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Die
Möglichkeit des Altruismus
Der französische Philosoph
Michel Terestchenko fragt, warum Menschen Menschen Leid zufügen, und warum
andere Menschen ihr eigenes Leben riskieren, um von ihren Mitmenschen Schaden
abzuwenden.
Von Jürgen Nielsen-Sikora
Zur Beantwortung der Frage nach dem Bösen referiert er im ersten Teil seiner
Abhandlung vier Negativbeispiele. Zunächst steht Franz Stangl, der
Lagerkommandant von Sobibor und Treblinka, im Fokus. Stangl zeichnete nicht
allein für den Tod von abertausend Juden mitverantwortlich, sondern spielte
ebenfalls eine tragende Rolle in der T4-Zentrale der NS-Tötungsanstalt Hartheim.
Anschließend befasst sich Terestchenko mit dem Reserve-Polizei-Bataillon 101,
einem Erschießungskommando der NS-Ordnungspolizei, das mindestens 38 000
Menschen kaltblütig hinrichtete.
Die beiden weiteren Fallbeispiele, die Terestchenko anführt, sind das so
genannte
Milgram-Experiment und das
Stanford-Prison-Experiment.
Milgram schuf ein Versuchsfeld, in dem von den Versuchspersonen, den so
genannten „Lehrern“, erwartet wurde, ihren „Schülern“ bei falschen Antworten
mittels Knopfdruck einen elektrischen Schlag zu versetzen. Bei jeder falschen
Antwort wurde die Voltzahl erhöht. Tatsächlich war der Schüler nur ein
Schauspieler und es floss auch kein Strom. Beängstigend allerdings war die
Bereitschaft, mit der die Versuchspersonen den Knopf drückten, davon ausgehend,
sie bestraften den „Schüler“ tatsächlich.
In dem Stanford-Prison-Experiment aus dem Jahr 1971 konstruierte der
amerikanische Psychologe Philip Zimbardo ein echt wirkendes Gefängnissystem im
Keller der Universität Stanford und teilte seine Versuchsgruppe durch Münzwurf
in Wärter und Häftlinge ein. Die Häftlinge unterschrieben Dokumente, in denen
sie während ihres Gefängnisaufenthalts teilweise auf ihre Grundrechte
verzichteten. Eine Eskalation der Gewalt und sadistische Verhaltensweisen der
Wärter führten dazu, dass Zimbardo sein Experiment nach wenigen Tagen abbrechen
musste.
Terestchenko schöpft in seinen
Darstellungen über die Gewalt im 20. Jahrhundert aus Sekundärquellen, die er
seitenlang zitiert. Dieses methodische Vorgehen korrigiert er im zweiten Teil,
in welchem er den vier Negativbeispielen zwei Positivbeispiele entgegenstellt
und abschließend versucht, in Abgrenzung zur Pflichtethik Kants eine
Verantwortungsethik des Altruismus zu entwerfen.
Das erste Beispiel
altruistischen Handelns ist der italienische Geschäftsmann
Giorgio
Perlasca, ein ehemaliger Faschist, der tausende Juden vor der Deportation
rettete, indem er sich den Status eines Botschafters in Budapest erschwindelte.
Sodann rekurriert Terestchenko auf
André Trocmé,
einen französischen Pastor, der während des Vichy-Regimes in Chambon-sur-Lignon,
Auvergne, durch seine Predigten das Dorf überzeugen konnte, flüchtenden Juden
Unterschlupf zu gewähren.
