Home   Termine   Autoren   Literatur   Blutige Ernte   Quellen   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Sachbuch   Bilderbuch   Filme   Töne   Preisrätsel   

Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
Anzeige

Glanz&Elend
Die Zeitschrift kommt als
großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage
von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 

Bücher & Themen

Glanz & Elend empfiehlt:
50 Longseller mit Qualitätsgarantie

Jazz aus der Tube u.a. Sounds
Bücher, CDs, DVDs & Links



Seitwert


Aufstieg und Fall Jugoslawiens

Holm Sundhaussen ungewöhnliche Geschichte
des Gewöhnlichen »
Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011«

 

 Von Lothar Struck

Am Ende seines Buches über »Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011« knüpft Holm Sundhaussen, Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin und Co-Direktor des Berliner Kollegs für vergleichende Geschichte Europas, an seine Bemerkung vom Anfang an: Nicht »die Geschichte« ist es, die sich wiederholt. Der Mensch wiederholt sich. Dies sei die wichtigste Lehre, die die Geschichte für uns bereithält.

Tatsächlich möchte man sich nach 517 Seiten detaillierter, aber keinesfalls ermüdender Schilderungen über den zweiten jugoslawischen Staat und dessen Zerfall bis zur Jetztzeit diesem Urteil anschließen. Sundhaussen legt dar, wie eine unheilige Allianz aus geistigen Impulsgebern, großen Teilen der politischen Elite und ihren Multiplikatoren sowie Nationalisten aus der Ferne das Land zerstörten und ein geistige[s] Klima stifteten, in dem die Errichtung des Nationalstaats als Ende der Geschichte gedeutet und der Einsatz von Gewalt als Mittel zum Zweck »sakralisiert« wurde.  Dabei weist er darauf hin, dass die innerethnischen Beziehungen (etwa am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft) von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung Jugoslawiens noch bis Ende der 80er-Jahre als gut oder zumindest befriedigend und nur von einem kleinen Teil der Befragten als schlecht beurteilt wurden. Die immer wieder vorgebrachte Formel, Jugoslawien sei ein »künstlicher Staat« gewesen, nähert sich der Autor mit historischen Zuordnungen, die den Schluss nahelegen, dass etliche der Nachfolgestaaten Jugoslawiens mindestens ebenso »künstlich« sind. Irgendwann hatten die politischen und gesellschaftlichen »Eliten« Jugoslawiens kein Interesse mehr an diesem Land, so lautet kurz gefasst die These, die sich im Vergleich zum eher buchhalterisch klingenden Titel im nonchalanten Untertitel »Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen« andeutet.

Sundhaussen versucht die Falle zu vermeiden, die sich Historikern bei der Betrachtung Jugoslawiens unweigerlich stellt: Die Geschichte vom Ende her zu schreiben. Sowohl eine deterministische wie eine voluntaristische Sicht sei möglich, wobei er klarstellt, dass der Zerfall Jugoslawiens keine mehr oder minder geradlinige und zwangsläufige Entwicklung, sondern ein Ergebnis eines verschlungenen Prozesses gewesen sei. Dennoch kann auch er nicht widerstehen, einzelne Punkte herauszuarbeiten, die wesentlich waren.

Die Exzesse und Massaker der 1990er Jahre seien nicht typisch »serbisch« oder »balkanisch«. Wer glaubt, es handele sich um Formen eines uralten ethnischen Hasses, tappt in die Falle der Nationalisten, so Sundhaussen deutlich. Den Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse liefert nicht die Völkerpsychologie….sondern die Massenpsychologie. Es bedarf nur einer Gelegenheit - und der dünne Firnis (das, was wir Zivilisation nennen) weicht archaischen und kriegerischen Mustern. Diese These ist nicht neu; die neuere Gewaltforschung bestätigt, dass ein dauerhaftes Versagen bis hin zum Verschwinden von Institutionen nebst entsprechender Indoktrination aus jedem Menschen einen Mörder machen kann. Sundhaussen beschäftigt sich mit diesem Phänomen ausgiebig. Und er untersucht, ob die Verbrechen aufgearbeitet oder besser vergessen werden sollen. Schließlich entscheidet er sich für die Aufarbeitung und plädiert - bei allen Kritikpunkten - für das Kriegsverbrechertribunal (ICTY) in Den Haag, das er als unabhängiges Gericht bezeichnet.

