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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik |
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Die
Flucht mitten in das Problem hinein Hartmut Hainbach ist Professor für Sprachphilosophie in Bonn, Ende 50, hat eine jüngere Frau (Maria; sie kommt aus Portugal), die seit einigen Jahren an einem Theater in Berlin arbeitet und eine 20jährige Tochter (Philippa), die in Spanien in einer Wohngemeinschaft lebt. Hainbach überkommt zu Beginn des Buches "Fliehkräfte" von Stephan Thome eine veritable Lebenskrise, die sich zum einen durch ein immer stärker werdendes Ohrgeräusch und zum anderen durch eine Gelegenheit zum Ausbruch aus dem bisherigen Beruf zeigt. Er erhält das Angebot in einem kleinen Wissenschaftsverlag in Berlin mitzuarbeiten. Das Problem der Pendel-Ehe (nebst zermürbender[r] Vieldeutigkeit von Gesprächen, die eine eheliche Harmonie immer öfter auf die Probe stellen) könnte man damit lösen, wenngleich ihm sofort Zweifel an der Seriosität der Offerte kommen, denn der Verlagsinhaber verehrt Maria. Reizvoll scheint ihm dieser Ausbruch dennoch, denn längst ist der einstige Bildungshunger des Autodidakten im institutionalisierten Universitätsbetrieb routinierter Saturiertheit gewichen, aber andererseits müsste der ordentliche Professor auf seine privilegierte Position verzichten und größere Einschnitte in der fest eingeplanten Pension hinnehmen. Welcher desillusionierter End-50er stellt sich dann nicht die Frage, noch ein paar Jahre durchzuhalten, statt sich des Risikos eines unsicheren Neuanfangs auszusetzen? Oder wagt Hainbach sogar seine Frau zu verlassen, die sich ohnehin mehr für ihre schlecht bezahlte Teilzeitstelle an der großen Bühne als für ihn zu interessieren scheint?
Diese Gedanken behält
Hainbach zunächst einmal für sich, was den Leser aufgrund des personalen
Erzählens für eine kurze Zeit in eine Voyeurposition bringt. Der verunglückte
One-Night-Stand mit Frau Müller-Graf veranlasst Thomes Held die Ferien zu nutzen
und entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten spontan aufzubrechen, und zwar in
Richtung Vergangenheit und Sinnsuche. Zunächst geht es in die 70er Jahre und die
Studienfreundin und Geliebte aus amerikanischen Zeiten Sandrine (womöglich
Hainbachs "Lebensmensch"), die inzwischen in Paris lebt wird besucht. Es wird
Vergangenes evoziert, bestätigt und/oder verworfen, schüchtern Geständnisse
ausgebreitet und Eventualitäten durchgespielt. Für einen Moment kommt Hainbach,
der sich selbst eine mangelnde Begabung zur Unbeschwertheit attestiert,
zur Ruhe, weil trotz einiger großzügiger zeitlicher Lücken in der
Kontaktaufnahme mit den Jahrzehnten der Liebe so etwas wie Freundschaft hinzu
gekommen ist. Dieses ruhige, retrospektive Erzählen und Wieder-Erzählen in
Sandrines kleiner Wohnung, die ihren Schlaganfall in verblüffender Manier und
neuer Stärke überstanden hat, zählt zu den Höhepunkten dieses Buches und die
Abschiedsszene gelingt als Mischung aus Lakonie und Melancholie: Alles, was er vorher vermisst hat an ihr, ist auf einmal wieder da: die beiläufige Art, mit der sie ihre Zärtlichkeiten verteilt und doch genau weiß, was sie tut. Die Ernsthaftigkeit ihrer Zuneigung, beinahe eine Art von Loyalität. Ihr Lächeln ist halb nach innen gekehrt, der Stolz versteckt, und gleichzeitig lässt ihre Entschiedenheit keinen Zweifel daran, dass sie einander gleich zum letzten Mal umarmen werden. […] Ihre Geschichte endet jetzt. Er fährt