zu finden schienen, auszulassen.

Nun haben Sie inzwischen deutschsprachige Mitstreiter bekommen. „Merve“ hat viel gemacht…

»Merve« hatte schon vor »Passagen« viel gemacht.

… und »Diaphanes« in der Schweiz.

Das sind verschiedene Dinge. »Merve« war eben auch ein intellektuelles, marxistisches Projekt, das dann auch Marxismus-kritisch wurde und so auf die französischen Autoren gekommen ist, aber mit einem anderen Konzept als »Passagen«. Das Prinzip von »Merve« war, dass sie herumgegangen sind und gesagt haben, hast Du mal einen kleinen Text? Sie haben in ihrer Tradition eines militanten Verlagsprogramms ganz bewusst kleine Texte billig hergestellt und verbreitet. Das wollte ich nicht. Dazu kam ich zu sehr von der Philosophie und von der Wissenschaft. Ich wollte mit dem Gestus des Wissenschaftlers die großen Texte zur Verfügung stellen für einen qualifizierten Diskurs. Von daher konnten wir auch immer ganz gut miteinander.

Es gab keine Konkurrenz?

Nein, wir hatten eigentlich immer gute Beziehungen, abgesehen von der urheberrechtlichen Einstellung, die »Merve« hatte. Einmal haben wir zum Beispiel einen Text von Foucault genommen und verwendet, für den wir die exklusiven Rechte gekauft hatten. Aber im Großen und Ganzen hatten wir eine gute Beziehung. Trotzdem gab es einen großen Unterschied, denn mein Projekt hieß eben: Wir müssen uns die Arbeit antun und die großen Texte übersetzen, um eine fundierte wissenschaftliche und politische Diskussion zu ermöglichen. Das ist viel schwieriger und aufwendiger als im Wesentlichen nur kleine Texte zu machen, denn die lassen sich schnell und billig machen. Große Texte bedeuten dagegen eine unglaubliche Arbeit, die in unseren Ausgaben steckt. Man könnte sagen, »Merve« und »Passagen« ergänzen sich, obwohl wir längst auch ständig kleinere Texte zu erschwinglichen Preisen in unserem Programm bieten. Das ist »Merve«. Danach gab’s dann im Laufe der Zeit einige Verlage, die dieses Konzept … –

Kopiert haben?

… ich habe jetzt gerade ein schöneres Wort dafür gesucht – die das interessant fanden und eben kopiert haben. Auch ästhetisch übrigens wurden unsere Bücher viel kopiert. Mit diesen Verlagen haben wir nichts zu tun, außer dass wir jetzt um Übersetzungsrechte der Texte konkurrieren müssen, was das Ganze leider stark verteuert und uns gegenüber diesen neuen Verlagen, die viel besser mit Geld ausgestattet sind, in Nachteil setzt. Könnte sein, dass uns diese Verlage schließlich verdrängen werden, weil Sie mehr Geld zur Verfügung haben und die Pionierarbeit schon geleistet wurde, was es für sie einfacher macht. Mit Geld können wir nicht konkurrieren. Wenn es von diesen Verlagen, die uns eventuell mit Geld verdrängen, dann dafür eingesetzt wird, ein Programm zu verfolgen, wie wir es uns gedacht haben, können wir eigentlich zufrieden sein, weil der Samen, den wir gestreut haben, aufgegangen ist und Früchte trägt.
Mir geht es eben auch nicht in erster Linie ums Verlegen, so merkwürdig das nach fast 30jähriger Verlagspraxis klingt. Ich bin Herausgeber und auch Verleger wider Willen geworden. Es hat sich so aus einem wissenschaftlichen und politischen Projekt heraus entwickelt. Herausgeber oder Verleger zu werden, das stand ganz sicher nicht in meinem Lebensentwurf. Ich wollte es auch später nicht wirklich werden, ich hatte auch keine Ahnung von diesem Feld, aber ich war es dann irgendwann doch und bin es bis heute. Ich habe damals nur gewusst, es ist eine politisch-wissenschaftliche Initiative nötig – und möglich – weil der Suhrkamp Verlag, der damals führende geisteswissenschaftliche Verlag, aus ideologischen Gründen seine Arbeit nicht gemacht hat.
Das hat den Raum gegeben für »Passagen« aber auch die Verpflichtung, als Aktivist diese Arbeit zu tun. Es war wichtig, dass ich das in Wien angefangen haben und nicht irgendwo in Deutschland, z.B. in Frankfurt. Denn dadurch konnte ich ganz ruhig das »Passagen«-Programm entwickeln, und dann waren wir eines Tages mit fünf Titeln da und konnten nicht mehr weggewischt werden. Unser Auftritt hat damals in der Presse auch wütende Reaktionen hervorgerufen mit den ganzen Beschimpfungen, die in dieser Szene beliebt sind. Aber es hat nichts mehr genützt, es gab uns, und eine neue Generation von Studenten und Intellektuellen konnte ganz selbstverständlich mit unseren Übersetzungen der zeitgenössischen französischen Denker aufwachsen und sich entwickeln und darauf ihre eigenen Theorien aufbauen. Der »Passagen« Verlag als ein Programm, das sich dezidiert dem qualifizierten Transfer des französischen Denkens in den deutschen Sprachraum widmet, ist übrigens auch kein ganz unwichtiger Aspekt in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Einmal angefangen, hat sich das »Passagen«-Projekt dann seiner inneren Logik gemäß weiterentwickelt und ist zu einem namengebenden Verlagsprogramm geworden. So wie meine Generation von der Suhrkamp-Kultur redete, sprechen die jüngeren Leute heute von der »Passagen«-Kultur.