Der nüchterne, rekapitulierende Ton des Historikers weicht auf den letzten 100 Seiten immer mehr dem des politischen Journalisten. Die Darstellungen der aktuellen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Zustände der Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Stand zumeist Frühjahr 2011) und dann auch noch die Aussicht auf die Zukunft der Länder wirken zuweilen aufgepfropft. Hier geht der Autor das Wagnis ein durch die laufenden Entwicklungen schnell überholt zu werden und das Buch ein bisschen zu entwerten. Dabei bergen Sundhaussens Prognosen am Ende kaum Überraschungen. Am besten schneidet Slowenien ab, gefolgt von Kroatien. Serbiens Entwicklung sieht er eng verknüpft mit der (sogenannten) Kosovo-Frage, d. h. der »Normalisierung« der Beziehungen. Dabei geht es ihm weniger um eine »offizielle« Position der Regierung, die das Land mittel- oder langfristig in die EU führen soll und dadurch praktisch die Billigung des Status quo verlangt. Wichtiger dürfte die Akzeptanz in der serbischen Bevölkerung in Bezug auf den südlichen Nachbarn sein. Schwierige Entwicklungen sieht er bei Bosnien-Herzegowina. Das internationale Semi-Protektorat steht praktisch am Rande des Scheiterns. Kaum besser steht es um  Mazedonien (Sundhaussen bevorzugt die Schreibweise Makedonien), einem höchst labilen Staat. Ein bisschen lustig macht er sich über den 625.000 Einwohner-Staat Montenegro und dessen fünf Amtssprachen (Montenegrinisch, Serbisch, Bosnisch, Kroatisch und Albanisch), die bis auf Albanisch schwer auseinanderzuhalten sind. Im Herbst 2010 wurde Montenegrinisch in den Schulen als Unterrichtsfach eingeführt, aber eine Grammatik gab es nicht. Weder Lehrer noch Schüler wussten und wissen, was richtig oder falsch ist. Bei aller Konfusion sind dies Probleme, von denen der Kosovo nur träumen kann; Sundhaussen zeichnet für diesen Staat eine eher düstere Zukunft.  

»Einheitsstaat mit föderativen Design«

Den stärksten Eindruck macht Sundhaussens Buch in der Schilderung der Entwicklung Jugoslawiens von 1943 bis zum Zusammenbruch. Dabei räumt er mit einigen allzu gerne gepflegten (Vor-)Urteilen auf. So erkennt er zwar die Leistung der Partisanen an, das Land weitgehend aus eigener Kraft befreit zu haben, lässt jedoch keine Partisanenverklärung zu, thematisiert ausgiebig den kommunistische[n] Vergeltungsterror (lässt aber auch die pragmatischen Gründe Großbritanniens für ein Nichteinschreiten beim sogenannten Bleiburg-Massaker nicht unerwähnt) und erklärt Titos Mythos der großen Zahl und den damit verbundenen sinn- und legitimitätsstiftende Wirkung des Krieges (es sollten möglichst viele Opfer sein). Der Leser erfährt über den Weg der inneren Konsolidierung Jugoslawiens (nebst den bereits damals virulenten Schwierigkeiten), den Problemen mit den Nachbarstaaten (insbesondere Österreich, Italien und Albanien), dem komplizierten Verhältnis zu Stalin und der UdSSR, Titos Expansionsideen (Konföderationen mit Albanien und später Bulgarien wurden abgeschlossen - und wieder beendet)  und den anfangs fragilen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland. Tatsächlich knüpften die Amerikaner im Kalten Krieg dahingehend Beziehungen zu Jugoslawien, um das Land als »abtrünnigen« Staat aus dem Ostblock herauszutrennen. Um nicht zwischen den Blöcken aufgerieben zu werden, gilt Tito als Mitbegründer der sogenannten »Blockfreien«. Sundhaussen zeichnet en passant ein ernüchterndes Bild dieser Bewegung, die ihre Funktion Ende der 1980er Jahre mit dem Fall der Mauer schon längst verloren hatte.

Von Anfang an geht es um die Konstituierung des Vielvölkerstaates. Historische Gründe sprachen dafür, eine wie auch immer geartete »jugoslawische Identität« nicht aufkommen zu lassen. Diese galt sogar offiziell verpönt. Jugoslawien im Sinne Titos sollte nie als ethnische Nation verstanden werden. Wenn man so will, kann man hierin durchaus einen Keim für die später aufkommenden exzessiven Nationalismen der Teilrepubliken entdecken. Aber die Ablehnung eines ethnischen Jugoslawien wurde aus der Geschichte heraus dekretiert. Zu dominant traten in den 1930er und 40er-Jahren die Nationalismen zu Tage; das erste Jugoslawien hatte es nie geschafft, identitätsstiftend zu sein. So etablierte man einen Einheitsstaat mit einem föderativem Design, der aus sechs Republiken (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien) und zwei autonomen Gebieten bestand (Vojvodina und Kosovo in Serbien). Letztere sollten keine «Staatsvölker« werden, da es ihre entsprechenden Länder (Ungarn und Albanien) bereits gab. Einen gewissen Sonderstatus hatte von Anfang an Bosnien-Herzegowina: Im Gegensatz zu den anderen Republiken repräsentierte sie keine »jugoslawische Nation«, denn eine bosnische Nation gab es nicht. So galt Bosnien-Herzegowina als serbisch-kroatische Republik, als Republik zweier Staatsvölker und mit drei Glaubensbekenntnissen. Sundhaussen zeigt sehr plastisch, welche Probleme in Jugoslawien mit der Bezeichnung »Muslim« jenseits eines reinen Religionsverständnisses verbunden waren; in allen Volkszählungen wurde der Begriff jedes Mal anders gefasst und gedeutet. In der Implementierung des »kleinen Jugoslawien« wie man Bosnien-Herzegowina auch nannte, erkennt man bereits Probleme, die Jahrzehnte später eskalieren sollten.

