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Tosende Bilderwelten

Zum 60. Geburtstag Josef Winklers am 3. März veröffentlicht
der Suhrkamp-Verlag mit "Wortschatz der Nacht" eine frühe Erzählung
 

von Lothar Struck



 

Kurz nach der Publikation seines Erstlingsromans "Menschenkind" 1979 hatte Josef Winkler einen weiteren Text für die Literaturzeitschrift "manuskripte" geschrieben und veröffentlicht. Er erscheint heute, nach mehr als 30 Jahren, "neu durchgesehen" vom Autor, erstmals als Buch. Aus "Das lächelnde Gesicht der Totenmaske der Else Lasker-Schüler" wurde "Wortschatz der Nacht", was schade ist, denn der ursprüngliche Titel passte viel besser zu diesem kurzen, etwas mehr als 100 Seiten umfassenden Text. Charakteristisch für Josef Winkler handelt es sich um eine expressive, assoziative Suada, ein expressionistisch-schauriges Sprachkunstwerk - auch wenn man glaubt zu bemerken, dass die enorme Wucht der späteren Werke wie "Friedhof der bitteren Orangen" oder der meisterhaften Novelle "Natura morta" noch nicht ganz erreicht wird.

Dennoch ist man überrascht, dass viele der Motive aus Winklers Erzählungen und Romanen hier bereits aufleuchten. Da ist der Freitod der beiden 17jährigen Jakob und Robert, seinen "Seelenbrüder[n]", die sich eines Tages an einem Kalbstrick erhängt hatten - an jedem Ende einer. Ein Ereignis, dass Winkler in zahlreichen Variationen bis heute immer wieder neu inszeniert; bis hin zur Deutung eines homoerotischen Verhältnisses zwischen den beiden Jungen. Da ist weiterhin die ins Traumatische stilisierte Szene des dreijährigen Josef, dessen "kinderlose Tante" ihn derart in die Höhe hob, dass er das Gesicht der toten Großmutter auf dem Totenbett im Detail sehen konnte. Da ist die nach einem Kruzifix scheinbar nachgebildete Form des Heimatdorfes. Und da ist natürlich diese unbändige Todessehnsucht des Erzählers, die gelegentlich auch (homo-)erotische Konnotationen trägt; eine Sterbenslust, häufig gegen den Ich-Erzähler selbst gerichtet und in immer wieder neuen Variationen von Tod, Freitod, Mord und Unfällen durchgeträumt und herbeiphantasiert.

Gegenstände, kurzzeitig zu Fetischen werdend, verwirbeln mit Ereignissen und Personen zu Ausgangspunkten für opulent-phantasmagorische Phantasien. Da wird aus dem Kugelkopf der Schreibmaschine die der Erzähler manchmal sogar um den Hals trägt für kurze Zeit der Totenkopf des Selbstmörders Jakob. Aus einer in der Hand gehaltene Coladose wird eine "Erntedankkrone", die auf "das Haupt eines Selbstmörders" bei einer imaginären Totenwache gesetzt wird. Der Hahnenkamm des abgeschlagenen Kopfes eines Huhns wird zum Haarkamm des Erzählers. Immer wieder variiert die Assoziationsmaschine neue Konstellationen, entwickelt surreale, durchaus auch an Splatter-Filmen erinnernde Szenarien. Dabei gibt es durchaus komische, ja schrullige Bilder, etwa wenn der Erzähler mit dem "lächelnden Gesicht der Totenmaske" von Else Lasker-Schüler mit "vier Gazestreifen" auf der "nackten Brust" befestigt, unter dem Pullover tragend, durch das Dorf streift oder sich eine die Totenmaske "des Vaters eines Malers und ehemaligen Lehrers" aufsetzt und von der Todesangst spricht, die er zum Leben brauche. "Mein Tod schwitzt Blut" heißt es einmal halb pathetisch, halb selbstironisch. Kindlich wirkt der Gedanke, wenn man einen Toten töte, mache man ihn wieder lebendig. Morbide die Anziehungskraft des Berufs des Totengräbers für den Erzähler. Da gibt es eine "eigenartige Autorität des Totengräbers im Dorf". Auch die Bemerkung, dass die Totenzimmer "die schönsten Zimmer im Dorf" gewesen waren mit einer "feierliche[n] Stimmung, wie man sie sich für alle Tage hätte wünschen können" zeigt bei aller Komik auch eine zuweilen aufscheinende fast ethnographisch-kühle Sicht. Skurril dann, wenn er einmal alles "Tierfleisch", das er zukünftig isst, mit der Asche eines Toten salzen möchte.

Winkler war bei der Niederschrift der Erzählung 26 Jahre alt und zeigte eine erstaunliche stilistische Sicherheit. Es entstehen tosende Bilderwelten; die katholisch-christliche Ikonographie wird mit bäuerlich-heidnischen Mythen verquirlt zu einem fast magischen Realismus aus dem "wilden Kärnten", wie Winkler später seine erst drei Bücher zusammenfasst. Bei aller Wildheit und (notwendigen) Redundanz (auch in diesem kleinen Buch), sind Winklers erzählerische Eruptionen durchaus auch als Feste des (eigenen) Daseins zu verstehen: In der Verwandlung der Zeichen und Strukturen des Dorfalltags nebst den sozialen Regeln, die als engstirnig und restriktiv empfunden werden, entsteht ein Narrativ mit zuweilen bewusst kindlicher Empathie für die an den Gesetzen der Welt Gescheiterten (sowohl die Dorfbewohner betreffend als auch beispielsweise dem 1976 hingerichteten Franzosen Christian Ranucci), die mit dem Zorn auf die scheinbar verantwortlichen Protagonisten konvergiert. Dabei schwankt der Ich-Erzähler (der unverblümt einmal Josef Winkler genannt wird) zwischen dem passiven Übernehmen der Opferrolle und der aktiven Bestrafung der Schuldigen (die freilich nur rhetorisch ausgesprochen wird). Interessant ist dabei, dass Winkler bei aller zum Teil auch böse persiflierenden Kritik an der Frömmigkeit der Dorfbewohner das christliche Opfer, also einen Wesenskern des Katholizismus, mehrfach durchaus bejaht und zuweilen das Jesus-Motiv aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus explizit paraphrasiert. Strafen (für sich selber oder die anderen) werden in burlesker Form eines "jüngsten Gerichts" im Stil manieristischer Maler à la Hieronymus Bosch und Pieter Huys evoziert. Gelöst wird die als Teufelskreis empfundene, schier unauflöslich erscheinende Spannung  zwischen Opfergestus und Strafgericht durch eine weit ins Erwachsenalter hinein ausgelebte polymorph-perverse Sexualität einerseits und die Hinwendung des Protagonisten zur Literatur andererseits. In den folgenden Werken bezieht sich Winkler unter anderem auf für ihn lebenskonstituierende Lektüren von Peter Weiss, Albert Camus, Hans Henny Jahnn und vor allem Jean Genet. Zusammen mit der Niederschrift, dem Erzählen, bildet der Rekurs auf Literatur für Winkler Entkommen aus dem Fatum einer einerseits als bedrohlich empfundenen, andererseits jedoch durchaus auch faszinierenden Welt. 

Die Prosa Josef Winklers wirkt zuweilen als Psychogramm des Autors; eine Deutung, die durchaus als erster Affekt gewollt scheint. Aber die Nähe zu biografischen und geografischen Details darf nicht voreilig mit der Erlebniswelt des Dichters gleichgesetzt werden. Die Texte sind und bleiben Fiktionen, auch wenn die Hauptfigur Josef Winkler heißt. Insofern spielt Winkler mit der vor allem im Feuilleton häufig stillschweigend vorgenommenen Gleichsetzung zwischen Erzähl-Ich und Autor (was die Rezensenten ja von allerlei Arbeit was das Suchen und Bewerten ästhetischer Kriterien angeht befreit). Man sollte sich als Leser vor diesem voreiligen Parallelenschwindel hüten. Womöglich können hierzu die Beiträge zu Winklers 60. Geburtstag im bald erscheinenden literatur/a Jahrbuch 2012/13 (herausgegeben von Klaus Amann, Doris Moser und Fabjan Hafner) etwas mehr Klarheit schaffen.

 

Josef Winkler
Wortschatz der Nacht
Suhrkamp
Gebunden, 109 Seiten
978-3-518-42357-8

15,00 €

 

 


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