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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Artikel online seit 12.11.12



Versuche über die Beginnlosigkeit


Einige Gedanken zu Rainer Rabowskis
brillant-komplexem Erzählband »Unsere Sache«


Von
Lothar Struck




 

Sie heißen Yvonne, Helga, Raphaela, auch Novikova und Angélique oder  – geheimnisvoll – "H.N" und spielen in fünf von sechs Erzählungen des Bandes "Unsere Sache" eine entscheidende Rolle. Oberflächlich betrachtet, mit soziologischem Blick daherkommend, sind es Erinnerungen an vergangene Bekannt- und Freundschaften aus einer zurückgelassenen Zeit. Tatsächlich jedoch ist es ein entzifferndes Erzählen, ein Assoziieren und Reflektieren, das wie zufällig einsetzt. Der Ruf eines Namens an einer Bushaltestelle. Ein Gesicht in einer Menge ist eine ehemalige Arbeitskollegin (und auch Freundin). Oder, noch filigraner: Das leichte Heben eines Kinns. Schöne Momente, ein kleines Aufatmen erlaubende Freude, inmitten der mich immer etwas fremdeln lassenden Business-Verödung auf jemanden aus einer früheren Beinahevertrautheit zu treffen! Und im Nu beginnen Gedankenketten, aber anders als man vielleicht vermuten könnte, sind es keine expressiven Suaden oder atemlose Wortkaskaden, sondern bedachtsame, präzise und analytische Verortungen und Reflexionen, die zuweilen zu überraschenden Selbsterkenntnissen des jeweiligen Erzählers führen. Fast hat man das Gefühl, Transkriptionen eines mündlichen Erzählens, eines Selbstgesprächs, zu lesen (einmal heißt es auch Jetzt, im Sprechen), wäre da nicht dieser exakte Satzbau, diese zum Teil bis in die eckige Klammer hinein ausgefeilten Formulierungen. So steigert sich diese barocke Ausführlichkeit im Ton sanfter Melancholie bis hin zum andauernde[n] autistische[n] Selbstbefragen. Damit gelingen Re-Inszenierungen von verblüffender Intensität.

Otaku und Hikikomori

Unnötig zu sagen, dass das vordergründig Sich-Ereignende nicht primär Gegenstand der jeweiligen Erzählung ist, wenngleich es durchaus Geschichtenfortschreibungen gibt. Nicht immer ist klar, wann etwas spielt; es gibt Rekurse auf Ende der 70er Jahre und auch auf die Jahreswende 1999/2000. Von hier aus wird dann zuweilen nochmals in die Vergangenheit geblickt. Rabowskis Erzähler sind in (teilweise höheren) Angestelltenverhältnissen tätig oder auf dem Sprung dorthin. Die Firma (oder das Recruitement-Team) ist eben auch ein sozialer Ankerpunkt und nicht nur "Job". Man steht manchmal zusammen, trinkt einen Kaffee, hört jemandem beim Telefonieren zu. Ein solches Angestelltendasein ist für die Doppelleben von Rabowskis Erzählern ideal, sehen sich diese jedoch – in ihrer "anderen Welt" - als eine Art Otaku oder als einen noch spezielleren besonders in Japan auftretende[n] Soziotyp — ein Hikikomori, einer also mit einem Hang zur Selbstisolation und einem Zug hin zur tragischen Unversöhnlichkeit, einer der herausgearbeitet erst heute als massenhaft auftretender Typus dasteht, jemand, der auf die latenten gesellschaftlichen Unterströmungen antwortet, kraft einer gewissen Vor-Empfänglichkeit reagiert, jemand aus der Vorhut also: als einer auf dauerndem Rückzug.

Auch wenn dies ein Extrem ist - allen Erzählern gemein ist die stille Subversion als Lebens- und Existenzmaxime, eine der unterschätztesten Kräfte, wie es einmal heißt: Sie bewahrt gegen falsche Vereinnahmungen und dauerhaftes Angehaltensein, schafft ein ersteres Ungebundensein gegen die schleichend allumfassender geratende Indienstnahme noch des Letzten: dass man irgendwann an die Sinnhaftigkeit einer ungeliebten Sache auch noch glaubt. Dazu passt es (und wenn als Tarnung) etwas zu verteidigen, das einem eigentlich schon egal geworden ist. Klar ist, dass solche Personen für immer […] Randgänger bleiben würde[n], nur ab und an zu Besuch in dem Leben anderer. Und mit Wonne wird ein Kind beobachtet, das lieber stumm zur Seite sieht und nichts erzählen möchte.