Es erschienen böse Artikel in der deutschen Presse?

Ja, hauptsächlich in der deutschen Presse, merkwürdigerweise in der sich links verstehenden Presse. Die war westlich-marxistisch geprägt und folgte der undifferenzierten Diffamierung unserer französischen Autoren als rechts. Das war eine Kampfszene, und so haben sich deren Vertreter auch benommen. Aber natürlich war das sehr gut für mich, weil »Passagen« dadurch sofort im Gespräch war, obwohl wir kein Geld für Werbung hatten. Zugleich war »Passagen« unantastbar, weil wir in Wien vor der institutionellen Macht dieser Szene weitgehend geschützt waren. Wir verdanken dem Standort Wien aber nicht nur deshalb viel, sondern auch, weil es hier neben vielen ignoranten, aber machtvollen Widerständen immer wieder auch aufgeschlossene Kulturminister, Kulturstadträte und Beamte gab und gibt, die schätzen, dass es in Wien wieder ein im deutschen Sprachraum relevantes, in seinem Bereich führendes intellektuelles Verlagsprogramm gibt, das mit seiner Präsenz und seinen Veranstaltungen auf das kulturelle Leben der Stadt ausstrahlt. Außerdem hat sich in Wien ein zivilgesellschaftlicher Unterstützerkreis gebildet, wie ich ihn mir in anderen Städten schlecht vorstellen kann. Das war alles nicht so geplant, und ich habe das am Anfang auch gar nicht verstanden. Aber es hat alles gepasst. Instinktiv habe ich es wohl richtig gemacht. Mit der Hartnäckigkeit und der Entschiedenheit, die ich für dieses Projekt aufzubringen vermochte, und mit der Hilfe vieler junger engagierter Mitarbeiter hat sich die Edition »Passagen« zu einem der wichtigsten intellektuellen Verlagsprogramme im deutschen Sprachraum entwickelt. Wir zeigen seit 25 Jahren, wie wichtig ein intellektuelles Programm ist und dass es gehen kann, wenn man es will.
Auch wenn es jetzt diese ähnlichen Projekte gibt, haben wir die großen Autoren und damit im Moment das kulturelle Gewicht, neue Positionen besser zu platzieren, was uns auch immer wieder gelingt. Ein Verlag realisiert ein Programm nach den kulturellen und intellektuellen Interessen des Verlegers oder eines Verlegerkollektivs, ein Programm, das nicht nach kommerziellen Kriterien gestaltet wird, sondern nach intellektuellen Vorstellungen. Man mag es oder mag es nicht, aber man sieht, dass da eine Energie, ein Wille, ein Konzept, ein Ideengebäude, eine politische Position, eine ästhetische Position kommuniziert werden sollen. Und darauf kann man reagieren.
1987 habe ich den »Passagen« Verlag gegründet, weil der Verlag, in dem die Edition erschienen war, einfach in Konkurs ging, – nicht wegen der Edition, aber er ging in Konkurs. Und das war die entscheidende Situation: Lasse ich es jetzt dabei oder führe ich das Projekt weiter? Es gab damals Anfragen von großen Verlagen, die sahen, dass dieses Programm Aufmerksamkeit erzeugt und damit für sie kommerziell interessant werden könnte. Es hat sich aber schnell gezeigt, dass da meine Leitidee nicht sicher wäre. Heute würde ich sagen, ich habe die richtige Entscheidung getroffen, indem ich »Passagen« unabhängig gehalten habe, weil ich damit bisher verhindern konnte, dass die intellektuellen und kulturellen Leitlinien dieses Programms überdeterminiert werden durch kommerzielle Konzernüberlegungen. Solche Überlegungen sind fern von »»Passagen««. Und das ist die Möglichkeit dieses Programms. Ich musste das damals entscheiden. Und meine Autoren sagten trotz kommerziellem Interessen, die nun an sie herangetragen wurden, Peter, wir bleiben bei Dir, wenn Du das weiter machst und an diesem Projekt festhältst. Ich war als Spätgekommener sowieso in einer schwierigen Situation im bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb. Die Jobs waren verteilt an die Achtundsechziger, und die, die noch da waren, gingen an die Kumpels von denen. Das war jetzt nicht wirklich attraktiv. Ich habe das zwar lange gemacht, ich habe auch bis 2000 mit einem Lehrauftrag französische Philosophie unterrichtet, aber die Uni schien mir schon damals nicht sehr attraktiv zu sein. Und da hatte ich einen guten Riecher, wie sie sich bis hin zu Bologna entwickeln wird. Ich habe mir gedacht, für das, was ich will, ist ein Verlagsprogramm das Beste. Denn damit erziele ich weitaus mehr Wirkung und erreiche ich weitaus mehr Menschen, als ich das nur mit Vorlesungen und Seminaren, die ich auch halten konnte – die Möglichkeit hatte ich hier in Wien, am Philosophischen Institut – erreichen könnte.