Tito bemühte sich von Beginn an innere Widerstände (aus den Republiken) gegen den jugoslawischen Bundesstaat zu antizipieren und auszuschalten. Dies wurde, wie Sundhaussen ausführt, auf zwei Wegen vorgenommen: mit Autorität (titoistische[r] Paternalismus) und mit einem geradezu akribisch gepflegten Proporzsystem, der sich in immer komplizierteren und ausgewogeneren Verordnungen ausdrückte. Die Verfassung von 1974, die den Republikenproporz noch stärker zu Lasten des Bundes festschrieb, war die umfangreichste Verfassung der Welt. Parallel mussten die starken Differenzen in den regionalen Lebensverhältnissen angegangen werden. Obwohl der Bildungs- und Industrialiserungsgrad sukzessive stetig zunahm, gelang eine Angleichung zwischen WER (»weniger entwickelten Regionen«) und MER (»mehr entwickelten Regionen«) eigentlich nie; die Unterschiede beispielsweise zwischen Slowenien und dem Kosovo blieben immer konstant, ja, vergrößerten sich sogar noch.  

Die kleinen und großen Krisen Jugoslawiens

Detailliert aber nicht überbordend erläutert Sundhaussen die diversen kleinen und großen Krisen Jugoslawiens. Gerade hier liegt die Verführung, den späteren Zusammenbruch vorwegzunehmen, was jedoch unterbleibt. Das geht von der Sprachenkrise 1967, dem »Baggerführerstreit« im Kosovo 1968, dem »kroatischen Frühling« 1971, der ideologischen Offensive der Bundeskommunisten 1974 mit der Folge der neuen Verfassung bis hin zu den Ideen des »Selbstverwaltungspluralismus« 1978. 1979 starb Titos engster Vertrauter Edvard Kardelij. Die größte Zäsur war dann Titos Tod ein Jahr später. Der befürchtete Zerfall Jugoslawiens blieb zwar aus, aber es geschah, wie Sundhaussen durchaus sarkastisch anmerkt, nichts. Beziehungsweise: Andererseits blockierten sich Reformer und Dogmatiker sowie die acht Oligarchen der Republiken und Autonomen Provinzen wechselseitig, sodass ungeachtet des enormen Handlungsbedarfs jahrelang nichts geschah, was Jugoslawien hätte zukunftsfähig machen können. Ausgiebig referiert der Autor über die schlechte ökonomische Situation - die überbordenden Staatschulden und das chronische Außenhandelsbilanzdefizit. Das ist insofern interessant, weil Sundhaussen später wirtschaftliche Gründe für den Zerfall Jugoslawiens fast ein wenig herunterspielt. Auf die Einlassungen Chossudovskys, der in den Maßnahmen des Internationalen Währungsfonds Ende der 1980er Jahre einer der Hauptgründe für den Zusammenbruch sieht, reagiert Sundhaussen scharf. Zwar ist dessen Schlussfolgerung, Jugoslawien sei durch ein IWF-Diktat als unliebsames Staatsgebilde sozusagen vorsätzlich abgewickelt worden, wohl tatsächlich eher eine Verschwörungstheorie. Dennoch wischt Sundhaussen die ökonomischen Implikationen zu leicht vom Tisch: sie boten den Nationalisten auf allen Seiten willkommene Nahrung für die Separierung.

Neben den enormen wirtschaftlichen Problemen brodelte es auch in diversen Regionen. 1981 begannen Studentenaufstände gegen die serbische Nomenklatura im Kosovo, die im späteren Verlauf insbesondere bei vielen serbischen Intellektuellen Nationalismen aufkommen ließen.1986 wurde das sogenannte »SANU-Memorandum« veröffentlicht, in dem serbische Intellektuelle offensiv und aggressiv eine Benachteiligung der Serben in Kroatien und vor allem im Kosovo ausgemacht wurde. Bereits in den 1970er Jahren verfasste Alija Izetbegović, der spätere bosnische Präsident, seine »Islamische Deklaration«, die über den Umweg über arabische Staaten nach Jugoslawien durchsickerte. Hierfür wurde er 1983/84 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Text der Deklaration wurde offiziell erst 1990 in englisch und serbokroatisch publiziert. Wenn Sundhaussen darauf hinweist, dass Izetbegović in seinem Text keineswegs die Moderne in toto ablehnt, sondern eher gewisse Vorbehalte westlicher Modelle in einer islamischen Gesellschaft hegt, spricht er aus der Kenntnis dieser Version des Textes. Tatsächlich kann man Izetbegović nicht Etikett »islamistisch« ankleben und ihm zum Gotteskrieger erklären.  

Die willigen Vollstrecker des Untergangs

1987 trat der serbische KP-Funktionär Slobodan Milošević in Erscheinung. Es überrascht schon, wenn Milošević zunächst als ein eher blasse[r] Funktionär dargestellt wird, der sich geschickt seinem politischen Ziehvater Ivan Stambolić anpasste, der 1984 Vorsitzender des Bundes der Kommunisten Serbiens wurde und den damals weithin unbekannten Milošević 1986 bei der Wahl als sein Nachfolger erfolgreich unterstützte (Stambolić wurde 2000 unter mysteriösen Umständen ermordet, wovon Sundhaussen im Buch nichts erwähnt). Miloševićs Ziel bestand darin, den Einfluss Serbiens innerhalb des Bundes zu erhöhen. Hierfür startete er seine »antibürokratische Revolution«, die geschickt mediale Indoktrination mit initiiertem Massenprotest und Machtpolitik kombinierte. Sundhaussen schildert die angewandten Verfahren sehr deutlich: Am Ende wurde mit einem Verfassungscoup die Autonomie der Vojvodina und des Kosovo, die 1974 ihr Maximum erreichte und beiden eine Stimme im Bundesverband zuwies, ausgehebelt werden. Serbien hatte nun drei der acht Stimmen in den Bundesorganen und da man mit Montenegro eng kooperierte reichte es zum Patt. Ohne Zustimmung Miloševićs war somit das Staatspräsidium bei kontroversen Entscheidungen mit vier gegen vier Stimmen handlungsunfähig, aber auch Milošević benötigte mindestens eine Stimme aus dem nichtserbischen Lager, um Beschlüsse in seinem Sinne durchzusetzen. Sundhaussen bilanziert nachträglich, dass der Zerfall der sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien durch dieses Ereignis ausgelöst (wenn auch nicht verursacht) wurde, in dem die damalige serbische Führung unter Milošević die innere Machtbalance, auf der die jugoslawische Föderation seit Ende der 1960er-Jahre basiert hatte, zerstörte.

