Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 



Der Verlorene

George Prochniks Biographie »Das unmögliche Exil – Stefan Zweig am Ende der Welt«

 Von Lothar Struck

 

Als George Prochniks Buch über die Exiljahre Stefan Zweigs im Mai 2014 in den USA erschien, konstatierte der Kritiker André Aciman eine überraschende Renaissance von Stefan Zweig im englischsprachigen Raum: 2012 war eine Biographie von Oliver Matuschek erschienen, ein Jahr später eine Erzählung über die letzten Tage des Schriftstellers und schließlich der Film "The Grand Budapest Hotel" von Wes Anderson, dem zwei Erzählungen Zweigs zu Grunde liegen. Die Frage, so Aciman, sollte nun nicht lauten, warum Zweig plötzlich wieder entdeckt werde, sondern warum er so lange unberücksichtigt blieb.

Ähnliches kann man auch im deutschen Sprachraum feststellen. 2014 erschien im Aufbau-Verlag der Briefwechsel von 1910 bis 1918 zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig. Im Frühsommer dieses Jahres kam Maria Schraders grandioser Film "Vor der Morgenröte - Stefan Zweig in Amerika" in die Kinos, der sich Zweigs Exil in episodischer Form näherte. Und nun liegt George Prochniks Buch "Das unmögliche Exil – Stefan Zweig am Ende der Welt" in deutscher Sprache vor. Und womöglich gibt es Leser, die bei dieser Lektüre noch Josef Hader, Aenne Schwarz und Barbara Sukowa als Stefan, Lotte und Friderike Zweig vor ihrem geistigen Auge haben.

An einer gut versteckten Stelle schreibt der Verfasser wie er den Schriftsteller Stefan Zweig, der ihm in seiner gesamten akademischen Karriere in den USA niemals vorgekommen war, entdeckte. Er suchte Literatur über Brasilien, ging in die Bibliothek und dabei fiel ihm auch "Brasilien – Ein Land der Zukunft" von 1941 in die Hände. Er bewunderte die Sprache, diese Mischung aus Erzählung, Reisebericht und Essay und begann, sich für andere Bücher von Zweig und für dessen Leben zu interessieren.

Hinzu kam eine biographische Gemeinsamkeit: Die Großeltern flohen mit ihrem Sohn, Prochniks Vater, 1938 aus Österreich vor den Nazis. Der Großvater war Arzt, aber das half ihm zunächst wenig. Man musste bei Null beginnen. Und das soziale Gefüge innerhalb der Familie veränderte sich. Diese Erlebnisse streut Prochnik immer wieder unaufdringlich und mit Bedacht in die Geschichte des Exils der Zweigs ein. Wenn Zweig an Kleinigkeiten zu hadern beginnt, zuweilen auch ungerecht ist, stellt Prochnik auch das Schicksal der Seinen dem der Zweigs zur Seite. Immerhin war Zweig wohlhabend und kam auch durch eine Verfilmung seines Marie Antoinette-Buches auch in den USA zu Einnahmen, während sein Großvater als Arzt für alle Fälle und zu allen Zeiten mühsam neu reüssieren musste.

Einmal wird sogar der Bogen zu den aktuellen Flüchtlingsströmen geschlagen und die Einwanderungspolitik der USA in den 1930er und 1940er Jahren kritisiert, die eher einer Abschottung gleichkam, die man mit der hohen Arbeitslosigkeit in den USA erklären kann.

