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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 18.10.12

Prof. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bundesministerium für Bildung und Forschung, CDU

Bildquelle: Laurence Chaperon

Über d
as Eigenleben des Sekundären

Grundsätzliche Anmerkungen zum Fall Annette Schavan


Von Peter V. Brinkemper





 

Annette Schavan und Karl-Theodor von und zu Guttenberg trennten Welten. Sie schämte sich, ein bisschen und halböffentlich, für ihn.
Nun stehen sie fast einträchtig nebeneinander, mit Schavanplag und Guttenplag, digital, am Pranger des Plagiats – nach zeitgenössischen Maßstäben der exakten Zitierweise. Dabei gibt es deutliche Unterschiede.
Während Guttenberg als Kind des elektronischen Zeitalters seine verfassungsrechtliche Dissertation mit einem Vergleich der Entwicklung in den USA und der EU an der Universität Bayreuth höchstselbst oder mit fremder Hilfe computer- und netzgestützt zum wilden Zitatenpotpourri parallel zu seiner Jungstar-Politiker-Karriere im Alter von nicht mal 35 Jahren bis zur Abgabe 2006 anschwellen ließ, hatte Schavan ihre erziehungswissenschaftliche Arbeit  über Person und Gewissen an der Universität Düsseldorf Anfang der 80er Jahre, im Alter von zarten 25 Jahren, mit Zettelkasten und Schreibmaschine noch von eigener Hand angefertigt, bevor sie dann in Politik und kirchlichem Umfeld aufstieg.

Wenn man die in den beiden Plag-Sites angeführten Textpassagen, Zitate und weitergehenden Quellenvergleiche nach Inhalt und Aussage-Niveau durchsucht, so fällt rasch auf: Guttenbergs Arbeit kommt an der Oberfläche wesentlich kühner und brillanter daher, im Tonfall einer juristisch-politisch-journalistisch aufgepuschten Rhetorik. Schavans bieder-fleißiges Produkt füllt im Modus der damaligen Studienkultur an vielen Seminaren der rheinischen Universitäten Bonn und Düsseldorf brav die Kapitel an, um dem breiten Thema zwischen Erziehungswissenschaft, Psychologie, Philosophie und christlicher Theologie einigermaßen gerecht zu werden.

Auffällig ist, dass beide Themenstellungen viel zu weit gefasst sind: Person und Gewissen – Verfassung und Verfassungsvertrag, konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU, das sind zweifellos interdisziplinäre Mammut-Terrains, die ihrerseits entweder zu viele Klippen oder zu viele Schlupflöcher für eine stärkere thematische Eingrenzung und Präzisierung lassen. Eine solche habilitationsförmige Hülsenstruktur im Rahmen von Doktorarbeiten wird nur von der Minderzahl der Promovenden derart souverän ausgefüllt, so dass kein schlaff am Himmel der Wissenschaft hängender Pflichtballon mit Lexikonweisheiten hängt, sondern ein zukunftsweisender Zeppelin, der neue Wissensgebiete ansteuert, ohne gleich in Bodennähe zu explodieren.

Fliegender Holländer der transatlantischen Verfassungskonstitution

Guttenbergs Arbeit weist im Umfang und in der Art der Plagiate zweifellos ein anderes Kaliber auf als die Dissertation von Schavan. Der Tatbestand der jeweiligen Plagiierung speist sich aus recht unterschiedlichen Schreibtechniken, Arbeitsstilen und Denkhaltungen: Guttenberg bevorzugt die auffällig exponierte Argumentation mit dem selbstbezogenen Nimbus des souveränen, vom Material unabhängigen Überfliegers, während Schavan sich als Autorin in ihrer Darstellung, stark aufgebaut auf einer kompilierenden Zitierweise, fast zu verstecken scheint und dabei den geforderten Eigenanteil an den (neuen) Befunden und Perspektiven relativ gering hält (oder auch damit objektiv überfordert war). 