Obwohl Sundhaussen deutliche Worte für diesen Coup findet, stellt er Milošević nicht als das alleinige personifizierte Böse dar. Selbst der schwerwiegende Eingriff in die Balance des fragilen Jugoslawien hätte nicht in die Katastrophen führen müssen. Und Sundhaussen beteiligt sich weder an küchenpsychologischen Deutungen hinsichtlich des Einflusses des frühen Freitods von Miloševićs Eltern auf dessen Persönlichkeit noch sieht er in ihm von Anfang an einen heißblütigen Nationalisten. Die Wende wird als eine Art Initiation bei einem Besuch am 24. April 1987 in Priština beschreiben. Milošević versuchte mit den kommunistischen albanischen Führern die explosive Lage im Kosovo zu beraten und zwischen der aufgebrachten serbischen Bevölkerung und der albanischen Parteiführung zu vermitteln. Mehr als 15.000 Serben und Montenegriner versammelten sich vor dem Verhandlungsgebäude; die Atmosphäre war aufgeheizt; es flogen Steine. Die Polizei unter Führung ihrer zumeist albanischen Offiziere ging brutal gegen die Demonstranten vor. Als Milošević über die Ereignisse vor dem Gebäude Kenntnis erhielt, trat er vor die aufgebrachte Menge, die ihm zurief »sie prügeln uns, sie prügeln uns«. Nach Augenzeugenberichten sei Milošević bleich gewesen und habe am ganzen Körper gezittert. Dann sprach er jenen Satz aus, der ihn schnell in ganz Jugoslawien und darüber hinaus bekannt machen sollte: »Niemand darf euch schlagen«.

Gleichwohl fächert Sundhaussen die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten dieses Vorgangs auf. Ist Milošević nur auf einen Zug aufgesprungen? War er von der Wirkung dieses Satzes bei denjenigen, denen es um die »serbische Sache« ging selbst…überrascht? Die allseits als chauvinistisch und hetzerisch betrachtete Amselfeld-Rede Miloševićs zwei Jahre später ordnet er weit tiefer ein und präsentiert eine eigene Übersetzung im Buch. Er widerspricht ausdrücklich der FAZ, die in einer Übersetzung von 1999 dieses Urteil fällte, freilich um am Ende süffisant hinzu zu fügen: Die Hetze überließ er anderen.. Schließlich attestiert Sundhaussen Milošević einen veritablen Machtinstinkt ohne besonderen ideologischen Überbau dafür jedoch mit einem gerüttelt Maß an Gefühlsarmut. Für dieses machtstrategische Denken spricht auch die relativ frühe Distanzierung Miloševićs im Sommer 1994 von den bosnischen Serben (Holbrooke zitiert Milošević, der diese als »Idioten« beschimpft).

Aber auch andere Protagonisten des zerfallenden Jugoslawien kommen bei ihm nicht gut weg. Die slowenischen Intellektuellen etwa, die durchaus Verständnis für den serbischen Nationalismus hatten (der dem ihren ja durchaus ähnelte) und stattdessen gegen den jugoslawischen Unitarismus/Zentralismus wetterten, den sie als existenzielle Bedrohung empfanden. Oder den großkroatischen Nationalisten und späteren Präsidenten Franjo Tudjman, der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort, der mit seiner HDZ massiv zur Eskalation der nationalen Spannungen beitrug (etwa in dem sie zu Beginn der 1990er Jahre in einer neuen Verfassung die Serben in Kroatien praktisch zu Staatsbürgern zweiter Klasse erklärten) und seine Person einem bizarren, an Tito erinnernden Personenkult unterzog. Mit Unverständnis begegnet Sundhaussen auch dem bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović, der im Sommer 1991 einen bereits ausgehandelten Vertrag mit den bosnischen Serben nach Rückkehr von einer USA-Reise nicht mehr unterzeichnete – obwohl er dies zugesagt hatte. Die Gründe für den Gesinnungswandel lässt er offen, deutet jedoch an, dass Izetbegović womöglich auf eine engere Allianz mit den USA gesetzt hatte. (Interessant am Rande, dass Sundhaussens eher vorsichtige Charakterisierungen der einzelnen an den Bosnien-Kriegen beteiligten Protagonisten durchaus mit Holbrookes zum Teil drastischen Beschreibungen in seinem Buch «Meine Mission« korrespondieren.)