Abschließend fragt sich Terestchenko, was eine altruistische Persönlichkeit
auszeichnet. Und er kommt zu der nicht unbedingt neuen Erkenntnis, dass die
Erziehung eine gravierende Rolle spiele, ehe er im letzten Schritt das über
Erziehung verinnerlichte Mitgefühl mit Anderen gegen Kants Prinzipienethik
auszuspielen versucht: „Altruistisches Handeln lässt sich in den wenigsten
Fällen allein aus der bewussten Einhaltung abstrakter Grundsätze von Gleichheit
und Gerechtigkeit erklären. Retter verhalten sich also nicht wie Kantianer;
subjektive, individualpsychologische Gründe spielen eine weit größere Rolle als
die Einhaltung einer Pflicht.“ Denn in Kants Ethik käme der menschlichen
Sinnlichkeit kein moralischer Wert zu. Sie gründe ausschließlich auf der Pflicht
zum Gehorsam gegenüber dem kategorischen Imperativ: „Verhalten sich, anders
gesagt, altruistische Individuen wie vorbildliche Kantsche Wesen? Nein, weder
Giorgio Perlasca, noch … André Trocmé … entsprechen einer solchen Definition.“
Der altruistische Mensch empfinde sein Engagement vielmehr als
selbstverständliche Verpflichtung, als Verantwortungsgefühl seinen Mitmenschen
gegenüber: „Die Verpflichtung zum Helfen lässt sich nie in Form eines
kategorischen Imperativs verallgemeinern. Sie wird von einer einmaligen
Person … gegenüber einer anderen einmaligen Person … empfunden, also
im Kontext einer so genannten intersubjektiven Beziehung, die wiederum im
Kontext ganz besonderer Umstände … steht.“
In seinem Fazit merkt Terestchenko an, jeder solle sich gegen seine Neigung,
gehorsam zu sein, wappnen, „um angesichts einer destruktiven Autorität im
Einklang mit seinen Prinzipien handeln zu können.“
Sollen und Prinzipien? Widerspricht das nicht seiner eigenen Kritik an Kant? Was
ist eine „selbstverständliche“ Verpflichtung? Und was charakterisiert ein Gefühl
der Verantwortung?
Zum Buch heißt es seitens des Verlags, Der dünne Putz Menschlichkeit sei
der originelle Versuch, die sich immer wieder aufs Neue stellende Frage, warum
Menschen immer wieder ihre Menschlichkeit verlieren, zu klären. Ich sehe diese
Einschätzung aus drei Gründen anders.
Erstens
ist Terestchenko nicht sonderlich originell. Nicht nur sind die Beispiele, die
er anführt, weithin bekannt und zumindest in Deutschland eindringlich
diskutiert; hiervon nimmt er jedoch keine Kenntnis. Darüber hinaus fasst er die
Beispiele auch nur aus Quellen Dritter zusammen.
Zweitens
ist seine Auseinandersetzung mit Kant auch nicht originell. Sie fällt zudem weit
hinter die Debatten zurück, die in Deutschland in den vergangenen dreißig Jahren
geführt worden sind. Seine arg verkürzte Darstellung von Kants formalistischer
Ethik gemäß dem Motto „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für
die Praxis“ scheint mir zumindest dann kaum diskussionswürdig, wenn das
Sittengesetz als regulative Idee und kriteriologisches Moment interpretiert
wird, und nicht, wie bei Terestchenko, als Motivationsgrund des Handelns
irgendeines „Kantschen Wesens“. Denn es geht in erster Linie um die Möglichkeit
der Beurteilung einer Handlung, also um die Möglichkeit, das Besondere als Teil
des Allgemeinen zu denken, wie Kant es in der Kritik der Urteilskraft einleitend
festhält. Den Widerspruch, den Terestchenko zwischen Sittengesetz und der
moralischen Praxis eines Perlasca konstruiert, gibt es meines Erachtens nicht:
Ob Perlascas Handlung tatsächlich moralisch war, lässt sich aus seinem Handeln
selbst heraus ja nicht beurteilen. Und dass er nicht bewusst nach Kants
Sittengesetz gehandelt hat, sondern weil „er nicht anders konnte“, schließt
nicht aus, dass man in der Beurteilung zu dem Schluss kommt, sein Handeln war
durchaus verallgemeinerungsfähig und aus moralischen Gesichtspunkten
verpflichtend. Hingegen steht eine Ethik des Altruismus, die von einer irgendwie
vorauszusetzenden helfenden Neigung einer Person abhängig ist, von vornherein
auf wackligen Beinen, weil schon der Maßstab zur Beurteilung solch scheinbar
moralischen Handelns fehlt.
Drittens
hätte Terestchenko diese Ungenauigkeit seiner antirationalen Ethik verhindern
können, wenn er sich mit
Thomas Nagel befasst hätte, der immerhin die philosophische Diskussion über
Altruismus mit seiner Dissertation aus dem Jahre 1970 weltweit befeuert hat.
Doch Nagels „The Possibility of Altruism“ taucht bei Terestchenko gar nicht auf,
obwohl auch Nagel ebenso wie Terestchenko die Ethik in menschlicher Motivation
verankert. Gleichwohl stellt Nagel fest, dass Sympathie oder Mitgefühl mit
Anderen nur eine schwache Begründung für moralisches Handeln abgäben, denn sie
gelten eben bloß für Menschen, die durch diese Motive auch motiviert würden.
Eigeninteressen lieferten keinen Grund dafür, dass Andere ihnen ebenfalls folgen
sollen. Subjektive Gründe sind Gründe einer bestimmten Person und deren
Motivation, wohingegen objektive Gründe subjektive Interessen personenunabhängig
förderten. Nagel erkennt dennoch, dass unsere Fähigkeit, „durch gewisse,
darunter auch altruistische, Beweggründe motivierbar zu sein, ebenso eine
Bedingung der Rationalität ist, wie uns die Fähigkeit, bestimmten Argumenten
zuzustimmen, als eine solche Bedingung gilt.“
Nagel geht also davon aus, dass motivierende Einflüsse eine Bedingung rationalen
Handelns sind, betont aber zugleich, dass moralische Prinzipien solche, von
subjektiven Gründen getragene, Rationalitätsbedingungen ausdrücken können:
„Kants Unterfangen, tatsächlich einen kategorischen Imperativ zu formulieren,
ist Teil seines Versuchs, Anforderungen an unser Handeln aufzudecken, die eine
Person verpflichten, vollkommen unabhängig davon, was sie wünscht, welche
Gefühle sie hat und dergleichen. Nichtsdestoweniger müssen es Anforderungen
sein, deren Geltung impliziert, dass wir fähig sind, in Übereinstimmung mit
ihnen motiviert zu sein. Da ebendieser motivierende Faktor aber nicht einer
vorausgesetzten und die Forderungen ihrerseits bedingenden Motivation entstammen
kann, muss er sich, so es ihn denn geben soll, diesen selbst verdanken. Das
besagt: Was die Forderungen für uns überhaupt gültig macht, muss selbst
dasjenige sein, was unsere Motivationsstruktur dazu bestimmt, entsprechend
handeln zu können … Es gibt in der Tat Gründe zu handeln, die spezifisch
moralisch sind. Und weil diese Gründe moralische Forderungen darstellen, deshalb
vermögen sie zu motivieren, und nicht etwa umgekehrt.“
Praktische Urteile haben allerdings nur dann Sinn, wenn subjektive Gründe
universalisierbar sind: „Wir müssen bereits wissen, was jemand für sich selbst
zu tun Grund hat, um ermitteln zu können, was andere gegebenenfalls für ihn zu
tun Grund haben.“ Die Möglichkeit des Altruismus ist dann gegeben, wenn
Handlungen dadurch motiviert sind, dass der Handelnde glaubt, auch Andere
profitierten von seinem Tun. Es geht Nagel hierbei um verobjektivierbare
Gründe einer Person, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Diese Ziele müssen auch
Anderen einen objektiven Grund liefern, entsprechend zu handeln. Objektive
Gründe und subjektive Handlungsweisen schließen dann einander nicht aus.
Eine vertiefende Diskussion von Nagels intersubjektiv erweiterten Lesart des
Kantschen Sittengesetzes wäre für Terestchenkos Anliegen weitaus fruchtbarer
gewesen als die überholt wirkende Diskussion von Kants Sittengesetz.
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Michel Terestchenko
Der dünne Putz Menschlichkeit
Un si fragile vernis d humanité (2005)
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Matthes & Seitz Berlin
232 Seiten,
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-88221-566-3
Preis: 22,90 € / 32,90 CHF
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