Erzählender Duktus

"Das unmögliche Exil" ist in 12 Kapitel zuzüglich Einleitung und Epilog gegliedert. Es ist ein erzählendes Buch; Fuß- bzw. Endnoten fehlen, was den Lesefluss fördert. Im Anmerkungsapparat am Ende des Buches sind die Quellen ebenfalls narrativ aufgeführt. Die Chronologie wird zuweilen durchbrochen; lediglich der Freitod von Stefan und Lotte Zweig bildet eine Ausnahme. Es sind zwei Werke von Stefan Zweig, auf die immer wieder verwiesen wird. Da ist zum einen die historische Biographie "Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam" von 1934, in der Prochnik eine Identifikation Zweigs mit dem historischen Erasmus, der eine europäische Geistesrepublik begründen wollte, erkennt. Der Referenzpunkt bildet jedoch der autobiographische, 1941 fertiggestellte aber erst nach seinem Tod publizierte Roman "Die Welt von Gestern". Hinzu kommt eine umfassende Kenntnis der Sekundärliteratur und sei sie auch noch so entlegen publiziert worden. Zusätzlich bekam Prochnik Einblick in die bisher unveröffentlichten Briefe von Stefan und Lotte Zweig an Lottes Familie und auch Zugang zum Tagebuch von Lotte Zweig.

Zweig, 1881 geboren, war neben Thomas Mann der erfolgreichste und meist übersetzte deutschsprachige Schriftsteller seiner Zeit. Er entstammte einem vermögenden Elternhaus, erlangte jedoch recht früh selber zu literarischem Ruhm. Prochnik bedeckt ihn gleich zu Beginn etwas plakativ mit sehr vielen Attributen – vom Stoiker über den Hundeliebhaber bis zum Gemütsmenschen. Tatsächlich war Zweig Pazifist, Humanist, sah sich als Weltbürger und pflegte Korrespondenzen und Freundschaften zu nahezu allen wichtigen Intellektuellen. Aber seine idealistische Weltsicht wurde immer wieder Prüfungen unterzogen. Der erste Bruch kam mit dem Ersten Weltkrieg. Zweig widerstand zwar der allgemeinen Kriegsbegeisterung, ergriff aber in seinen Briefen vorsichtig Partei für die österreichische Seite. Prochnik thematisiert dies etwas oberflächlich und erklärt, dass er sich erst um 1916 herum über die Arbeit an sein pazifistisches Stück "Jeremias" gewandelt hätte. Immerhin setzte Zweig auch im Krieg seine Korrespondenzen mit den "Feinden", unter anderem mit dem 1915 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten französischen Schriftsteller Romain Rolland fort. Im Briefwechsel mit Rolland, kann man Zweigs Wanken und Rollands Fernkorrekturen nachlesen.    

Trotz Wirtschaftskrise und Inflation werden die Jahre von 1918 bis 1934 Zweigs glücklichste Zeit werden. Die in Europa zu Beginn der 1930er Jahre aufkommenden faschistischen Ideologien nimmt er wahr, billigt ihnen jedoch keine Konstanz zu. Als seine Bücher von den Nazis verbrannt werden, stellt er die naive Frage nach dem warum, denn er habe sich doch niemals gegen Deutschland gestellt. Immer noch unterschätzt er die Gefahren. Als Richard Strauss, der im November 1933 Präsident der "Reichsmusikkammer" wurde, für seine Oper "Die schweigsame Frau" 1935 ein Libretto von Zweig in Auftrag gibt und zur Aufführung bringt, glaubt Zweig kurz an eine Wende. Aber Strauss fällt darauf hin bei den Nazis in Ungnade.

Erst mit dem "Anschluss" Österreichs 1938 (und der Begeisterung in weiten Teilen der österreichischen Bevölkerung) wird ihm das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Sukzessive umschattet sich Zweigs Gemüt. Prochnik findet treffende Belege für diese nagende Verzweiflung. Zuweilen garniert er diese noch mit Zweigs Angst vor dem Älterwerden, forscht in der Kindheit und Jugend des Dichters (und entdeckt einige Maßregelungen, beispielsweise beim Feiern des Weihnachtsfestes oder der Kälte des Vaters) und offenbart Parallelen zwischen Zweig und seinen introvertierten und unergründlichen Protagonisten.