Als im Juli 1990 die slowenischen Delegierten die BdKJ verließen, war der Zerfall nur noch eine Frage der Zeit. Die Serben unter Milošević hatten jetzt plötzlich vier von sieben Stimmen. Dies war für die Kroaten inakzeptabel – und willkommener Anlass. Danach fanden in wenigen Monaten Wahlen in allen Republiken statt. Diese wurden ausnahmslos von den nationalistischen Kräften wenn nicht gewonnen, so doch mindestens dominiert. Eine Wahl fand jedoch nicht mehr statt: Die zum Bundesparlament. Diese waren an den Gegensätzen zwischen der slowenischen und serbischen Delegation im Bundesparlament gescheitert; man fand keinen Konsens über einen Proporz mehr. Dies war das sichere Indiz für den – von allen Seiten vorsätzlich betriebenen - Zerfall.

Erstaunlich, wie sich Sundhaussen sich in diesem Buch gegen den Fatalismus  der Unausweichlichkeit stemmt. Immer schien es irgendwie möglich, größeres Blutvergießen zu vermeiden. Das beginnt bereits mit Miloševićs Verfassungsmanipulation, die, so die These des Autors, keinesfalls notwendig zu dem führte, was dann geschah. Und hätte Izetbegović 1991 die am Ende wund 100.000 Toten im Bosnienkrieg durch Zugeständnisse verhindern können? Immer und zu (fast) jeder Zeit gab es Alternativen. Entscheidend war dann, dass maßgebende Figuren diese Alternativen nicht wollten. So divergierend die Interessen zum Teil auch waren und so groß der Hass sich auch hochschaukelte - in einem Punkt waren sich Intellektuelle und Politiker über alle Republik- und Konfessionsgrenzen hinweg einig: Sie wollten dieses Jugoslawien nicht mehr.

Religions- aber keine Glaubenskriege?

Der Autor widmet sich den einzelnen Kriegen und deren Verstrickungen und Verwicklungen durchaus profund, geht aber nur selten bei Bedarf in Details. Dabei versucht er so gut es geht neutral zu bleiben und prangert die Ränke, falschen Allianzen und verübten (Kriegs-)Verbrechen auf allen Seiten an. Singulär ist natürlich der Völkermord in Srebrenica, wobei Schuldzuweisungen (etwa an den Oberkommandierenden der UNPROFOR-Truppen Janvier, der die NATO-Bombardements stoppen ließ oder an den Kommandierenden der niederländischen Schutztruppe Karremans) unterbleiben.

Sundhaussen rubriziert die Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina als ethnische Kriege. Die von allen Konfliktparteien vorgenommenen ethnischen Säuberungen waren nicht Begleiterscheinung, sondern Ziel der Kriege und standen in der Tradition einer jahrzehntelang von der internationalen Gemeinschaft akzeptierten Strategie zur »Lösung« zwischenstaatlicher Konflikte. Eine Schlüsselrolle kam den paramilitärischen Banden zu, die im Auftrag oder mit Duldung der jeweiligen Führungen agierten. Den Hass  als singuläre Erklärung lässt Sundhaussen - wie oben angedeutet - nicht gelten. Hinzu gekommen seien Überlebensstrategien, das Ausleben von Gewaltfantasien, Bereicherung/Plünderung.

Da die Religionszugehörigkeit bei allen drei Konfliktparteien als konstitutives Merkmal der »nationalen Identität« gilt […], hatten die Kriege auch den Charakter von Religionskriegen. Aber nicht von Glaubenskriegen (denn der Glaube spielte nur eine nachgeordnete oder gar keine Rolle). Religionen hätten, so wird der Religionssoziologe Ivan Cvitković zitiert, zwar nicht den Grund, aber durchaus »Vorwand und Kontext für den Krieg« geliefert. Es überrascht, wie Sundhaussen auf diesem Punkt, den man durchaus anders sehen kann (wie beispielsweise Olivier Roy), beharrt.