Guttenberg rennt in die Falle der permanent behaupteten Originalität, die sich in der Tiefenanalyse als ein aus lauter Partikeln aus Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Netzquellen zusammengesetztes Ghostwriter-Simulacrum entpuppt, eine Art fliegender Holländer der transatlantischen Verfassungskonstitution, dem der in die Versenkung entschwindende Doktorvater bis heute seinen Beifall nicht versagt hat. Schavan scheint im prädigitalen Zeitalter nicht allzu weit in ihren Eigenaussagen bzw. in Kommentierung und Diskussion von den von ihr bemühten Quellen und Zitaten abzuweichen, im Konsens mit der Tradition, was ihr Doktorvater gleichfalls honorierte.

Ein aposteriorisches Zuwenig im Eigenbeitrag

Interessanterweise ist jedoch in beiden Fällen die Spannung und die Dialektik zwischen dem tatsächlich wissenschaftlich abgleichbaren Verhältnis von Eigen- und Fremdaussage nicht ausgewogen: Wo Guttenbergs Gestus unentwegt ein Zuviel an vorweg prätendierter Eigenaussage zu leisten vorgibt (dabei aber, angeblich, nicht mehr wusste, was eigentlich von ihm oder von anderen stammte), liegt bei Schavan ein aposteriorisches Zuwenig im Eigenbeitrag, eine Überbetonung im möglichst bloßen Referieren vor. Beide Haltungen, das Verfügen über die Tradition und das Verschwinden in ihr, sind sicherlich der Differenz der Fachgebiete, den Vorgaben der Doktorväter, dem unterschiedlichen Temperament der Autoren, aber auch den verschiedenen Schreibstilen und Technologien noch vor und dann mitten in der heutigen Netzkultur geschuldet: sukzessives Sammeln und übervorsichtiges Ordnen und zaghaftes Auswerten (Schavan) versus wildes Echtzeit-Kompilieren und forsches Mutmaßen (Guttenberg). In beiden Fällen führt dies zum Plagiat oder hängt zumindest mit bestimmten Plagiatformen zusammen.

Die Risiken unoriginellen Schreibens

Meine These besteht also darin, den Befund der Plagiate mit bestimmten Schreibstilen und Wissenskulturen zu korrelieren, um die Umrisse einer Typologie für die Risiken unoriginellen Schreibens und reproduktiven Rezipierens im digitalen Zeitalter sichtbar werden zu lassen. Bei Guttenberg geht der Tenor dahin, dass er sich von Quellen als Dienstleistern und Claqueuren umzingelt sieht, die seine angeblich originelle Position immer schon widerspiegeln und bestätigen. Daher der Handstreich, in seiner Darstellung die wörtliche und indirekte Wiedergabe anderer Quellen nicht zu kennzeichnen und damit den Kontext einer wissenschaftlichen Schrift- und Buchkultur früher oder später erschienener Beiträge als logische und historische Folge von Wissensständen zu chaotisieren. Stattdessen werden diese Quellen immer wieder verschwiegen, ihre Funktion und Relevanz verwischt, ja mehr noch schwungvoll übergangen oder sie, wenn überhaupt explizit erwähnt, umgekehrt mit dem an sich nicht sündigen Operator „vgl.“ eventuell nivelliert oder vereinnahmt). Schavan hingegen ist ständig auf der Suche nach Sekundärautoren, die sie von der Bürde eigener Gedanken- und Federführung entlasten, und ihr die großen Geister der Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Theologie mit weitem Abstand erklären und die eigene Auseinandersetzung hinausschieben oder zur bloßen Wiedergabe abmildern – z.B. bei Erikson, Freud, Adler, Fromm, Frankl, Piaget, Kant, Abälard, Hieronymus, Thomas von Aquin, Aristoteles, Buber und Guardini. Gefährlich wird diese Suche Schavans nach helfenden Vermittlern, wenn etablierte zeitgenössische Fachleute ihr die Arbeit an der Exegese der Klassiker nicht nur erleichtern, sondern gar ersetzen sollen. Eine gewisse Argumentationsphobie der Promovendin vor dem allerheiligsten Kerngeschäft ihrer Thematik ist sicherlich der Hauptgrund für die heutige kritische Einschätzung der damaligen Leistung. Schavans anscheinende dienende Behutsamkeit führt dazu, dass Sekundärbefunde aus teilweise im Text zunächst ausdrücklich angeführten Quellen dann doch ein Eigenleben führen. An nicht wenigen Stellen klingt es dann im weiteren nach Zitatunterschlagung, ohne sie vielleicht immer zu beabsichtigen. Diesem Eigenleben des Sekundären und dem Hang zur starken Reproduktion, Paraphrase und Anhäufung, auch in Passagen der geforderten eigenständigen Ergebnissicherung, hätte die Autorin Paroli bieten können, mit einer aktiver strukturierenden Selbstauslegung von Primärquellen und eigenständigeren diskursiven Verarbeitung von Begrifflichkeiten und Modellen. Während Guttenberg sich auffällig als diskursiver Gesamtkünstler zum originellen Hyperplagiator hochstilisiert, ist Schavan die leise vor sich hinplagiierende Wissens-Ansammlerin, die auch noch in ihren Vergehen, wie in der Tagespresse und im Netz zu lesen ist, derart Maß hält, dass ihr dies vielleicht doch noch, bei einigem wissenschaftspolitischen Wohlwollen, den Doktortitel, nicht aber den makellosen Ruf, zumal als normsetzende Bildungsministerin, retten könnte.