weiter und besucht den ehemaligen Professorenkollegen Bernhard, der sich an einem französischen Touristenort mit einer Bar selbständig gemacht hat. Er hat mit allen Konsequenzen das riskiert, was Hainbach erwägt. Der Eindruck bleibt ambivalent, die Landschaft ist wunderbar, aber die Arbeit als touristischer Unternehmer anspruchslos. Bernhards neue Frau Géraldine macht aus dem gestandenen Intellektuellen einen braven Biogemüsekonsumenten (die Männer grillen ein wenig konspirativ einen Tag vor Géraldines Eintreffen). Dennoch scheint auf Bernhard der Strahl der Freiheit, wie sich an einem einzigen Satz zeigt: "Ich lese alles außer Sekundärliteratur". Selten dürfte so pointiert der Unterschied zwischen dem universitären Betrieb und dem Leben formuliert worden sein. Aber da geht es schon weiter zu Philippa, die sich ausgerechnet in Santiago de Compostella eingerichtet hat. Für einen Augenblick ist er trotz Pilgerbetrieb sogar wunschlos glücklich, als er seine agile und weltgewandte Tochter beobachtet. Aber dann stellt sie ihrem Vater ihre Freundin Gabriela vor und bekennt sich lesbisch. Hainbach reagiert unsicher; seine selbstattestierte Liberalität hält aber. Schließlich fahren sie zu Marias Verwandten nach Portugal. Irgendwann stößt auch aus Kopenhagen Maria dazu (ihre Theatergruppe gab dort ein Gastspiel). Es gibt noch eine kleine Pointe, die Eigentumsfrage über eine mysteriöse DVD-Sammlung klärt sich auf und der Schluss bleibt ein bisschen doppeldeutig. Zeigte Thomes Debutroman "Grenzgang" noch eine fast hermetische Geschichte aus der Provinz, dessen Leben sich an dem alle sieben Jahre stattfindendem Volksfest konstituierte (Thome wagte sogar einen Ausblick in die Zukunft), so breitet er nun die Suche eines in die Jahre gekommenen Mittelständlers als Road-Novel aus. Mit der Sprache des Films gesprochen: Eric Rohmers Zyklus "Comédies et proverbes" trifft auf Wim Wenders' "Im Lauf der Zeit". Eine Reise, der man willig und mit Anteilnahme folgt (trotz ein, zwei Ungenauigkeiten in der Historie). Man ist froh, dass es überall Handy- und WLAN-Empfang gibt und nach Gusto kommuniziert werden kann und meint gelegentlich sogar die Rückenschmerzen des Protagonisten durch das stundenlange Autofahren selber zu spüren (dabei ist es nur die eigene unbequeme Leseposition gewesen). Abgesehen von seinen gelegentlich cholerischen Ausbrüchen, die eine besondere Form der Weltverzweiflung wiederspiegeln, macht es der Held dem Leser auch leicht. Hartmut Hainbach wurde metaphysisch sozialisiert zwischen Max Frisch ("Stiller") und Ingmar Bergman "Wilde Erdbeeren"). Er ist zwar ein wenig egozentrisch (was sich vor allem in seinem Verhalten Frauen gegenüber zeigt) und macht aber dabei kaum den Eindruck eines Intellektuellen. Hainbach zerfliesst nicht vor Selbstmitleid, kultiviert keinen Weltschmerz und vermeidet den bräsigen Midlife-crise-Veteranenton. Aber der Ausbruch wird mit Rückfahrticket gelöst. Früh scheint klar, dass Hainbachs Suche - entgegen seinem gelegentlichen Maulheldentum - keine radikalen Konsequenzen zeitigen wird. Ein vollständiger Bruch mit allen Konventionen wie dies 1995 Michael Kleeberg in der grandiosen Novelle "Barfuß" über den sozial ähnlich situierten Protagonisten Arthur K. erzählte, findet nicht statt. Dennoch bleibt ungewiss, ob Hainbach auf der letzten Seite nun ins Wasser gegangen ist (wie schon so mancher verzweifelter Held in der Literatur) oder eine neue Taufe eines neuen Lebens begründet wird. Er schwimmt lauten die