»Bildungshochmut«

Natürlich wird die Frage nach Zweigs politischem Engagement bzw. dessen (vermeintlichen) Ausbleibens gestellt. Die Beschreibung einer eine Pressekonferenz Anfang 1935 in den Räumen von Zweigs amerikanischem Verlag Viking Press in New York ist sehr ausführlich beschrieben. Zweig verweigert hartnäckig eine direkte Verurteilung Deutschlands, beharrt auf seine Rolle des Intellektuellen, der nicht zu verurteilen, sich nicht mit der Politik gemein zu machen und einzig auf sein Werk zu konzentrieren habe. Ob die zum Teil harsche Kritik über sein eher freundliches Reisebuch über die kommunistische Sowjetunion 1929/30 ("Reise nach Russland") für diese Zurückhaltung eine Rolle spielte? Oder sah Zweig schon im direkten Widerstand ein unzulässiges "Gemeinmachen" mit den Nazis? Überraschend ist, dass Prochnik das berühmte Bild von Zweig auf dem er sein Gesicht mit den Händen verbirgt nicht einmal erwähnt. Es entstand unmittelbar nach einer Brandrede von Emil Ludwig auf dem PEN-Kongress 1936 in Buenos Aires. Ludwig hatte in einer Brandrede auf die Notwendigkeit des politischen, klar Stellung beziehenden Intellektuellen hingewiesen. Er trifft den Nerv der Teilnehmer. Danach werden die exilierten bzw. bedrohten deutschen Autoren aufgezählt. Auch Zweigs Name fällt. Man glaubt, er weint. In einem Brief an eine Noch-Ehefrau Friderike beschreibt er die Situation anders. Er habe sich "widerlich gefühlt" bei diesem "Jahrmarkt der Eitelkeiten", der ihn angeekelt habe.

Immerhin: Weder Hitler noch Mussolini oder Stalin hätten, so Zweig, einen akademischen oder intellektuellen Hintergrund. Er folgerte daraus, dass die Massen den Intellektuellen misstrauten. Prochnik greift dies auf und konfrontiert den Leser mit Zweigs sechs Jahre später verfasster Diagnose, wonach Hitlers Aufstieg mit "einer unerschütterlichen Überschätzung und Vergötterung der 'Bildung'" zu tun habe, einem "Bildungshochmut", der es der Mehrheit der Deutschen unmöglich gemacht habe, Hitler ernst zu nehmen. Aber Zweig habe diesen Fehler selber begangen und Hitler für ein Übergangsphänomen gehalten. Noch 1935 habe er seinen "Kulturoptimismus" gepflegt und daran geglaubt, "geistige Aufklärung könne das moralische Gewissen der Deutschen wachrütteln." 

Wenn dann im weiteren Verlauf des Buches über Zweigs Verdammung der amerikanischen, für ihn rein auf Vergnügen und Kommerz ausgerichteten Kultur berichtet wird (er bewertete 1925 bereits die "Amerikanisierung" als die "zweite Zerstörung Europas" nach dem Ersten Weltkrieg) und die Zweigs alles dafür taten Lottes Nichte, Eva Altmann, einen europäischen, bildungsbürgerlichen Wertekanon in einer Art Privat-Internat zukommen zu lassen, zeigt sich darin, dass Zweig selber einer "Vergötterung der Bildung" anhing. Dabei hatten, wie der Dichter feststellte, in Europa reihenweise Diktatoren die politische Führung angetreten, welche die traditionellen Ideale mit Füßen traten. Was Zweig allerdings übersah: Die als von ihm als vulgär verschmähte amerikanische Kultur widerstand immerhin diesen politischen Verführungen. Und was Prochnik übersah: Zweig sah nicht im "Bildungshochmut" alleine das Aufkommen Hitlers begründet. In der "Welt von Gestern" nennt er Hyperinflation und Massenarbeitslosigkeit als weitere Faktoren, die die Radikalisierung der Massen begünstigten. 