Anti-akademisches Schiffe-Versenken

Dabei ist der Fall Schavan zugleich ein Problemstein für den Umgang mit den digitalen Methoden der Plagiatsjäger, die gelegentlich wie hirnlose Termiten und Kampfdrohnen mit ihren Suchprogrammen ein anti-akademisches Schiffe-Versenken spielen. So war in der Presse zu lesen, Schavan hätte in ihrer Dissertation von sich selbst abgeschrieben. Das mag zunächst absurd klingen, ist aber bei näherer Betrachtung von Parallelpublikationen durchaus möglich. Verwerflich ist es dann, wenn Schavan in ihrer Dissertation solch einen Selbstbezug nicht kennzeichnet und damit die vielleicht originelle Idee des früheren Textes als originelle Leistung auch in ihrer folgenden Arbeit ausgibt, statt zu neuen Ufern aufzubrechen. Wie dem auch sei: Immer wieder kommt es auf der Basis der abstrakten Suchprogramme zu antihermeutischen und kleinkarierten Verrenkungen, wenn mechanische Befunde oft zu schnell und unüberlegt für bare Münze genommen werden. Der Verdacht einer mit Technologie getarnten Ressentiment-Kultur ungebildeter Schädlinge, die sich als Kammerjäger aufdrängen, liegt nahe. Rechthaberisches Bloggen und brachiales Bloßstellen und Killen, das sind die zwei Seiten der heutigen, oft undialogischen Netzkultur. Im Zusammenprall mit der älteren Universitätswelt entsteht der Anschein einer exakten Text-Tomographie und Trivial-Krypotologie. Doch deren außer- und inner-universitäre Jünger durchleuchten überscharf und des öfteren am (spezifischen fachwissenschaftlichen und argumentativen) Sinn vorbei. Andererseits entwickelt sich eine extern angestachelte harte Transparenz, die nicht nur im akademischen Betrieb sondern auch im Netz manchen methodisch-praktischen Unsinn, Widersinn und Leichtsinn der Bevorteilung und Benachteiligung, der unangemessenen Protektion und der Bloßstellung bei Leistungen und Beurteilungen aufzudecken imstande ist.

