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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Weltsichtungen

Karl–Markus Gauß macht sich Gedanken über den »Alltag der Welt«

Von Wolfram Schütte

Der 1954 in Salzburg geborene & dort lebende Herausgeber der österreichischen Zeitschrift »Literatur und Kritik«, Karl-Markus Gauß, hat im Laufe der letzten Jahre eine ganze Reihe von Büchern geschrieben. Sie weisen ihn als Kenner, um nicht zu sagen Entdecker aller nur möglichen minoritären Sprachen & Völker in Ost- & Südeuropa aus. Was deren Kenntnis betrifft, dürfte dem österreichischen Sachbuchautor nur der leidenschaftlich reisende polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk in Europa das Wasser reichen können.

Daneben hat der vielfach ausgezeichnete & übersetzte K.-M .Gauß, dessen Vorfahren aus Pannonien stammen, auch noch eine Reihe von sehr persönlichen autobiographischen Resümees geschrieben. Das jüngste dieser literarisch hybriden Bücher heißt »Der Alltag der Welt«. Es summiert & reflektiert »zwei Jahre, und viele mehr«, wie sein Untertitel etwas sybillinisch behauptet. De facto handelt  es sich bei dem thematisch komponierten Buch in 5 Kapiteln & 4 »Zwischenstücken« (die von Literaten, Büchern & gestorbenen Freunden handeln) um Aufzeichnungen unterschiedlichster Art, die er zwischen 2011 & 2013 gemacht hat.

Die »gute Nachricht« seines Orthopäden (»Jetzt beginnen die Jahre, in denen Sie nicht mehr zurückschauen, nur mehr nach vorne blicken werden!«) ist für den 57jährigen mit den Halsknochenbeschwerden, »deren Krachen die Umstehenden in Deckung gehen lässt«, mitnichten eine schöne Aussicht an seinem 57. Geburtstag: »Nicht mehr zurückschauen, dorthin, wo unablässig die Welt verschwindet, aus der ich gekommen bin, und in der großen Mühle gleichermaßen zermahlen wird, wofür wir uns begeistert haben und wogegen wir uns empörten? Gerade weil es anders kam, darf ich nicht vergessen, wovon ich geträumt habe, und erst recht nicht vergessen, wovon ich überzeugt war, dass ich mich niemals mit ihm abfinden werde.«

Die deprimierende Grund-Erfahrung des Salzburger linksliberalen Intellektuellen dürfte so mancher seiner Generation, im dunklen Schatten des siegreich um sich greifenden Neoliberalismus, mit ihm teilen. »Vom Verschwinden« lautet denn auch der Titel des ersten Kapitels seiner Reflexionen aus dem »Alltag der Welt«, wie sie sich ihm darbietet & ihn zu Klage, Widerspruch oder Empörung provoziert.

Brandstifter als Biedermänner

Originell ist eine Wahrnehmung, die ihm beim Besuch eines öffentlichen Amtes kommt. Es ist so still hier, bemerkt er, bis er weiß, warum ihn die Stille verwundert - dort, wo früher das Klappern der Schreibmaschinen den Raum erfüllte. Assoziativ erzählt er von einem glücklosen Tiroler Erfinder der Schreibmaschine, der Mitte des 19.Jahrhunderts mit dem ersten & dann verbesserten Modell seiner Erfindung zweimal nach Wien zum Kaiser ging; aber in »Kakanien«(Musil) hat man das Revolutionäre des heute schon wieder obsolet gewordenen Instruments nicht erkannt.

Mit Befremden sieht Gauß, wie vandalisierende britische Jugendliche die Elektronik-Läden ihrer Heimartstädte erstürmen & leerräumen. Es trifft wohl zu, was er als Paradox der gesellschaftlichen Situation abliest: »Die Brandstifter als Biedermänner. Bewaffnet mit Handys, Brandfackeln, Schlagstöcken stürmen sie die Bastionen des Konsumismus, um sich diesem zu unterwerfen…. Was die Plünderer von Tottenham in Wahrheit ersehnen: den Status von Kunden«.

Die Bilder einer Revolte der britischen jugendlichen Unterschicht vor Augen – von der wir heute schon wieder nichts mehr wissen -, macht sich der Linksliberale seine bitteren Gedanken über die gesamtgesellschaftlichen Verheerungen durch die elektronisierte Gesellschaft: »Selbst den Deppen von morgen wird ein Wissen zugänglich sein, von dem der Denker von gestern nur etwas ahnen konnte; sogar der Spießer von heute ist ja über manches Vorurteil hinausgelangt, an dem einst noch der Freidenker heftig laborierte. Trotzdem werden die kommenden Einfaltspinsel womöglich noch einfältiger sein als die von heute und gestern, weil ihre Dummheit digital hochgerüstet und technologisch abgesichert ist«.

