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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Mystifizierung oder Alltäglichkeit des Bösen?

Vor dem Wächterrat der deutschen Literaturkritik, der für sich
auch die Deutungshoheit über die Deutsche Geschichte allgemein,
und die der NS-Zeit im Besonderen reklamiert, fand Volker Harry Altwassers
Roman »Letzte Haut« keine Gnade, und wurde von der Feuilleton-Miliz
ordnungsgemäß niedergeschrieben.
Peter V. Brinkemper rückt Volker Harry Altwassers Roman »Letzte Haut«,
der auf realen Gegebenheiten basiert in ein gerechteres Licht.
 

Das »Tausendjährige Reich«, so notiert Ernst Jünger in seinen Nachkriegstagebüchern, habe es immerhin geschafft, durch endlose Literatur danach und darüber verewigt zu werden. Dergleichen Rede läuft immer wieder allzu schnell hinaus auf ein pseudo-pathetisches und ästhetisierendes Verhältnis zur Nazidiktatur, ihrer expansiven Politik eines Eroberungs- und Vernichtungskrieges und ihrem massenmörderischen Netz aus Konzentrationslagern. Und dieser pathetische Tonfall schwingt auch insbesondere mit in der Diskussion über Jonathan Littells fiktiv-autobiographischen »Entwicklungsroman«, einer »Lebensbeichte« eines intellektuellen und in gewisser Weise anfänglich sensibel daherkommenden SS-Mannes: »Die Wohlgesinnten«.
Frank Schirrmacher lässt sich in seiner mit mythologischem Gewicht beschwerten Einführung im FAZ-Reading-Room dazu hinreißen, die jüdische Herkunft der Autors selbst als eine poetologische Qualifikation für die plastische Darstellung des nach besten Wissen heute literarisch inszenierbaren Bösen darzustellen:
»Als Jude schreibt er sich ein in die Gestalt eines Eichmann. Das ist der Skandal dieses Buches, sein Schrecken.« Dieser geschwollene Satz ist natürlich positiv-anpreisend im Sinne der heutigen kritisch-konservativ-liberal sich gebenden und dabei doch seichten Medien-Kultur gemeint, und er nimmt zugleich die alte totalitäre und antisemitische Stimmung der Bücherverbrennung und Verbrechensverleugnung als Motiv wieder auf, um ein altes Skandalon in der Zeitreise zurück in die Epoche der äußersten Reaktion aufzuwärmen. »Gegen den Willen der deutschen Regierung und ihrer Bürokratie«, so Schirrmacher, sei der jüdische Autor Littell, 1967 in New York geboren, mit dem Originalnamen Lidsky auch osteuropäischer Herkunft, und jetzt in Paris wohnend, noch am Leben. Dies klingt in der Tat, als ob der Zweite Weltkrieg, zumindest in seiner heute uns bekannten Endphase der Niederringung Nazi-Deutschlands, nicht stattgefunden hätte. Krieg und Vernichtung, Asyl und Exil im Reading-Room der FAZ? Ein bisschen viel des Guten und des Bösen. Überlebt habe der jüdische Autor, so Schirrmacher dann weiter, aber eben zu dem Zweck, um einem der vielen Mörder des NS-Massentötungs-Systems seine Stimme zu leihen und ihm das von Ekel überflutete Geständnis des politischen und privaten Mördertums abzunötigen. Wildgewordener Mythos und dürftige Faktizität schlagen sich in Schirrmachers metaphorischer Volte gegenseitig tot: »Es hätte dann aber, auf paradoxe Weise, der fiktive Autor, Max Aue, als Sieger der Geschichte überlebt - und zwar in Gestalt all der anderen Max Aues mit Namen Eichmann und Höß, deren Programm die Ausrottung der Juden war. Dieser Twist einer finsteren Dialektik erklärt, warum dieses Buch allein dadurch ein Skandal und eine Radikalität ist, weil es geschrieben worden ist.«