Über die aktuelle Konfrontation hinaus geht es um fachimmanente und fachübergreifende Regeln einer Hermeneutik im Umgang und in der Verfertigung fremder und eigener wissenschaftlicher Texte. Hieraus ergeben sich auch Perspektiven für die Diskussion der Reibungspunkte zwischen externer Netzkritik, Universitätsautonomie, internem akademischen Vorgehen und öffentlichem Mediendruck. Die kritisch-hermeneutische Reflexion fragt nach: Inwieweit dienen oder schaden mechanische Plagiats-Unterstellungen der textuellen und intertextuellen Aufklärung, Forschung, Bildung und Ausbildung auf dem Niveau der Universität? Schwanken Studentinnen und Studenten bei heutigen Anforderungen nicht immer wieder zwischen Ängstlichkeit und Dreistigkeit hin und her? Inwieweit existiert in bestimmten Fächern und an bestimmten Hochschulen ein hinreichendes fachliches und interdisziplinäres hermeneutisches Bewusstsein und eine entsprechende Kultur der Geduld und des Engagements? Welche Gründe und Ursachen führen dazu, dass entsprechend strittige Fälle von schriftlichen Leistungen heute in der elektronischen Öffentlichkeit ausgelagert und dort offen vordiskutiert werden? Wie soll die Universität damit umgehen, um Reputation und wissenschaftliche Geltung angemessen zu vertreten? Gibt es eine historische Epochengerechtigkeit in der milderen Anwendung der Maßstäbe bei Schavan? Oder muss rigoros auf der Geltung elementarer Regeln bestanden werden? Wie vielfältig können damalige und heutige Strategien der wissenschaftlichen Textaufbereitung, der exakten Zitierweise und Darstellung und eigenständigen Weiterverarbeitung sein und verstanden werden – von der nüchternen Darlegung und Analyse theoretischer und experimenteller Sachverhalte über die diskursive Argumentation bis hin zum literarisch-philosophischen Essay? Wird der Vorwurf des angeblichen »Bauernopfers« (der nur teilweisen Preisgabe und korrespondierenden Verschleierung von als Eigenaussage ausgegebenen Zitaten und Quellen) bei Schavan dort überstrapaziert, wo sie deutlich im referierenden Ton, ohne Anspruch auf voreilige und übertriebene Eigenerkenntnis verbleibt?

Es geht um den Vorrang des Denkens und Nach-Denkens als Formen des kommunikativen und differenzierenden Verstehens

Es ist zukünftig für alle Hochschulen und Disziplinen von Interesse, ihren produktiven Zusammenhang, den fachlichen und interdisziplinären Dialog gerade als Form der mündlichen und schriftlichen Kommunikation genauer zu beleuchten – zwischen angemessener Rezeption, sinnvollem Verstehen und Weiterdenken (auch im Hinblick auf Wissensformate, Zitate, Kennzeichnungen, Anmerkungen, Fußnoten und Quellen) – als anerkennenswerte Konstruktion einer forscherischen Kontinuität und als Aufbau eines dialogischen Potenzials im Kontext relevanter Problemstellungen und weiterer Herausforderungen. Die Sensibilität für die Spannung von Fremdaussagen und Eigenaussagen, das Gespür für angemessene kommentierende Einschätzungen und Deutungen sowie weiter verarbeitender Argumentation und reflexiver Beurteilung müssen von Anfang an in Kursen, Seminaren, Vorlesungen, Beratungen und Betreuungen trainiert werden, der Diskurs wissenschaftlichen Studierens und Forschens in einem entschleunigten, sorgfältigen und formatbewussten Mediengebrauch vorangebracht werden, der sich nicht in bloßer Reproduktion, Paukwut, Karrieresucht und Stagnation erschöpft. Es geht um den Vorrang des Denkens und Nach-Denkens als Formen des kommunikativen und differenzierenden Verstehens, des gleichberechtigten Sich-Vergewisserns, Urteilens und Austauschens im realen und konstruierten Gespräch zwischen verschiedenen Positionen, Hypothesen und Gegenannahmen, um den offen zu haltenden Dialog zwischen These und Antithese, zwischen dem Selbst und dem Anderem. Gefordert ist eine Hermeneutik als dialogische Suche von Sinnfindung und Sinnkritik, als kommunikative Basis der reflexiven Autonomie aller wissenschaftlicher Forschung im Rahmen einer kooperativ-konkurrierenden Forschungsgemeinschaft. Studenten und Promovierende sind, genau wie etablierte Akademiker, weder Automaten noch Roboter, und sie sollten vielem misstrauen: der Übermacht der Tradition, aber auch ihren heutigen Apparaten, Suchmaschinen, Kopiergepflogenheiten, griffigen Formulierungen, und nicht zuletzt den Plagiat-Entlarvungs-Programmen. Wir leben derzeit in einer keineswegs gemütlichen Karaoke-Gesellschaft. Das rächt sich immer wieder bitter. Auf der Seite der Gejagten wie der Jäger. Dabei nimmt uns keiner das Denken und das Lesen und das Schreiben ab. Sapere aude. Die Gedanken sind frei, wir sind es aber nicht, wenn wir die Gedanken nicht mehr denken.
 

Dieses Foto ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland) lizenziert.
 


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