Besser wird Zweigs eher ambivalentes Verhältnis zum Judentum analysiert. Religiös war er nicht und obwohl mit Theodor Herzl, einst sein Förderer, befreundet, lehnte er den Zionismus als Form des Nationalismus ab. Prochnik erkennt allerdings in der von Anfang an bei Zweig virulenten Reiselust eine "innere Notwendigkeit" des Umherziehens und verwendet sogar das Klischee des vaterlandslosen Juden. Hierzu wird eine Begebenheit aus den 1920er Jahren kolportiert. Zweig war mit dem Schriftsteller Otto Zarek  in München unterwegs. Sie besichtigten eine Ausstellung antiker Möbel. Plötzlich fragte Zweig Zarek, ob er ihm sagen könne, welche der ausgestellten mittelalterlichen Holztruhen von Juden stamme. Zarek stutzte und Zweig löste das Rätsel auf: Es seien die Truhen mit Rollen, die Juden gehört hätten. "Sie mussten bereit sein, von einem Augenblick auf den andere das Weite zu suchen".

Das Caféhaus als "transnationale Oase" und danach Ossining, Bath, Petrópolis

Den Antisemitismus in Wien habe Zweig zwar mitbekommen, ihn jedoch nicht besonders ernst genommen und sich lieber in der "transnationale Oase" des Caféhauses begeben. Zweig begriff sich als Kosmopolit und umgab sich naturgemäss mit Gleichgesinnten, betätigte sich auch als Unterstützer und Mäzen. Im Kapitel über Wien entwickelt der Autor einen mutigen Kontrast und wagt die Gegenüberstellung von Zweigs Lebensauffassung aus seinen intellektuellen Kreisen heraus mit den Demütigungen eines anderen, in Wien lebenden Zeitgenossen der 1920er Jahre: Adolf Hitler. Prochnik zitiert hierfür aus "Mein Kampf", konfrontiert Hitlers Text mit der Dichtersprache Zweigs und fühlt sich ein in die Genugtuung Hitlers beim Betreten des Café Imperial, dessen Tore ihm viele Jahre zuvor schlichtweg verschlossen waren. Fast frivol wenn Hitlers "Paneuropäismus im napoleonischen Sinne" im gleichen Satz mit Zweigs "paneuropäische[m] Traum nach humanistischem Vorbild" steht.

Immer wenn Prochnik an die Orte Zweigs fährt und diese mit Ortskundigen nach Spuren absucht, wird das Buch stark. So ist es mit der Tristesse Ossinings, die sich dahingehend fortsetzt, dass die Frau, die sich mit ihm unterhält, nur sehr geringe Kenntnisse über Zweig hat und überdies auch Störungen durch Germanisten eher lästig sind. Er zeigt Verständnis für Zweigs Hass auf New York, den Lärm, das Klima, den Lebensstil, die Deutschfeindlichkeit dort (als sich unter den 250.000 in New York lebenden Deutschen eine Nazi-Gruppe herausarbeitete). Er besucht Salzburg und natürlich Bath, praktisch der letzte Aufenthaltsort Zweigs in Europa. Und er durchstreift Petrópolis, geht Zweigs "Runde" ab und findet Gründe, warum er sich dort so schwer tat.

Aus dem einst lustvollen, auf Vergnügen ausgerichteten Reisen (das, wie bereits erwähnt, auch anders gedeutet werden könnte) wurde eine Tortur. Aber ist es nicht ein großer Unterschied, ob ich freiwillig eine Reise antrete oder durch politische Gründe dazu gezwungen werde? Prochnik erzählt an einer Stelle von der Suche Stefans und Lottes nach einem Winterquartier. Die Zweigs hasten wochenlang durch halb Europa um einen ruhigen und warmen Platz zu finden und landen schließlich in Cap Antibes. Aber dies war 1930/31; die Zeiten des aufgezwungenen Exils waren noch fern. Ein Beleg für ihn für Zweigs Unrast schon vor den politisch aufgezwungenen Wirren.