Hermann Lenz nannte dieses niemals richtig dazu gehören  "nebendraußen". Aber letztlich fehlt Rabowski Lenz' impliziter Fatalismus (vielleicht auch nur, wie er selber mutmaßt, weil der Wille fehlt, die Konsequenzen hieraus zu tragen). Irgendwo kokelt ein Span der Möglichkeit von Hoffnung. Es gibt diese Ambition, dem Leben noch einmal eine andere Richtung zu geben, noch einmal jemand anderer zu werden. Aber da ist diese Art Unabänderlichkeitsbewusstein und manchmal, im Eingedenken der großen Zahl und der bisher bewältigten Lebensstrecke, Anfälle von einer womöglich tiefgreifenden Resignation. Es droht das Dilemma eintretend in die Gesellschaft und mich hinhaltend ihr verweigernd und das Risiko oder, besser, die Versuchung des zufriedenen Selbstgenießertums. Aber ist überhaupt etwas anderes möglich? Einen gesellschaftlichen Zusammenhalt konnte es in den alten Formen eben nicht mehr geben, dazu waren die Individuen und ihre Interessen schon viel zu sehr partikularisiert — ich kannte meine Interessen, die ich, unter dem Druck eines Tugendgebots ja doch nur noch mutmaßlicher Mehrheiten, nicht hätte aufgeben wollen. Und die großen, selbstgängerischen Umwälzungen sind ja doch nie aufzuhalten — das sieht man schon daran, wie heute alle vor ihren Sichtschirmen hocken und wirkliche ehemalige Fertigkeiten untergegangen sind zugunsten einer tatsächlich globalen Formatiertheit der Hirne, die sich dabei doch als Teil einer Moderne zu begreifen gelernt hat.

Ohne Zeitgeist-Ironie

Es geht demzufolge um Selbstwerdung, […] gegen die Verallgemeinerung, gegen die etwas originär Widerstrebendes in mir zu absorbieren suchenden Kräfte zu kämpfen. Nur die weitgehende Immunität gegen die gängigen Zeitgeistmodernen nebst Protagonisten sichert so etwas wie intellektuelle Autonomie, denn  ging es nicht immer nur wieder um Führerfiguren? Um bärtige Männer, ob Jesus an der Kanzel, ob Dutschke im Tempel, ob tote Lenins, deren Hirne okkulte Verehrung genoss, ob von einem sehr weltlichen Harem in weißen Stretchlimos herumkutschierte Inder? Oder im Rolls-Royce. Und hatte Lennon, die Leuchtgestalt, nicht jetzt auch so einen Bart der Weltverbesserungs-Wannabees, so eine Gewissenseiferer-, eine Arbeiter- ... eine Führer-Attitüde? Das Unbehagen an (und in) der Kultur strahlt längst in die Subkultur hinein und so droht die Welt ins All-Eine ihrer Vergleichförmigung abzugleiten, zu verkommen.

Aber braucht Individualisierung wie sie Rabowski versteht nicht unbedingt auch so etwas Antipodisches wie "Masse" - um sich von ihr bewusst absetzen zu können? Diese Frage schwebt über all diesen Reflexionen. Und wie also das Unglück über das Absehbargewordensein unserer Leben, wie diesen ephemeren (und desillusionierenden) Konsum der Romantik auf der  Couch der Absehbarkeit wenn nicht bannen, so doch mildern?

"Man kann nur mitfühlen, wenn man etwas sieht", so die Schriftstellerin Sabine Gruber, und weiter: "…wenn man die Gefühle und Gedanken Anderer erspüren und erraten kann". Oder, so möchte man ergänzen: wenigstens versucht zu erspüren. Das geschieht in diesem Buch exzessiv. So sieht das Aufbäumen gegen diesen Unglücks- und Absehbarkeitsglauben aus. Also das Gegenteil von kaltlächelnder Ironie oder pointensicherem Zynismus (nichts davon in diesem Buch; wie wohltuend das ist).

