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Bücher & Themen Artikel online seit 20.02.13 |
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Rranxë, Bajram Curri,
Fierzë, Valbona, Kukes, Gjakova, Tirana, Belgrad, Budva, Ulcinj, Prishtina,
Tropojë, Lice, Begovac, Lička Jesenica, Saborsko, wieder Fierzë, Skopje, Bihać,
Sarajevo, an der Vrbas, Cetinje, Novi Sad, Zaječar, Niš, Leskovac, Pogradac,
Međugorje, Vranduk, wieder Sarajevo, Durrës, Zepče… - irgendwann liest man diese
Dörfer- und Städtenamen nur noch wie in Trance, wenn es nicht gerade Metropolen
sind oder eben dieses immer wiederkehrende
Bajram Curri. Fast schwindelig wird einem von Andrzej Stasiuks Hin- und
Her-, Kreuz- und Querfahrten durch und über den sogenannten Balkan. Der Krieg als l'art pour l'art Es gibt Sätze in diesem Buch, die würden dem Jugoslawien-Reisenden Peter Handke wie Peitschenschläge um die Ohren gehauen. Denn wo Handke Serbien als letzte Bastion gegen die allgegenwärtige Entzauberung der Welt sieht, ist es bei Stasiuk der Balkan (und da besonders Albanien). Etwa wenn er das "Holiday Inn" in Sarajevo betrachtet, jenes Hotel, in dem die Journalisten damals während der Belagerung ausharrten. Sie waren, so Stasiuk, in der Hoffnung, die Serben würden das Hotel nicht beschießen. Eine Zeitlang fühlten sie sich mitten im Massaker sicher. So als würde das Schauspiel nur für sie veranstaltet. Damit sie zugucken und das alles in die Welt hinaussenden konnten. Überhaupt sah dieser ganze Krieg so aus, als wäre er eigens für die blasierten Westeuropäer organisiert worden. Damit sie sich fürchten konnten, Verachtung oder Überlegenheit spüren konnten. An anderer Stelle räsoniert er über die Nekrophilie im ehemaligen Jugoslawien: Dass dieses Land sich selbst in Brand gesteckt hat, dies hat schon einen gewissen Reiz. Schließlich war hier niemand so verrückt zu glauben, er könnte dabei gewinnen. Dieses Blutbad hatte etwas Selbstloses. L'art pour l'art. Europa guckte zu und sie sagten: "Schaut her, wie das geht. Merkt euch das gut, denn ihr selbst wisst das wohl gar nicht mehr richtig." […] Das ist ein Memento und dafür sollten wir ihnen dankbar sein. […] In einer Zeit, als der Rest des Kontinents sich stolz im Konsens übte, in erfolgreicher Entwicklung und friedlicher Koexistenz, taten sie sich hier Endlösung und Karneval in einem an. Dann der Kommentar zu einer Filmszene [ähnlich dieser [ab 2:33]]: Ratko Mladić zwingt Oberst Karremans, den Kommandeur des UN-Bataillons, welches für die Sicherheit der sogenannten "Schutzzone" Srebrenica zuständig war, eine Zigarette zu rauchen und ein Bier zu trinken. […] Der Oberst windet sich, versucht abzulehnen und gibt am Ende doch nach, erniedrigt. Mladic lacht grölend und stößt mit dem Oberst an. Und Stasiuk kommentiert: So sieht die Niederlage des Westens aus. […] Ich stelle mir den feisten Banditen mit dem roten, gedunsenen Gesicht vor, wie er den großgewachsenen Oberst anbrüllt [hier], hinter dem die UN stehen, Europa und mit wenigen Ausnahmen fast die gesamte zivilisierte Welt. Der aber raucht eine Zigarette, obwohl er Nichtraucher ist, er trinkt das Bier, das er nicht trinken will, und geht von dannen, lässt die wehrlosen Menschen zurück, die er beschützen sollte. […] Und eigentlich sucht mich immer nur dieses Bild heim, wenn ich an diesen Krieg denke. Aber das Verstörende von Stasiuks Prosa liegt dann auch darin, dass er sich trotz der Abscheu der Faszination für diese bluttriefende, balkanische Operette (vulgo Krieg) auch nicht ganz zu entziehen vermag. Er erinnert sich an seine Kindheit (er ist 1960 geboren): Wahrscheinlich habe ich die ganze Kindheit immer an einem Krieg teilnehmen wollen. Im Grunde war ich böse, dass er zu Ende gegangen war, dass ich mir alles von alten Tanten und Omas erzählen lassen musste, sie fragen musste, wie brennende Häuser, Pazifizierung, Erschießung, Massenexekution, Bombardierung, Artilleriebeschuss und so weiter aussehen. Im letzten Drittel des Buches, als er sich sein Vaterland Polen vorknöpft, preist er den Mut des Balkan[s], der alte Leichen beweinen muss, attestiert diesen Ländern eine ausgeprägte Persönlichkeit zwischen Minenfelder[n], Minarette[n], Gräber[n], Pluderhosen und MG-Salven als Handy-Klingelton. Der polnische Patriot Die Eindrücke von den zahlreichen Balkanreisen vermischen sich zuweilen mit denen über Polen. Hierin liegt