Fakten in Raten

Ärgerlich wird es, wenn Fakten nur in Raten ausgebreitet und dem jeweiligen Tenor des Kapitels angeglichen werden. Ein Beispiel: Im September 1939 wird Zweig in Großbritannien als Staatenloser zum "feindlichen Ausländer" erklärt und mit einer Art Bannmeile von fünf Meilen belegt, die er nicht ohne Genehmigung verlassen darf. So glaubt der unbedarfte Leser nun, dass der Dichter mehr oder weniger gezwungen war, das Land zu verlassen. Viele Seiten weiter heißt es dann allerdings, dass Zweig ein paar Monate später bereits die britische Staatsbürgerschaft bekommen hatte. Und schließlich erfährt der Leser, dass Zweig fürchtete, die Nazis könnten in Großbritannien einmarschieren. War dies der Grund für den Aufbruch? Oder waren es die Bombardierungen? Auch die ein oder andere Schlussfolgerung erscheint überzogen, etwa wenn aufgrund der Abgeschiedenheit des Salzburger Hauses behauptet wird, Zweigs "gesamtes Leben in Österreich" sei "eine Art Exil auf Probe" gewesen oder Zweigs "extremer Pazifismus" als "Überidentifikation mit der Katastrophe" gedeutet wird.

Ein Verdienst ist dann wieder, dass es Prochnik gelingt Zweigs Leiden nicht als die "starrköpfige Nostalgie" so manch anderer Exilanten darzustellen, die mit nichts zufrieden waren, weil sie alles so haben wollen, wie es bei ihnen zu Hause gewesen war. Er hatte nicht nur vieles von seinem Besitz zurückgelassen oder sogar verloren, Dokumente und Briefe, seine geliebte Autographensammlung, große Teile seiner Bibliothek. Für ihn unwiederbringlich war eine Welt untergegangen. Zwischen 1939 und 1941 ergraute Zweig, alterte sichtbar. "Wie die deutsche Kultur war auch Zweig ein Wrack", heißt es denn auch an einer Stelle bitter-lakonisch.

Konnte er sich mit dem Verlust des Vaterlands notfalls noch abfinden war die Erschütterung besonders groß dass auch die deutsche Sprache von den Nazis benutzt und beschmutzt wurde. "Die einzige Waffe, über die deutsche und österreichische Juden verfügten, wurde nun von ihren Erzfeinden gegen sie in Stellung gebracht", bilanziert Prochnik und führt Klemperers "LTI" gegen Hannah Arendt an, deren Position er immerhin "eindrucksvoll" nennt. Arendt hatte trocken konstatiert, es sei nicht die deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden sei, sondern einzig Menschen, die sie für ihre Zwecke missbraucht hätten. Man könnte Arendt dahingehend paraphrasieren, dass man den Nazis nicht die deutsche Sprache überlassen sollte. Prochnik schlägt sich vorsichtig auf die Seite Zweigs, was womöglich auch mit Arendts scharfer Kritik an der "Welt von Gestern" und Zweigs Sehnsucht nach der vergangenen Zeit zu tun hat.

Die Rivalitäten der Intellektuellen

Wenn es um die intellektuelle Szene Österreichs der 1920er und 1930er Jahre geht, gerät der so besonnene Biograph in leichten Zorn. Schriftsteller und Künstler hätten sich nur mehr mit ihren "künstlerisch-intellektuellen Rivalitäten" beschäftigt. Das Wort Parallelwelt fällt nicht, kommt einem aber in den Sinn. Eine Figur wird besonders hart kritisiert. Denn mit seinen kunstvollen Rundumschlägen gegen Alle und Jeden, seinen "Kämpfe[n] gegen die verantwortungslose Wiener Presse" habe Karl Kraus die sprachlichen "Grenzen zur Brutalität" nicht nur überschritten, sondern am Ende "Revolten und Ressentiments" geschürt, "die schließlich einen Großteil Europas in Trümmer legen sollten" Prochnik spricht von "Gesellschaftsspielen" eines "Ein-Messer-in-den-Rücken-Rammens und des langsamen Vergiftens". Damit relativiert sich die Kritik an Zweigs Schweigen und wird auf die im Vorfeld ausgebliebenen aufklärerischen Initiativen gelenkt. Und auch Zweigs "Kritik ist unfruchtbar"-These steht in einem anderen Kontext. Nicht einer überzogenen Idealisierung wird das Wort geredet, sondern es geht eher um eine Kritik, die, so der Tenor, nicht totalitär alles in Grund und Boden kritisiert und ablehnt, sondern konstruktiv vorgeht und argumentiert.

Natürlich nimmt der Freitod von Stefan und Lotte Zweig einen breiten Raum im Buch ein. Wohltuend ist, dass Prochnik waghalsige Spekulationen über Motivation(en) für den Suizid vermeidet. Zwei Dinge habe Zweig sein ganzes Lebens lang hochgehalten: "den Traum von der Einheit der Menschen auf Erden und die Fähigkeit der Kunst, ein Gefühl irdischer Transzendenz zu vermitteln". Ein letztes Mal habe Zweig im Karneval 1942 in Rio diese beiden Ideale für kurze Zeit aufleuchten sehen. Aber zu diesem Zeitpunkt "glaubte er schon nicht mehr an die eigene Existenz". Gestützt wird diese Aussage auf die Vorbereitungen, die das Paar bereits Tage vorher getroffen hatte: Rückgaben, Schenkungen, umfangreicher Abschieds-Briefverkehr. So selbstbestimmt Stefan Zweigs Suizid auch gewesen sein mag, bei der 34jährigen Lotte hat Prochnik Zweifel, empört sich fast ein wenig darüber, dass sie aufgrund eines womöglich falsch verstandenen Liebesbeweises ihrem Mann nachgefolgt sein soll. Ihr Leichnam war noch warm, als man die beiden fand; Lotte muss das Gift später genommen haben, hatte womöglich noch überlegt.  

Zweig hatte es nicht mehr ausgehalten, im "Sumpf der Politik" (Zweig) hin- und hergeschubst zu werden. Das Exil, anfangs noch als mögliche Quelle zur Inspiration verklärt, wurde zur Qual, zur Gefangenschaft – unabhängig davon, ob das Haus schön war und der tropische Wald bunt. Wir wissen heute, dass das Weltinferno noch drei Jahre dauerte. Zweig konnte sich aber einen zweiten Neuaufbau wie nach 1918 nicht mehr vorstellen; er hatte resigniert.

Der erzählerische Duktus und die ein oder andere eingestreute Anekdote machen zuweilen vergessen, dass man es mit einem realen Schicksal zu tun hat. Aber es gelingt Prochnik dennoch die Verzweiflung und Mutlosigkeit Zweigs mit großer Intensität zu illustrieren ohne in betuliche Betroffenheitsrhetorik abzurutschen. Es gibt auch neue Einsichten. So rückt er das Bild von Lotte Zweig nicht zuletzt durch die Einsichten in neue Dokumente in ein anderes Licht. Der Eindruck durch Friderike, Zweigs erster Frau, Lotte sei eine eher unbedarfte und kränkliche junge Frau gewesen – lange Zeit ungeprüft von der Forschung übernommen – wird korrigiert. Dennoch bleibt der Autor diskret, berichtet von zahlreichen Liebesabenteuern in Zweigs Jugend und sieht es als wahrscheinlich an, dass auch Männer darunter gewesen sein dürften, hält sich aber was das Eheleben mit Friderike und Lotte angeht, zurück. Die unlängst aufgeblasene vermeintliche Sensation, Zweig sei ein Exhibitionist gewesen, erwähnt er nur kurz; im Anmerkungsapparat kann man dann nachlesen, dass dies seit 1958 bekannt ist.

Am Schluss wechselt Prochnik abermals ins Persönliche, flaniert durch Wien, erwägt sogar nach Europa zu übersiedeln. Dann schaut er sich Hieronymus Boschs "Weltgericht" an und geht anschließend zu dem Haus am Rennweg, welches einst den Großeltern gehörte. Wie Diebe hätten sie sich vor vierundsiebzig Jahren davon machen müssen. Aus der Welt von Gestern ist die Welt von Vorgestern geworden.  

Artikel online seit 28.10.16

 

George Prochnik
Das unmögliche Exil
Stefan Zweig am Ende der Welt
C.H. Beck
397 Seiten mit 29 Abbildungen. Gebunden
29,95 €
978-3-406-69756-2


Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten