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Von Leichen, Leiden und kleinen Listen
Ralf
Rothmann erzählt nicht nur von »Shakespeares Hühnern«
Von Sigrid Lüdge-Haertel
Mit rechten Dingen geht
das nicht zu. In diesem Juni haben wieder einmal die dreißig deutschen Kritiker
der SWR-Bestenliste Ralf Rothmanns neue Erzählungen »Shakespeares Hühner« als
bestes Buch auf Platz 1 gesetzt. Das nennt man ›Kritikererfolg‹. Das hilft im
Buchhandel, aber nur ein bißchen. Richtig bekannt geworden ist Rothmann nur in
der Branche. Er hat auch viele Literaturpreise abgesahnt, ohne wirklich populär
zu werden. Er kann gut beobachten, sehr genau beschreiben; er ist ganz dicht
dran an unseren Verhältnissen, sei es im Ruhrpott, wo er herkommt, oder im neuen
Berlin, wo er seit langem lebt. Er kann spannend erzählen. Rothmann gilt,
ziemlich unbestritten im Literaturbetrieb, als der beste Erzähler seiner
Generation. Das ist schon mal was. Aber Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste, das
wär’s wirklich! Also: weitersagen!
Eine junge Frau geht ein letztes Mal in ihr Café. Ihr Jahr in Paris ist
vorbei. »Nicht einen Menschen hatte sie kennengelernt«, von irgendwelchen
Arbeitskollegen abgesehen. Die einzige Zärtlichkeit des Tages war »die Berührung
mit dem Puderpinsel«. Da sieht sie an einem anderen Tisch einen Mann, der ihr
gefallen könnte. Sie nimmt allen Mut zusammen und spricht ihn an.
»Entschuldigung? Ich kenne Sie!«. Leise fügt sie noch hinzu: »Aus einem Traum«.
Sie hatte deutsch gesprochen. Der Mann betrachtet sie aufmerksam und sagt dann:
Ja, »ich erinnere mich«. . Dann lächelt er und – geht. Oder: eine andere
Geschichte.
Raskin, Schüler der siebten Klasse, mehrfach sitzengeblieben, deshalb körperlich
seinen Mitschülern weit voraus, brüstet sich mit seinem Verhältnis zu einer
alten Frau. Tim, ein Klassenkamerad, bewundert ihn deshalb und bittet darum,
einmal »zugucken« zu dürfen. Raskin nimmt ihn mit. Die Frau liegt, mit
»makellosen« Brüsten, auf der Couch. Allerdings: tot. Doch damit ist die
Geschichte noch längst nicht zu Ende.
Oder: noch eine andere Geschichte.
Ein Mittdreißiger, stark, groß, alleinstehend, etliche Zeit im Gefängnis, jetzt
»Hilfskraft« in einem Krankenhaus, kann sich »hocharbeiten«, indem er Tote von
ihren Betten in die Kühlräume hievt. Es gibt da Entsorgungsprobleme, die Leichen
stauen sich in den unterirdischen Gängen, nicht angenehm für die Kranken, die an
ihnen vorbeigeschoben werden. Rothmann erzählt nun, wie sich dieser etwas
schlichte, gutmütige Typ mit einem kleinen Jungen anfreundet, der in der Nähe
des Krankenhauses wohnt. Der Junge genießt die Aufmerksamkeit seines großen
Freundes. Er fühlt sich ernst genommen, selbst dann noch, als er sich als
Dichter bezeichnet. »Was schreibst du denn?« »Ich reime«, erklärt er dem Mann,
zum Beispiel: »Schöne heiße weiße Scheiße«.
Rothmanns Helden stammen
aus allen Schichten der Bevölkerung Er beschreibt keine Luxus-Leiden, sondern,
handfest, die Probleme von wirklichen Menschen. Er sagte einmal: »Ich erfinde
nichts. Worüber ich schreibe, das habe ich irgendwie erfahren. Wenn ich erfinde,
merke ich schnell, daß meine Sprache keine Schwerkraft hat, daß sie flattert.
Ich habe ein fotografisches Gedächtnis, ich vergesse nichts.« Dabei bildet er
keineswegs einfach ab, was er gesehen hat. Sondern – darin ein perfekter
Handwerker – er gestaltet es. Auch diese neuen Erzählungen leben wieder von der
Bildkraft seiner Sprache, seinem Einfühlungsvermögen, einem durchaus makabren
Witz. Und von den Pointen, auf die seine Geschichten aber keineswegs
›hingeschrieben‹ sind.
Das zeigt uns Friederike, genannt Fritzi. Sie hatte im Schülertheater
Shakespeare gespielt und dort, wo im Text von »Hünen« die Rede war, immer
»Hühner« gelesen. Jetzt, allein in Avignon von einer beleidigten Freundin
zurückgelassen, macht sie sich ihren eigenen Reim darauf: Wir alle sind doch
»eigentlich nur Hühner«.
Also:
»Shakespeares Hühner«.
Wir machen ein
»unheimliches Gegacker um lauter Kram (…) und wissen doch alle, daß es nicht das
Wahre ist.«
Der Artikel erschien zuerst im
Strandgut - Das
Kulturmagazin
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Ralf Rothmann
Shakespeares Hühner
Erzählungen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012,
212 Seiten
19,95 € |