Wobei ja die Fetische Wissen oder Kommunikation wenig bedeuten, bzw. folgenlos sind, wenn nicht kreative Aneignung & produktive individuelle Phantasie sie begleiten. Eben solche intellektuellen Grundtätigkeiten sieht er allerorten im Schwinden begriffen. Beim Blick auf eine neue Jugendsendung des österreichischen Fernsehens erkennt er ein durchgängiges ideologisches Muster: «Wenn es ums Soziale geht, wünscht sich die Moderatorin mehr Kontrolle, wenn es um Lifestyle geht, mehr marktgängige Freiheit«. An der Dramaturgie der »Tatorte« analysiert sein kritischer Blick sowohl eine Verachtung des bürgerlichen Rechtstaats als auch ein Ressentiment gegen »idealistisches« gesellschaftliches Handeln. »Notorisch« sind nämlich die »Menschenfreunde die größten Schweine«, will sagen: der sozialkritische Anspruch der »Tatorte« richtet sich in der Regel nicht gegen die konformen Mächtigen, sondern gegen alle, die aus nicht berechnenden, nicht-materiellen Gründen den Machtlosen zur Seite stehen: Pädagogen, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer.

Gauß geht bei seinen zeitkritischen Überlegungen mehrfach von kuriosen faits divers aus, weil er in ihnen symptomatische Momente wahrnimmt, in den sich eine Essenz der Gesellschaft verdichtet. So hat er z.B. notiert, wie weit die Gier der Schnäppchenjäger diese einmal buchstäblich entblößt hat. Die Werbe-Idee eines neu eröffneten dänischen Großmarktes, jedem nackt bei ihm erscheinenden Kunden die von ihm zusammengerafften Waren zu schenken, führte zu einem Nudisten-Ansturm besonderer Art, dem nur die herbeigerufene Polizei ein Ende bereiten konnte.

Von der Befehls- zur Aufforderungsform

Oder ein anderes Beispiel, das von nahezu kleistscher Provenienz ist & sich in Frankreich zugetragen hat, handelt von einem Ingenieur, der befürchten musste, seine Wohnung zu verlieren. Der Gerichtsvollzieher, der den Ingenieur aus der Wohnung weisen soll, findet diese verschlossen vor & verschafft sich mit dem Helfer eines Schlüsseldienstes gewaltsam Zutritt. Der örtliche Gerichtsvollzieher schneidet den Ingenieur, der sich in seiner Verzweiflung gerade aufgehängt hatte, noch rechtzeitig ab, um ihn wiederbeleben zu können. Der Gerettete, wieder zum Bewusstsein seiner verzweifelten Lage gekommen, schneidet sich die Pulsader eines Arms auf & rammt sich dann das Küchenmesser, mit dem ihn der Gerichtsvollzieher eben erst am Gelingen seiner Selbstermordung gehindert hatte, in den Bauch. Dem beherzt zupackenden Gerichtsvollzieher gelang es, den Lebensmüden erneut zu retten, »um ihn endlich ordnungsgemäß delogieren zu können«.

Auch zwei österreichische Vorfälle sind Gauß erwähnens- & kommentierenswert. Im einen Fall hält Gauß fest, dass eine 82jährige Bankkundin gleich zweimal einen dilettantischen Bankräuber als einzige der im Raum befindlichen Kunden attackierte & am Raub hinderte, weil »das Geld der Bank gehört«. Im anderen Fall geht es um einen Suchtkranken der wegen einer dilettantischen Rezeptfälschung im Wert von knapp 8 € von der dazu laut Strafgesetzbuch verpflichteten Richterin zu 7 Monaten Haft verurteilt wurde, während der österreichische Finanzminister – wie Gauß kommentierend hinzusetzt – beim Schmuggel von 500.000 Euro erwischt wurde. Besonders schön an dieser Episode aus dem Gerichtsaal ist es, dass der Verurteilte die sich schämende Richterin zu trösten suchte.

Bedenkenswert ist auch, was Gauß gewissermaßen nebenbei notiert. Wer wusste denn schon, dass der »Imperativ« der lateinischen Grammatik nicht mehr im österreichischen Sprachlehrbuch als »Befehlsform« eingedeutscht wird, sondern als »Aufforderungsform«, wiewohl die semantische Veränderung den Tatbestand nicht tangiert; oder wem ist schon einmal aufgefallen, dass eine ganze Reihe von typologischen Charakteren wie »Fräulein«, »Hagestolz«, »Unschuld vom Lande« oder »Zappelphilipp« aus unserem Sprachschatz verschwunden sind – was allgemeinen Mentalitäts- & gesellschaftlichen Wertänderungen entspricht.

Das Journal zweier Jahre, in denen sich viel ereignete, was heute noch fortdauert, lässt neben einer Vielzahl von glossarischen, satirischen Betrachtungen zu näheren oder ferneren Alltagsveränderungen auch keines der großen Ereignisse unkommentiert, über die Gauß auf seine Art »sinniert«  – wie z.B. die Spanische Immobilienkrise oder die ersten Griechenland-Diskussionen, den Fukushima-Gau und die Fälschungsskandale um von Guttenberg (Politik), Beltracchi (Kunst) & Hegemann (Literatur).