Sie wollten in diesem Zusammenhang noch etwas zu den belletristischen, bzw. poetischen Bestandteilen ihres Programms sagen.

Die Kernidee des Programms geht von der Sprachphilosophie Derridas aus, dass Sprache nicht Repräsentation ist, sondern ein anders gearteter Prozess der Bedeutungskonstitution, in dem das signifikante Material selber eine Rolle spielt bei der Konstitution der Bedeutung. Von daher habe ich eben alles, was sprachkritisch, sprachexperimentell ist in der Literatur oder auch in Kunstpositionen. Mit Künstlern beispielsweise, die sich für Ästhetik, also für Theorie interessieren, und die konzeptuell und interdisziplinär arbeiten, entwickeln wir gerade eine Reihe von Künstlerbüchern. Aber auch andere Wissenschaftsfelder fassen wir als natürliche Derivation unserer Programmidee auf. Auf diese Weise entwickelt sich unser Programm auch immer weiter. Wenn zum Beispiel jemand kommt und sagt, philosophische Theologie sei ein interessantes Gebiet, da gäbe es neue Entwicklungen durch Leute, die Derrida gelesen haben, dann entsteht daraus vielleicht ein neuer Programmplatz. Ich sehe das als eine Art Netzwerk. Indem ich Kompetenz auf einem engen Gebiet habe, kann ich auch Leute und Positionen auf anderen Feldern ein bisschen beurteilen. Vielleicht habe ich jemanden, der sich in Anthropologie auskennt und daraus entwickelt sich dann eine neue Verzweigung unseres Programms. So entwickelt sich das von Autor zu Autor weiter. Die Autoren kennen sich auch oft untereinander über ihre Positionen. Ich lasse bewusst ein breiteres Programm zu, wobei dieses Programm erkennbar die Position der französischen Philosophie und Theorie im deutschen Sprachraum vertreten und entwickeln soll. Und wenn man den nationalen Aspekt beiseitelässt, dann soll das »Passagen« Programm mit der französischen Position als einem Programmteil einer Theoriebildung dienen, die die Zivilgesellschaft stärken und Rechtstaatlichkeit und Demokratie verteidigen soll, also alles, was ich in unserer westlichen Gesellschaft für wertvoll halte und was ich mit meiner Arbeit stärken und weiterentwickeln will.

Wir danken faustkultur für die Überlassung dieses Gesprächs.
 


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