letzten Worte viel- und nichtssagend zugleich. Es kommt einem der schlimme Gedanke, dass man Hainbachs Tod gleichgültig gegenüber sein könnte. Ein wenig unnahbar bleibt Maria und man fragt sich, ob diese leicht geheimnisvolle Aura beabsichtigt ist. Die nassforsche Tochter Philippa gerät ein bisschen zu altklug. Professor Hurwitz, für den Hainbach in den 70er Jahren eine spezielle Form der Ahnenforschung betrieb (er rekonstruierte ausgiebig die Ereignisse um den Tod von Hurwitz' Bruder, der in der Nähe von Aachen kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges gefallen war) schwebt als eine Art guter Geist über Hainbachs Leben. Außer der bereits erwähnten Sandrine bleiben die anderen Geliebten Hainbachs eher blass. Da ist Anna Saalbach, von der er sich irgendwann trennt, weil er das Dauerbumsen leid ist (sie rächt sich später in ihrer Funktion als Dekanin, in dem sie seine Anstellung in einer anderen Universität blockiert). Und auch die temperamentvolle Tereza aus den 80ern, die Hainbach zu Gunsten Marias einfach sitzen lässt, hinterlässt kaum Spuren. Hainbachs Machotum färbt hier auf den Erzähler ab. Gekonnt gelingen die zuweilen feinsinnigen Erinnerungen der Kindheit Hainbachs, die in seinen Gesprächen mit seiner Schwester Ruth (die immer despektierlich als die kleine dumme Ruth bezeichnet wird) fast beschwörenden Charakter annehmen. Wie schon in "Grenzgang" könnte man "Fliehkräfte" als Abgesang auf die Zeit der Bonner Republik auffassen. Zwar interagiert Hainbach souverän mit den modernen Kommunikationsmitteln, im Kern ist er jedoch das, was man einen von Restaurations-Sehnsüchten Getriebenen bezeichnen könnte, jemand, der die Zukunft eher als Bedrohung empfindet und die Herausforderungen, die eine komplexer gewordenen Welt an ihn stellt, eigentlich nicht mehr annehmen will. Symbolisch wird dies durch die unterschiedlichen Wohnorte des Ehepaares (Hainbach in Bonn versus Maria in Berlin) dargestellt. Hainbachs Problem ist, dass er den bequemen Kokon der Lebenslügen auch noch durchschaut und fast ibsenhaft zwischen den Polen des Lebens pendelt. Peter Handke unterschied einmal in einem Tagebuchnotat zwischen einer Flucht von dem Problem weg einerseits und der Mitnahme des Problems auf dieser Flucht andererseits. Letzteres wäre dann keine "Flucht" mehr - so die Schussfolgerung. Was Handke auf den Menschen in Bezug zur Natur bezog, möchte man bei Thome auf die Persönlichkeit Hainbachs anwenden. Wobei noch eine weitere Variante möglich wird: die Flucht mitten in das Problem hinein. Hier entstehen dann jene "Fliehkräfte", die dem Buch den listigen Titel gegeben haben und scheinbar in der letzten Szene als zur Ruhe kommend erzählt werden, bevor der Held ins Schwimmen kommt.
Erst waren wir naiv,
dann entweder verbittert oder selbstgerecht. Jetzt sind wir gleichgültig,
so bilanziert Sandrine lakonisch die Verwandlung im Alter (durch das Alter?).
Und dann klingt Hainbach noch Ruths Diagnose der Großmutter in den Ohren, die
mit dem verbissen schweigenden Missmut eines verpassten Lebens als
fleischgewordene Anklage am Ende ihres Lebens nur mehr existierte statt lebte.
Es sind diese filigranen, manchmal zärtlichen, dabei jedoch nicht nur
liebevollen Beobachtungen, die Thome sehr gekonnt immer wieder in die Handlung
einflechtet und den Leser in befremdlicher Mühelosigkeit die 480 Seiten
genießen lässt.
Die kursiv gesetzten
Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. |
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