Er selbst wird einmal Opfer eines Plagiats & als er sich darüber bei den Kollegen beschwert, bei denen er jahrzehntelang ein gern gesehener Mitarbeiter gewesen war, wird er unerwartet Zeuge, wie man mit ihm umgeht: man ignoriert ihn & seine kollegiale Beschwerde einfach – worauf Gauß, tief enttäuscht, zurecht seine Mitarbeit bei der Wiener links-alternativen Wochenzeitung »Falter« einstellt.

Von Jean Amérys Bemerkung ausgehend, wonach am Verfall der Briefkultur die gesellschaftliche Erosion der Kultur sich abzeichne, holt der Literaturkritiker Gauß zu einer vergleichenden Betrachtung über Briefeditionen von Jean Améry, Ingeborg Bachman/ Paul Celan, Hermann Broch & Stefan Zweig aus. Es ist eine der vier »Zwischenstücke«, in denen er auf von ihm geschätzte aktuelle oder vergessene, verdrängte Autoren aller Sprachen & Länder aufmerksam macht.

Der Mut zur unliebsamen Selbsterkenntnis

Jedoch erscheint es mir literaturkritisch fragwürdig, dem Epiker Lobo Antunes dessen Lebenspessimismus als Negativum vorzuwerfen. Eher erscheint mir der Produktionsautomatismus, die ästhetische Serialität & stoffliche Monotonie der späten Romane des Portugiesen problematisch, die ein immer gleiches thematisches Sujet auf die minimal variabelste literarische Art & Weise reproduzieren. Gleichwohl ist man als erfahrener & passionierter Leser gut beraten, dem literarischen Urteil von Karl-Markus Gauß im Allgemeinen zu trauen.

Obwohl er in seinen Aufzeichnungen nicht nur das alltägliche Fernsehen verschiedentlich zurecht kritisiert, ihm z.B. die »Deformation unseres moralischen Empfindens« vorwirft & er vor allem das Internet kritisch im Blick hat (wie das wohl jeder tut, der noch die Welt-Zeit davor kannte), wäre ihm (oder seinem Lektor) eine gelegentliche Rückversicherung bei Wikipedia doch zu empfehlen. Dann hätte Gauß den Hausarrest, aus dem Xavier de Maistres berühmte kleine Romanphantasie »Reise um mein Zimmer« hervorgegangen ist, nicht den französischen Revolutionären angedichtet, die mit dem adligen Reaktionär, der die politischen Ansichten seines berühmteren Bruders teilte, wohl den bekannten Prozess in abschließender Begleitung einer Guillotine gemacht.

An zwei Stellen hat Gauß aber auch den Mut, sich selbst sowohl bloß als auch seinen moralistischen Impetus in Frage zu stellen. Einmal rekonstruiert er ein Telefon-Gespräch, bei dem er annahm, ihm würde ein lukrativer Preis angetragen, bis er mitbekommt, dass man ihn nur als minder entlohnten Laudator gewinnen wolle & er schleunigst angeblich familiäre Termine zu seiner Absage vorschützt.

Ein andermal empört er sich mit wachsendem Zorn über seine Salzburger Mitbürger & die einheimische Presse, die sich negativ über die anwachsende Zahl bettelnder Roma in der Stadt äußern. Am Ende seiner Philippika hält er aber inne & fragt sich: »Deine Empörung, ist sie nicht selbstgerecht? Du klagst, dass eine Stadt von 150.000 Einwohnern die Anwesenheit von hundert Bettlern nicht ertragen kann. Wie viele soll sie, muss sie ertragen? Tausend? Wie viele bist du selbst bereit zu ertragen: 10.000? Ärgerst du dich in Wahrheit nicht längst selbst, wenn du auf deinen Wegen an jeder Ecke wieder eine der zerlumpten Gestalten kauern siehst? Und gestehst dir deinen Ärger bloß nicht ein, weil du es dir nicht nachsehen könntest, ihn mit der Meute zu teilen? Hast nicht auch du angefangen, sie zu zählen, wenn du die Altstadt durchquerst? Erfüllt dich womöglich weniger Sympathie für die Bettler als Verachtung ihrer Feinde?«

Es ist dieser rare Moment des Selbstzweifels, bzw. der radikalen Konfrontation mit dem moralischen Paradox, das Karl-Markus Gauß´ Überlegungen über den Alltag der Welt unmittelbar mit den Dilemmata unserer jüngsten, bzw. kommenden ungemütlichen Tage & Jahre verbindet. Um mit Nietzsche zu fragen: Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt unsereins?

Artikel online seit 08.10.15
 

Karl-Markus Gauß
Der Alltag der Welt
Zwei Jahre, und viel mehr
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015
335 Seiten
23.60 €

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