Das Zögern der Nachbarn

So milde Sundhaussen mit den europäischen Soldaten und Truppen vor Ort verfährt (die sich häufig machtlos fühlten und sogar als lebende Schutzschilde herhalten mussten), so vehement fällt seine Kritik an die europäische (und auch amerikanische) Politik und ihre vermeintliche Passivität aus, die womöglich durch das jahrelange Training im »Nichteinmischen in fremde Angelegenheiten« geprägt war. Viel zu lange verharmlosten sie die Probleme und wollten sich aus den sich anbahnenden Konflikten heraushalten, deren Dimensionen sie nicht sahen. Daher ist beispielsweise der Kommentar zum Alleingang Genschers in der Anerkennungsfrage von Slowenien und Kroatiens bei aller Verblüffung stringent. Nicht den Vorgang selber wird kritisiert, sondern der gewählte Zeitpunkt. Die Anerkennung hätte sehr viel früher erfolgen müssen. Sie kam nicht zu früh, sondern zu spät, zumal der Krieg in Kroatien schon längst begonnen hatte. Mit dem einseitigen Vorpreschen entgegen der Absprachen  – womöglich auf Druck der Medien und seitens der kroatischen Lobby in Deutschland (dessen Sprachrohr in Person des FAZ-Herausgebers Reißmüller nennt Sundhaussen nicht) - brüskierte man die europäischen Partner unnötig, trug nichts zur Deeskalation bei und weckte Erinnerungen an unheilvolle Allianzen in der Geschichte (Kroatien war ein Vasallenstaat von Nazi-Deutschland). Die wahren Fehler waren, so die These, durch die verhaltene Haltung vorher begangen worden. Tatsächlich kann man in der unentschlossenen Haltung zwischen vordergründiger Erhaltung Jugoslawiens einerseits und einem vorauseilenden Nachgeben der sezessionistischen Kräfte andererseits eine entscheidende Schwäche erkennen. Man möchte erwidern, dass es eben gerade deshalb notwendig gewesen wäre im Vorfeld unmissverständlich die sonst so gebetsmühlenartig beschworene »territoriale Integrität« eines Staates festzuschreiben. Diese eindeutige Position war jedoch bereits durch die Beauftragung der Badinter-Kommission durch die EG, die vor einer Anerkennung bestimmten Kriterien festgestellt haben wollte, aufgegeben worden. Es kann nicht ernsthaft angezweifelt werden, dass die EG durch die Perspektive einer Anerkennungspolitik die Sezessionen Kroatiens und später auch Bosnien-Herzegowinas beförderte. Immer wieder wird Sundhaussen die eher zögerlichen Bemühungen der EG und auch der Amerikaner in Bezug auf Friedensgespräche kritisieren, um dann Holbrookes Verhandlungsmethode zur Bosnien-Befriedung (Luftschläge gegen die bosnischen Serben und Verhandlungen gleichzeitig) als zielführend darzustellen. Dabei unterlässt er zu erwähnen, wie Holbrooke parallel dazu Tudjman und die kroatisch-muslimische Föderation bis zum letzten Tag des bereits ausgehandelten Waffenstillstands ermunterte, Gebietseroberungen gegen die bosnischen Serben auf dem Schlachtfeld vorzunehmen, die dann später als Verhandlungsgegenstand dienen könnten.   

Sundhaussen hebt hervor, wie der Friedensschluss von Dayton 1995 als Kehrtwende in der völkerrechtlichen Aufarbeitung von Kriegen gesehen werden muss. Zum einen wurde peinlich genau die Republikgrenzen des (nun ehemaligen) Jugoslawien unangetastet gelassen (es gelten die zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit bestehenden administrativen Grenzen). Das war insbesondere für den neu entstehenden Staat Bosnien-Herzegowina von wesentlicher Bedeutung, um den Gelüsten von Milošević und Tudjman nach einer Aufteilung zwischen Serbien und Kroatien (unter Umständen mit einem kleinen Rumpfstaat für die Bosniaken) vorzubeugen (sollte sich dann jedoch später bei der Behandlung des Kosovo-Problems als hinderlich herausstellen). Zum zweiten sollten die (von allen Seiten) vorgenommenen ethnischen Säuberungen nicht legitimiert und durch weitere Zwangsumsiedlungen nachträglich noch fortgesetzt werden. Stattdessen wurde das Rückkehrrecht der Flüchtlinge und Vertriebenen sowie die Restitution ihres Eigentums vertraglich verankert. Dies stellte ein Novum und eine gewaltige Herausforderung dar. Am Ende wird Sundhaussen das Resultat als durchaus gelungen bezeichnen: Von den rd. zwei Millionen Flüchtlingen in Bosnien-Herzegowina sind ca. eine Million zurückgekehrt. Berücksichtigt man die zum Teil brutalen Vertreibungen und die Tatsache, dass etliche Flüchtlinge inzwischen dauerhaft in Westeuropa leben, kann man wohl von einem Erfolg sprechen (vor allem, wenn man die Vorgänge in Kroatien und dem Kosovo [was die Serben betrifft] als Vergleich heranzieht).

Die Rolle der Medien oder: Kann ein gestelltes Bild »richtig« sein?

Die Mehrheit der Bevölkerung sei den von Kriegen überrascht worden, so Sundhaussen. Die Hintergründe hätten viele nicht verstanden. Die »Erklärungen« lieferten nationalistische Akteure und Medien. Auf diesen Punkt weist er zwar immer wieder sporadisch hin (nennt Journalisten Anpeitscher), widmet sich dem aber nicht genauer. Wenn Medien hier etwas vorbereitet haben - wie konnte es dann zu einer Überraschung kommen? Hier hätte man mehr über die Rolle der innerjugoslawischen Massenmedien erfahren (über die Schriften der Intellektuellen wird intensiver  berichtet). Auch mit den medialen Außendarstellungen des Krieges beschäftigt sich Sundhaussen leider nur auf zweieinhalb Seiten. Es waren vor allem drei mediale Ereignisse, die das Geschehen in den Fokus der Wahrnehmung rückten: ein Foto, ein Bericht und ein Buch. Das Buch ist Roy Gutmans »A Witness to Genocide« von 1993, welches mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde (in Deutschland jedoch keine Rolle spielte). Mit Bericht meint Sundhaussen die 18 Berichte des UN-Beauftragten für Menschenrechte im ehemaligen Jugoslawien Tadeuz Mazowiecki (leider funktionieren - wie häufig in diesem Buch - die gesetzten Internet-Links nicht, so dass man die Berichte nicht nachschlagen kann). Es wäre interessant gewesen, inwiefern beide (Buch und die Berichte) die deutsche Berichterstattung prägten. Tatsächlich unterbleibt eine Untersuchung der Berichterstattung in den deutschen Medien (sowohl Fernsehen als auch »FAZ« und »Spiegel«). Dabei hätte man Sundhaussens Seitenhiebe auf die kroatische Lobby gerne aus fachlicher Sicht beleuchtet gesehen.