Georg Klein hat in der Süddeutschen Zeitung einen weder polemischen noch angesichts von braunen Feuchtgebieten hilflosen, sondern fast klinischen Bericht über Littells Erzählweise abgeliefert. Klein weist nach, dass Littells photographischer und filmischer Realismus in Kombination mit den heute medial präsenten Völkerrechtsverletzungen und Genoziden sowie den älteren und neusten verfügbaren Wissens-Versatzstücken über den NS-Staats- und Kriegsterror keineswegs zu einer stärkeren Plastizität des Bildes vom Bösen führe. Das Böse trete dem Leser bei Littell eher in einem matten erzählerischen Realismus der schrittweise eskalierenden Untaten gegenüber, sozusagen als abgeschlaffter Zombie, in den jeder mit seinen Projektionen hineinfahren kann. Über dem historisierten Abgrund der verblassenden Erinnerung an das Unfassbare der Verzweiflung versammle man alle Formen der sprachlichen Rhetorik und der klassizistischen Mythologie, ohne noch die Kraft einer erschütternden Aussage zu erreichen. Aus dem hohlen Pathos der hochtrabenden Reflexion und der individuellen Pathologie der Psyche Max Aues entstehe letztendlich nur das Theater einer immer stärker medial vermittelten Grausamkeit, aber keine erkenntnisfördernde Spannung und kein fruchtbarer, neuartiger Aufschluss.
Wie dem auch sei, Kolja Mensing schreibt in der FAZ sogleich und ohne analytische Mühe abfällig über ein Gegenstück zu Littell: Volker Harry Altwassers Roman
»Letzte Haut« lese sich »über weite Strecken wie eine geschmacklose Parodie auf den Holocaust«. Aber dieses Verdikt könnte auch für Littells Roman gelten, obwohl dieser in gewisser Weise sicherlich eine andere intellektuelle und psychologische Fallhöhe, einen faschistisch-inzestuösen »Mann ohne Eigenschaften« für sich reklamiert. Gibt also eine rhetorische Ständeklausel für den Holocaust?

Man kann stilistische und erzählerische Schwächen im Diskurs von Volker Harry Altwassers »Letzte Haut« bemängeln, so die holzschnittartige Darstellung der Zeitläufte und die häufige Repetition im Stil: Die zentrale Idee des Romans, dem KZ-Wesen des NS-Staates anhand eines historisch belegten Modellfalls von massiver Korruptionsbekämpfung im Lager Buchenwald, also im Herzen der Entrechtung gerade mit ökonomisch-juristischen und kriminologischen Mitteln auf den Leib zu rücken, hat den Vorteil, der von Hannah Arendt aufgedeckte »Banalität des Bösen« in 476 Seiten vielleicht ein gutes Stück näher zu kommen. Näher, als dies Littell in seinem bombastischen, eher körperlich und visuell ausgemalten Zeitpanorama gelingen mag. Dabei ist Altwassers spezifischer Versuch durch die zwei Ebenen, die linear vorwärts schreitende Geschichte und die Rückblende zugleich als ein Scheitern von Aufklärung, aber auch als Aufklärung im Scheitern eingeklammert.

Mit »Banalität des Bösen« meinte Hannah Arendt ja keineswegs eine Einfachheit oder Trivialität des Bösen im Sinne einer greifbaren Psychologie oder Horror-Phänomenalität im Sinne heutiger Videospiel- und Doku- oder Spiel-Film-Szenarien, die nicht erst bei x-ter Wiederholung ins Leere laufen. Sie meinte damit Gedankenlosigkeit und Automatismus von Individuen und Gruppen im Rahmen von totalitärer Ideologie, Herrschaft und Exekution im Sinne industrieller Automatisierung von Ausgrenzung, Entrechtung, Ausbeutung und womöglich Tötung.