eine nicht zu unterschätzende Provokation: Stasiuk entdeckt im Vergleich zur dürstenden Lust nach Blut und Tod in dieser leeren Zeit, diesem Märtyrertum des Balkans, in Polen nur den allgegenwärtigen Kommerz: Jedes Kuhdorf hat inzwischen sein eigenes Einkaufszentrum aus glänzendem Silberblech und Rauchglas. […] Überall stinkt's nach Chinakleber, überall hängen zerknitterte Fummel, ist es halbdunkel, damit du diese triste Armut nicht siehst. Und aus den Lautsprechern musikalisches Phlegma. Fast jedes Scheißteil hat einen Aufdruck. Man spürt den Zorn: Aus den Scheißhäusern stinkt's nach Veilchen. Hinter den Verkaufstheken stehen hirnlose Püppchen […] An den Springbrunnen sitzen die Jüngeren und wärmen ihre Bäuche im Schein der blinkenden Lämpchen. […] Das Vaterland riecht nach Kebab und geputztem Klo. Und überall die Plastiksandalen. Es ist Wut aber auch Verzweiflung über ein Land, das sich sang- und klanglos dem Kapitalismus hingegeben hat, alles nachäfft. Und wo der Konsum nicht dominiert, kommt die Religion, der Marienkult, ins Spiel, die Stasiuk ebenfalls mit wortgewaltigen Suaden bedenkt. Er besucht Lichén und entwickelt stark an Josef Winkler erinnernde mystische Beschwörungen, nennt Maria provokativ Jüdin und fragt sich, warum man nicht eine eigene, eine Steppenreligion entwickelt habe. In Wirklichkeit, so Stasiuks These, gefalle sich Polen immer noch als Opfer der Geschichte, benehme sich, als beneideten sie die Juden um ihr Feuer. Hart geht er mit der Gesellschaft, aber auch mit Politikern und Intellektuellen ins Gericht, die sich viel zu sehr in die Vergangenheit geflüchtet hätten. Und jetzt werde die Zeit des Kommunismus verteufelt, aber, so Stasiuk, ich erinnere mich nicht, dass jemand gemeckert hätte, damals, als man in "fortschrittlichen" Nylonhemden schwitzte. Daneben stellt er den Urhorden-Kommunismus Albaniens und den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Er sucht und entdeckt dort Kennzeichen, wie bei uns in den Zeiten, als die Leute sich noch sicher fühlten. In Sarajevo bemerkt er wie eine Moschee nach der anderen gebaut werde. Und vor den Gotteshäusern gibt es Verkaufsstände mit Pornoheften. Notwendig wäre ein dritter Weg, so der Befund, den er wohl vor allem auf und für Polen angewendet haben möchte. Als er eine Baustelle bei Pogradec auf der Fahrt durch Albanien beobachtet, diese direkt aus den von Spaten aufgegrabenen Gruben, das Geschrei auf den Gerüsten, diese Unordnung, Lärm, Hupen und alle paar Meter ein wassergefülltes Schlagloch in Asphalt auf der sogenannten Straße, bekennt er fast naiv-kindlich: Ich mochte dieses Land und er kommt dorthin um zu gucken. Um manchmal wütend zu werden, manchmal Angst zu bekommen. Ich mochte dieses Land mehr als andere Länder und war froh, dass es so weit entfernt war. […] Ich mochte seinen Gestank, die von der Hitze gedunsenen toten Esel am Straßenrand. Mich störte hier nichts… (ein bisschen nimmt Stasiuk sich dann wieder zurück und ergänzt ein bisschen mokant: es sei denn, ich hatte gerade einen Kater). Nie weiß man genau beim Lesen ob Stasiuk gleich explodiert oder einfach nur fassungslos schwärmt von seinem Albanien, den auf der Straße sitzenden Männern, die den Müll einfach wegschmeißen und liegen lassen, während die Frauen ihre Häuser peinlich sauber halten. Einmal wurde er von seinem Freund Xhemal zu Besuch nach Hause eingeladen. Er schildert, wie diese Inszenierung ablief; er, die Frau und die Kinder spielten ihre Rollen, so gut sie konnten und am Ende ist Stasiuk ist glücklich: Niemals im Leben bin ich mehr Gast gewesen als dort.
"Tagebuch danach
geschrieben" besteht aus hässlich-schönen, kitschig-epischen,
wunderbar-grausigen Stellen. Es zieht einen hinein, stößt ab, macht wütend,
lässt einen heftig Nicken und auch manchmal Kopfschütteln. Andrzej Stasiuk zeigt
sich als filigraner Beobachter, Zyniker, Pathetiker, Großmaul und - vor allem -
als polnischer Patriot. Dabei gibt es keine vorgestanzten Muster, keine
leblos-glatte, durchgestylte Schreibschulprosa. Diese verhält sich zu Stasiuk
wie eine Tütensuppe zu frisch zubereiteter Barszcz. Es ist schwierig, Andrzej
Stasiuk und seiner monomanischen Melancholie den Balkan und Polen betreffend
nicht zu verfallen.
Die kursiv gesetzten
Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. |
Andrzej
Stasiuk |
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