Hierfür ist der Freitagnachmittag (und -abend) die fast heilige Zeit. Dann conchiert das Berufliche ins Private; immer wieder  erhalten die Geschichten (welch' doppeldeutiger Begriff) ihre Dynamik. Überhaupt, so etwas wie Anfang oder Beginn. Mehr als die wenigen Erwähnungen dies nahelegen geht es in diesen Erzählungen um das Ideal der "Beginnlosigkeit" (inspiriert von Botho Strauß), den vorgezogene[n] Nullpunkt, jenes unaufhörliche Fließen, das man vielleicht auch "End-Losigkeit" nennen könnte und schließlich durch das Erzählen wenigstens als Möglichkeit endlos wird.

Dabei gelingt es Rabowskis Erzählern selten die durchaus erotischen Situationen mit Frauen sinnlich zu erzählen, was sie auch wissen: sie ertappen dabei, sich im Nu selber zuzusehen - und dann beim Zusehen wieder zuzusehen. Aber die Fähigkeit in der Selbstbeobachtung (auch den intimsten) Situationen reflektierend zu erzählen (nicht nur zu beschreiben), macht den latenten Reiz dieser Erzählungen aus - und gleichzeitig ihre Gefahr: Manchmal wirkt das sehr abgeklärt, an der Grenze zur Arroganz. Dabei sind die vermeintlichen Ab- und Ausschweifungen gar keine, sondern Ergänzungen - selten Bekräftigungen, eher Selbstbefragungen, die Ambivalenzen nicht aus- sondern zulassend. So ist der Erzähler einerseits von Raphaelas Piercing abgestossen, dann auch wieder fasziniert. Im Hinterkopf die Tätowierungsgerüchte vom Büroklatsch und die Neugier. Aber die wird sofort befragt, gewichtet, in einer jener essayistischen Passagen wie schon in Rabowskis vorherigen Büchern ("Erste Lieben" und "Die gerettete Nacht" [beide 2010]) mit zum Teil verblüffenden Analogien (die zugleich auch immer etwas von Rückmeldungen in die Gegenwart haben): Und außerdem frage ich mich manchmal, wie nahe an den hierorts beschrienen Genitalverstümmelungen in Afrika das ist. Oder ist eine Tätowierung die Selbstmarkierung in einer absehbaren Geschichtslosigkeit? Immerhin passte das zusammen mit der zunehmenden Präsenz unserer Neo-Nacktheit — oder waren wir nie weiter als bei Wangenstechereien mit Wilddornen und Tierknochen, waren wir nie andere als 'modern primitives'? Und gehörte das ganze Thema womöglich eh besser in die Völkerkunde? Oder auf den Jahrmarkt, zu den Fakiren? Es mag Leute geben, die bei ihren Selbstauszeichnungen genau wissen, was sie tun, aber das wären dann wohl Ausnahmen — die anderen sind, wie bei allem sonst in ihrem Leben, nur Nachäffer. Und ob ein paar Sportler und Halbstars für eine Saison die richtigen Vorbilder sind?

Schließlich die Conclusio: Die willentliche Zufügung einer Verletzung erschien mir tatsächlich blasphemisch, erscheint mir heute noch als die Herausforderung von etwas Schlimmerem. Zwar ahne ich, dass ich damit meinerseits in einer Verkennung lebe — und womöglich könnte man deren Hintergrund sogar abergläubisch nennen —, aber ich bleibe dabei. Ein willentlich zugefügter Schmerz, der die eigene Nichtigkeit kompensieren soll, verhindert eben erst einmal das Annehmen dieser Nichtigkeit — die ja die eigentliche Verletzung, die narzisstischere schon ist. (Wer vermag dabei noch den feuchten, unverhofften Kuss genießen? Und wer wundert sich dann über das abrupte Beenden und Nie-mehr-voneinander-hören?)

Jackson Pollock und Sophie Calle

Bei einem anderen Thema kommen sich seine Protagonisten schon mal in die Quere. Einmal ist Kunst heute zu sehr ein nur weiteres Format, das, außer im Kleinen, in Sonderfällen, wesentlich weiterführende Aufklärung kaum mehr schafft. (Und die eigentliche Kunst, die endlich wieder unverständliche, vollends entlegene, kann eh nicht in Dienst genommen werden) und stattdessen geben sich auf einmal Banalität und einfaches Vorhandensein der Dinge des Alltags zu erkunden, reicht das Nicht-Geheimnis im beliebigen Artefakt oft für das Verwundern schon aus. In einer anderen Erzählung wird dann von einer Art Initiationserlebnis vor Jackson Pollocks "Autumn Rhythm, Number 30" und "Nr. 32" erzählt, letzteres ein Bild, das mich derart in Unruhe versetzte, dass ich ein paar Tage hintereinander immer wieder in die Ausstellung laufen musste, um mich ihm auszusetzen — und es wurde zu einer wie aufrührerischen Erfahrung, im Nachhall womöglich zu einer fast auch ein bisschen verstörenden. Wie in Hofmannsthals "Briefe des Zurückgekehrten" die Kunst eines Vincent van Gogh für den Briefeschreiber die "Wucht des Daseins" repräsentierte und ein neues Weltgefühl konstituierte, so bewirken dies hier Pollocks Bilder.