Und es ist genau dies, was Altwasser ins Zentrum seines Buches rückt: den Alltag des Konzentrationslagers als einen Betrieb der ganz gewöhnlichen Routine des permanenten Ausnahmezustandes der Entmenschlichung im Dienste der instrumentell enthemmten Unvernunft, mit allen militärischen, juristischen, wirtschaftlichen und medizinischen Zerrissenheiten zwischen blanker Verfügung, Gier, Machtansprüchen, Zuständigkeiten und Inkompetenzen, der brutalen Gerissenheit und dreisten Dummheit, den verdeckten und offenen Absprachen und Rivalitäten.
Fotos: Karl Otto Koch und Frau Ilse (public domain)
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Obersturmführer Doktor Kurt Schmelz, SS Ermittlungsrichter und Beamter der Kriminalpolizei Berlin, Standartenführer mit Sonderbefehl und Sonderbefugnissen vom Reichsführer SS« soll mögliche Korruption im Lager Buchenwald aufdecken und die Schuldigen, allen voran, die historischen Figuren Karl Otto Koch, den gewieften KZ-Kommandanten, und seine wilde Frau Ilse, vor ein Sondergericht der SS noch rechtzeitig vor Kriegsende bringen. Dabei geht es wiederum keineswegs um die moralische oder psychologische Enttarnung des Massenmordsystems als solchem, sondern darum, den peinlichen und keineswegs rätselhaften Realismus von Missmanagement und der Tatbestände wie Unterschlagung, Bestechung, Bereicherung und Korruption auszubreiten, die von der Nazi-Idee einer rein sachlich und korrekt gehandhabten totalitären Internierung, Verwendung und Tötung im Geiste des mustergültigen Schulbuch-Terrors wegführen und den klaren Amtsmissbrauch bestimmter Personen qua Vorteilsnahme, Anstiftung, Betrug, arglistiger Täuschung, Hehlerei und Ermordung aus persönlichen und niederen Motiven nachweisen. Und hierbei spielen auch die Konflikte und Krisen im höheren SS-Management eine wichtige Rolle.

Foto: Josias Prinz zu Waldeck, (Urheber unbekannt, Quelle: Bundesarchiv)

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Prominente, wiederum historische Namen: Obergruppenführer Josias Prinz zu Waldeck und Pyrmont, der die Korruptionsaffäre um das Lager Buchenwald nachdrücklich aufdeckte und bekämpfte, sowie die Obergruppenführer Pohl und Kaltenbrunner. In Oswald Ludwig Pohl, dem Duisburger NSDAP- und SA-Mitglied und späteren Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, steht das ökonomische Verwertungs- und Ausbeutungsprinzip von Arbeitseinsatz, Tötung und Plünderung von KZ-Gefangenen im Vordergrund – mit allen Folgelasten der kriegswirtschaftlichen Auslagerung, der Korruption und Bereicherung, wie sie Koch und Konsorten betreiben. In seinem Widerpart, dem österreichischen Juristen Ernst Kaltenbrunner, nach Heydrich und Himmler der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), des Gestapo-Amtes, des Reichskriminalpolizeiamtes und des Sicherheitsdienstes (SD), erfährt Pohl einen verfahrensbewussten eiskalten Rivalen, dessen Stab, und darunter auch der fiktive Doktor Schmelz, einer wahren Figur nachgebildet, paradoxerweise die korrupte Ökonomie der KZs auf eine solidere juristische und strategische Basis stellen will. Als ob dieser verfahrensinterne Coup gegen Kriegsende zunächst mehr als ein bloßer Trick im Kampf um die Hegemonie unter ungleichen Schurken im selben Unrechtssystem unter den Augen eines nach beiden Seiten schwankenden Himmlers darstellen könnte, bevor dieser sogar am Ende den Befehl ausgibt, die Juden nicht mehr zu töten, um Verhandlungsspielraum mit den Alliierten für sich höchstpersönlich hinter dem Rücken des unnachgiebig Tod verbreitenden Führers zu gewinnen. Während Kaltenbrunner bereits 1946 als einer der 24 Hauptangeklagten in Nürnberg in seiner Funktion als RSHA-Leiter zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, zog sich die Vollstreckung des für Pohl 1947 ausgesprochenen Todesurteils bis 1951 hin, also in die ersten Jahre der 1949 gegründeten Bundesrepublik. Zwischen Pohl und Kaltenbrunner steht übrigens auch Höß, der effiziente Innovator und Kommandant der Gaskammern und Verbrennungsöfen in Auschwitz, der in Nürnberg für Kaltenbrunner und gegen Pohl aussagte, bevor er 1946 an die polnische Justiz ausgeliefert wurde und ein Jahr später im Stammlager gehängt wurde.
Ohne viele Schnörkel pointiert Altwasser schlicht und eindringlich:

»Die Villa der Kochs ist also voller Reichtümer. Nichts, was es dort nicht gäbe. Sie werden bald ein Geständnis ablegen. Sie hatten keinerlei Chance, irgendwas verschwinden zu lassen. Sie sitzen in der Falle, die Beweise sind erschlagend. Nach meiner Recherche muss es damals so abgelaufen sein, dass Koch auf drei Wegen unter der Hand verdient hat.