Einen ungleich höheren Bekanntheitsgrad als die zitierten schriftlichen Werke hat das Bild, auf das sich Sundhaussen bezieht. Es ist das Symbolbild für serbische Greuel. Am 5. August1992 veröffentlichte die britische Fernsehagentur Independent Television News (ITN) das Foto des halb verhungerten Bosniaken Fikret Alić aus dem serbischen Internierungslager Trnopolje. Sundhaussen weist auf die Suggestivkraft dieses Bildes hin, das Erinnerungen an die nationalsozialistischen Lager evozierte und evozieren sollte, denn das Beiwort »Konzentrationslager« wurde sofort verwendet. Dass es sich bei dem Bild wenn nicht um eine Fälschung, so doch um eine Falschinformation handelt, erwähnt Sundhaussen zwar, um dann jedoch zu konstatieren dass die darin enthaltene Botschaft zutreffend war. Den Journalisten Thomas Deichmann, der feststellte, dass nicht die vermeindlichen Häftlinge eingezäunt waren, sondern die Journalisten an einem Zaun gestanden hatten, greift er frontal an. Deichmann habe keine zweifelsfreien Belege für seinen Fälschungsvorwurf  beigebracht, was sich - so suggeriert Sundhaussen - im Urteil des Londoner High-Court gegen das britische Magazin »Living Marxism« (LM), welches die Fälschungsvorwürfe publik machte zeige (man wurde zu 375.000 Pfund Schadenersatz wegen Verleumdung verurteilt). Deichmann teilt mir auf meine Rückfrage hierzu mit: »Selbst der High Court in London hat bestätigt, dass die Journalisten hinter dem Stacheldraht waren... Im Prozessurteil ging es aber nicht darum, sondern um die Frage, ob die Journalisten ABSICHTLICH eine Täuschung fabriziert hatten. Das hätten wir als Angeklagte - Dank der englischen Libel Laws - beweisen müssen, was nicht funktionieren konnte, denn zu entscheidenden Fragen konnten sich die ITN Kollegen nicht mehr erinnern und das entscheidende Videoband konnte im ITN Archiv leider nicht gefunden werden.« (Eine Dokumentation - freilich aus seiner Sicht - findet sich hier.)

Tatsache ist, dass es Internierungs- und/oder Gefangenenlager im ehemaligen Jugoslawien gab. Tatsache ist weiterhin, dass es das Lager Trnopolje gab. Und Tatsache ist auch, dass die Bedingungen in diesen Lager schrecklich gewesen sein müssen. Das Bild transportiert jedoch mehr als nur diese Botschaft. Schon durch die Überschrift »Belsen 92«, mit der das Bild zuerst im »Daily Mirror« erschien, wurde aus einem Internierungslager ein Konzentrationslager - mit all den Assoziationen. Vollkommen richtig merkt Sundhaussen in einer Fußnote an: Wenn Deichmann von »Fälschung« spricht, so hat er nicht nur das Bild selbst, sondern auch die darin enthaltene Botschaft im Visier. Dies seien zwei unterschiedliche Dinge. Auch hier stimmt man noch überein. Die Botschaft in diesem Fall lautet: Hier bahnt sich eine Katastrophe wie im Nationalsozialismus an. Später wird Sundhaussen im Bezug auf die von deutschen Politikern verwendeten Auschwitz-Metaphern zur Rechtfertigung des Jugoslawien/Kosovo-Krieges 1999 entsprechend kritisieren (törichte Vergleiche). Hier ist seine Sicht eine andere: Eine Botschaft kann richtig sein, selbst wenn das Bild, das sie vermittelt, gestellt ist. Dies ist eine höchst ambivalente Aussage, die am Ende Fälschungen jeglicher Art für ein wie auch immer definiertes Ziel legitimiert. Vor allem: Wenn Fälschungen gestattet sind, ist nachträglich nicht mehr festzustellen, ob die Fälschungen der Sache angemessen waren. Jeglichem Geschichtsrevisionismus wäre damit Tür und Tor geöffnet Diese hemdsärmelige Sicht zeigt sich nochmals in der Nachbetrachtung um den sogenannten »Hufeisenplan« der Serben im Kosovo, der sich als plumpe Propagandalüge herausstellte. Sundhaussen konstatiert einfach, dass, auch wenn es den Hufeisenplan nicht gab, das Vorgehen der jugoslawischen Armee und der Polizeieinheiten des Innenministeriums einem einheitlichen Schema (mit oder ohne detaillierten Plan) folgte. Dazu passt, dass im Buch nur auf einer halben Seite die Verstrickungen amerikanischer PR-Agenturen behandelt werden (und hier ausschließlich »Ruder & Finn«).