Oder die Sache mit dem Adressbuch einer Unbekannten, gefunden auf dem Müll. Es enthält eben auch die Adresse der Freundin Angélique. Diese hat keine Idee, wem dieses Adressbuch gehören könnte, wer sie dort eingetragen hat. (Oder verschweigt sie etwas?) Fast wie Thomas Bernhards Protagonist in der Erzählung "Die Mütze" von Tür zu Tür geht um sein Fundstück abzugeben versucht der Erzähler die ehemalige Besitzerin dieses Adressbuchs zu finden. Der Name der Künstlerin Sophie Calle fällt und es wird erwogen, die Nummern im Notizbuch anzurufen, um aus deren Auskünften, seien sie auch noch so zufällig oder unüberlegt, in sich widersprüchlich oder sogar zweifelhaft, die Person zu rekonstruieren, der es gehört hatte. Fotos von Hauseingängen der erreichbaren verzeichneten Adressen werden angefertigt. Die eingetragenen Termine geordnet. Aber das Anliegen wird schließlich aufgegeben, es war ja auch nur ein Spiel. Und mehr und mehr versuchte ich dann auch, es mir selber als folgerichtige, als meine Freiheit auszudeuten, es auch offen zu lassen.

Indiziensammlung über die eigene Person

Ausläufer einer Müdigkeit und anlässlich des Jahrtausendwechsels (der ja von 1999 auf 2000 gefeiert und gefürchtet wurde) eine emphatische, fast pathetische Suada: Müde all der Unterschiede, der einen Leidenschaft. Müde der Heilsversprechen, der Vorfreuden der Nachgeschichte im Wissen, das immer Bessere noch vor sich zu haben. Müde aber auch der Weltverbesserungen, der idealistischen Zumutungen überhaupt und noch der an den Problemen nichts ändernden Pragmatik. Müde der Glücksangebote, müde noch der Pyrrhussiege des kleinen persönlichen Erfolgs. Müde müde. (Ist dies, so kommt mir jetzt in den Sinn, nicht [mindestens] eine Vorstufe zu jener Müdigkeit, die Peter Handke im "Versuch über die Müdigkeit" 1988 gegen die "Haufen der Unmüden" und ihren Aktivitäten setzte?)

Schnittmengen zwischen Literatur und Leben. Schön in einer eckigen Klammer verborgen programmatisch: Doch meinte ich noch einmal neu zu verstehen, was denn der Wirklichkeitsbezug oder die Relevanz oder die so oft wenig beweisende und doch so penetrant nachgefragte Authentizität in den Büchern wie im Leben noch meinen könnte: Wenn in den Sätzen über jedwede Sache nicht immer auch ein Mindestes jenes Zitterns anklingt — eines Wagnisses ob an Wörtlichkeit oder Widerstreiten, ob als mutwillig sich eben erst Verfertigendes, als Manierismus oder, von mir aus, als Literarizität, als jedenfalls ein sich anders als die Konvention Versuchendes, eines Lebendigen —, dann fehlt ihnen etwas, klingt im Gegenzug auch alles gut überlegt oder schön komponiert: wenn in diesen Sätzen nicht ein Rest des Irrepräsentablen ihrer Sprache aufblitzt, darin es ihnen als deren oder als ihre eigene Erneuerung sich fortzuzeugen gelingt, sind sie letztlich austauschbar und damit eigentlich auch weiter schon nicht mehr von Belang.

Das Zittern in den Sätzen und das Zittern im Leben. Denn was sonst angesichts der Überkomplexität der Welt soll einen beschäftigter halten als die Indizienarbeit der Klarwerdung über die eigene Person? Und damit das immer mitzudenkende Scheitern in und mit der Kommunikation von Menschen. Ist dieser Schauder des Nichtverstehens nicht auch etwas Schönes? Es war nicht das erste Mal, dass ich erlebte, wie zwei mutwillig sich und einander in ihren Entgleisungen versuchende Verdrehte nicht zu ihrer Verständigung kamen, heißt es einmal keck. Und nach einer landläufig als "gescheitert" bezeichneten Beziehung: Peinlich genug, sich einzugestehen, dass die eigene Andersheit statt auf Herausragendem eher auf so etwas wie einer teilweisen Lebensungeschicktheit beruht — die einem anderswo dann trotzdem oft zum Vorteil wird.

Die Wieder-Holung

Die letzte Erzählung stellt eine Ausnahme zu den anderen dar. Es ist eine am Ende ins Epiphanische changierende Ortserzählung, Erinnerung an Kindheits- und Jugendtage um den Rather Kreuzweg in Düsseldorf. Der Erzähler arbeitet in einem Büro in der Nähe und begibt sich eines Tages auf den Weg in seine Kindheit, in dem er diese Strasse abgeht: Das Heute und das Ehemalige: alles zusammen für mich die Verdichtung von so etwas wie Psychogeographie — und dann noch in einem Griff wie über die Zeiten. Viel eher die Vergewisserung über den heimlichen Gewinn an der Lösung von diesem Ort aus genug Geheimnis erlaubendem Alltag, aufgelassenen Gärten und krautigen Hinterhöfen, Ecken und Straßen, die kaum noch jemand mit Augenmerk passiert. Und hier, im Augenmerk dieses ansonsten keines Blickes gewürdigten Ortes, liegt dann so etwas wie Essenz des Erzählens. Schon fast den Rückweg einschlagend setzt die Sekunden-Besoffenheit ein. Plötzlich der Mirabellenbaum mit seinen heruntergefallenen Früchten. Er probiert sie und weltfremd, entrückt, schmeckte [er] dem auf seinem Höhepunkt errötenden Triefen der Glukose hinterher. Und hier fließt dann alles ineinander: Vergangenheit, und Gegenwart und wirklich war daran nichts gleichzusetzen mit der der sämigen Fadheit, der man heute wegen Verfügbarkeit und Haltbarkeitseigenschaften der immer gleichen Stoffe in immer mehr Lebensmitteln begegnet. In eben den verwilderten Gärten dieses Stadtteils, in denen ich aufgewachsen war, war nahezu alles vorgekommen, und damals war es auch noch selbstverständlich gewesen, sich daran bereichern zu dürfen. Aber gegeben ist nichts. Dafür entfalteten sich nun wiederum komplexe Einsichten über all das in Form der Geschmacksergießung in meinem Mund!

Das ist ausdrücklich keine Heimkehr, keine Beschwörung einer Madeleine-Seligkeit, sondern das, was Kierkegaard die "Wiederholung" nannte (und was man besser "Wieder-Holung" schreibt) und wie folgt von der Erinnerung abgrenzt: "Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert." Vorlings erinnern - vielleicht ein Paradoxon, ein unmögliches Unterfangen, gerade in dieser geschichtslosen Zeit, die Daten nur noch sammelt und als vergangene Ereignisse routiniert abspult. Aber es gilt der Versuch.

Rainer Rabowskis Erzählungen sind komplex, fordern vollste Konzentration, ja: Hingabe. Wer Lesefutter sucht, ist hier an der falschen Stelle. Ich habe in diesem Buch nicht eine Plattitüde, kein Klischee, kaum ein Gemeinmachen mit Alltagsallegorien gefunden. So wie man diese Sprache bewundert (und, zugegebenermaßen, auch schon mal verflucht, weil man den Faden verloren glaubt) zollt man Barbara Miklaw Respekt und Achtung mit ihrem Einfrau-Unternehmen Mirabilis-Verlag mit solch einem Buch zu beginnen.

Demnächst würde ich mit etwas anderem Ernst machen müssen heißt es am Ende einmal. Ich bin in höchstem Maße gespannt auf dieses "demnächst". Denn für mich ist Rainer Rabowski derzeit einer der anregendsten deutschsprachigen Schriftsteller.  Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Rainer Rabowski
Unsere Sache
Erzählungen
Mirabilis Verlag
Taschenbuch
360 Seiten
ISBN 978-3-9814925-0-7

 


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