Zum ersten hat er das Eigentum der jüdischen Häftlinge von den Kapos sammeln und in einer privaten Sammelstelle erfassen lassen. Über diese Sammelstelle gibt es keinerlei Akten, es gibt auch keine Listen, als hätten die Juden gar nichts hierhergebracht, und jeder Mitwisser profitierte von Koch, allerdings tauschte Koch die Kapos und Mitwisser jeden Monat aus, sodass sich bald kein Häftling mehr fand, ihm zu helfen. In so einem Monat wurden diese Häftlinge zwar reich, aber nach ihrem Tod wurde ihnen alles wieder abgenommen. Sie konnten es ja nicht aus dem Lager bringen. Dies also erfüllt den Tatbestand der arglistigen Täuschung. Das Töten dieser Mitwisser geschah nicht auf einen Befehl hin, nein, dieses Töten inmitten des befohlenen Massensterbens war persönlich motiviert und damit Mord.«

Es ist deutlich, dass die hier von der Figur Schmelz angebahnte juristische Argumentation den Rechtsbegriff paradox an das System KZ in seiner menschenverachtenden Aufgabe und Funktionalität bindet und damit die Begriffe »arglistige Täuschung« und »Mord« verdreht, weil sie nicht auf die Betroffenen, sondern auf die Legalität der vorgegebenen Befehlskette und der dadurch erlaubten und gebotenen Handlungen bezogen werden. In diesen und anderen Passagen wird das System der Lager einer formaljuristischen Idealisierung aus der Führungs- und Managementperspektive unterzogen, einer semantischen Perversion, die an der Lage der Insassen und Opfer als entrechteter Subjekte durchweg vorbei ging und geht. Aber das Interessante an dieser Sichtweise besteht gerade darin, dass es nicht nur die plakativen Monster- und Schlächtertypen gab, oder die schizophrenen Mitleids-Killer, sondern auch die exakten Todesarbeiter, die definitionsmächtigen Versuchsleiter und Organisatoren, zum Teil höhere Verwaltungsfiguren, die als Arzt, Jurist, Ökonom, Offizier und Manager wahlweise rationale oder rein egoistische Sprachregelungen und Entscheidungen treffen konnten, auch diesseits des irrationalen Objekt- und Vernichtungsgedankens. Und Schmelz selbst beweist die befehlswidrigen Mordpraktiken eigens mit einer Todesversuchsanordnung. So entsteht ein paradoxer Strudel von Privilegien, Ausnahmen und Delikten auch während der Ermittlung im Horizont des vorpräparierten Massentodes. Entscheidungen, die immer auch Urteile zur Humanität und Inhumanität fällen, ob es den Verantwortlichen passt oder nicht. Und dieses strategische und doch keineswegs völlig willkürliche Spiel am Rande des geplanten Todes zwischen Wahrheit und Lüge, Recht und Entrechtung, Vor- und Nachteil für das Selbst und Andere macht den moralischen und rechtlichen Irrgarten dieses Buches aus. Volker Harry Altwasser lässt keinen Zweifel in den Schlussplädoyers, dass die Logik des geplanten Todes und das flächendeckende Netz der Korruption in und zwischen allen KZs und den zivilen Lebensräumen von Stadt und Land mindestens zwei Köpfe einer gigantischen Hydra sind. Und diese Hydra des »SS-Staats« (Eugen Kogon) bringt am Ende auch den treuesten ausgebildeten Rechtsverfechter um seine Haut, wenn er auf seine eigene und die politische Geschichte des ermittelten und des sogar dafür begangenen Unrechts zurückblickt. Peter V. Brinkemper

Artikel online seit 16.11.2011
 

Volker Harry Altwasser
Letzte Haut
friktion 16
Matthes & Seitz Berlin, 2009
480 Seiten,
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-88221-744-5
€ 22,80

Quellen & Hintergrundinformationen:


Der SS-Richter Konrad Morgen liefert die Vorlage für Kurt Schmelz, die Hauptfigur in Altwassers Roman.

Holocaust Education & Archive Research Team:
Konrad Morgen
»The Bloodhound Judge« Investigating corruption within the SS

Ausschnitt aus den transkribierten Tonbandmitschnitten der Vernehmung des Zeugen Konrad Morgen, ehemaliger Obersturmbannführer und SS-Richter vom 25. Verhandlungstag am 9. März 1964 des 1. Frankfurter Auschwitzprozesses.
 


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