Problemland Kosovo

Überraschend kurz behandelt Sundhaussen auf 15 Seiten den sogenannten Kosovokrieg der NATO 1999. Die Entwicklung vom eigentlich eher friedlichen Widerstand Rugovas hin zum bewaffneten Widerstand der UÇK, die schließlich sogar hoffähig wird, erfolgt leider etwas kurz. Sundhaussen sieht hier durchaus auch beide Seiten (Serben und Albaner) in der Verantwortung. Auch hier ist er um Neutralität in der Darstellung bemüht, was jedoch manchmal (und nicht nur in diesem Abschnitt) zu einer gewissen Indifferenz führt. So beispielsweise die Frage, ob den Serben bei den Verhandlungen von Rambouillet der berühmt-berüchtigte Annex B des Abkommens, der unter anderem eine vollständige Bewegungsfreiheit von NATO-Truppen auf dem Gebiet Jugoslawiens (Serbien und Montenegro) vorsah, zuzumuten war oder nicht. War es eine Provokation des Westens wie Henry Kissinger sich ausdrückte? Oder war es ein Vorwand der Serben? Sundhaussen schreibt hierzu eher phlegmatisch: Die Meinungen darüber gehen bis heute auseinander. Das mag ja durchaus sein, aber ein solches Buch ist doch - wie an so vielen anderen Stellen eindrucksvoll bewiesen wird - mehr als nur die Abbildung von Meinungen.

Welchen symbolischen Wert das Kosovo für die serbische Seite hatte (und heute noch hat), wird vielfach im Buch angesprochen und analysiert. Dass diese mythischen Überhöhungen häufig überzogen und nationalistisch aufgeladen wurden - hieran lässt Sundhaussen keinen Zweifel und belegt dies auch. Aber mit der albanischen Seite mag sich Sundhaussen ebenfalls nicht anfreunden. Sobald sie das serbische Machtmonopol gebrochen war, kam es zu Exzessen der Albaner an den Serben bis hin zu den pogromartigen Ausschreitungen 2004. Insgesamt sieht Sundhaussen die UÇK und ihr Transformationsprozess in den 2000er Jahren bis heute sehr kritisch. Flankiert wird diese ambivalente Situation mit einem labilen, völkerrechtlichen Zustand, der die Probleme nur aufschiebt, aber nicht löst.

Bezüglich der Opferzahlen ist auch Sundhaussen auf vorläufige Schätzungen, u. a. von Demographen bei ICTY, angewiesen. Demnach kann man von rd. 200.000 Toten sprechen, alleine 100.000 in den Bosnienkriegen. Rechnet man alle Bevölkerungsgruppen, die unmittelbar von den beiden Kriegsperioden betroffen wurden (die Kriegstoten, die Flüchtlinge und Vertriebenen, die Lagerinsassen, die Kriegsinvaliden, die Kriegswaisen, die überlebenden Soldaten usw.), zusammen, so kommt man vermutlich auf eine Zahl von 5-6 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 22,4 Millionen 1981). 

Mehr als nur eine Einführung

Nicht nur bei der Frage der Opfer steuert der Autor einen umfassenden Quellenapparat bei, berücksichtigt vor allem lokale Literatur (von allen Seiten) und kann damit oft genug auch den sich gut informiert wähnenden Zeitungsleser überraschen. Alleine diese multiperspektivische Sicht (die auch vor Widersprüchen nicht Halt macht und Sundhaussen gelegentlich offen erklären lässt, etwas nicht abschließend beurteilen zu können), macht das Buch sehr lesenswert. Sehr interessant sind die gelegentlichen Anspielungen und Vergleiche zwischen dem Bundesstaat Jugoslawien der 80er Jahre und der damaligen EG. Zwar ist es evident, dass Jugoslawien deutlich mehr als heutige EU war. Aber die Parallelen (Proporz; Verfassungsbürokratie; Republik- bzw. Nationaldenken) sind frappierend. Noch anregender ist der nur behutsam angedeutete Vergleich zwischen dem damaligen Jugoslawien und dem heutigen Belgien. Hier kommt man durchaus ins Nachdenken.

Es gibt auch einige etwas kauzige Sentenzen, etwa wenn die Gleichberechtigung im Jugoslawien der 1970er Jahre ein bisschen despektierlich mit der Formulierung Anfang der 70er Jahre wurde den Frauen sogar - nach leidenschaftlichen Diskussionen in der Öffentlichkeit - das Fußballspeilen »erlaubt« behandelt wird - und dabei in Vergessenheit gerät, dass der DFB in Deutschland das Frauenfußballverbot auch erst am 31. Oktober 1970 aufhob. Oder wenn der (bosnische) Film »No Man's Land« von Danis Tanović als preisgekrönt gepriesen, »Underground« des serbischen Regisseurs Emir Kusturica jedoch nur als heftig umstritten bezeichnet wird (»Underground« hatte mit der »Goldenen Palme« von Cannes 1995 auch einen Preis erhalten). Dies alles trübt jedoch den positiven Gesamteindruck nicht. Die These der mutwilligen Zerstörung des ungeliebten Jugoslawiens durch die politischen und intellektuellen Eliten der jugoslawischen Völker unterlegt Sundhaussen mit konzisen Darstellungen der politischen, ökonomischen, intellektuellen und medialen Verwerfungen. Der ein oder andere Kritikpunkt wurde von mir vorgebracht. Trotz allem ist dieses Buch mehr als nur eine vorzügliche Einführung und lädt zum weiteren Studium der Materie ein. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 












Holm Sundhaussen

Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011

Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen
böhlau
2012, 567 S.
40 s/w-Abb., 11 Tabellen, 1 Karte
24 x 17 cm, Gb.
Preis: € 59.00

978-3-205-78831-7
 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik

Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste