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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


 

Petits riens (21)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Korrektur So erstaunlich, wie ich mir in meinen letzten Petits riens unter dem Titel »Nachtmahlen« die Viktorianer vorgestellt hatte, waren sie doch nicht. Ein alter beruflicher Bekannter war nicht so leichtgläubig wie ich, der aufgrund von Andrea Otts Übersetzung von Anthony Trollopes »Barchester Towers« (1857) ganz aufgeregt gemeldet hatte, es sei für die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar ganz normal gewesen, eine öffentliche Einladung auf  Mitternacht zu terminieren – wie es der neu ernannte anglikanische Bischof des Romans  für die gehobene Gesellschaft in der fiktiven Provinzmetropole Barchester getan habe.
Mein Bekannter hatte sich das englische Original beschafft & an der betreffenden Stelle auch das richtige »supper« vorgefunden. Aber der Skeptiker holte sich ob dieser Wunderlichkeit eines viktorianischen Abendessens zu nachtschlafender Zeit zusätzlich Rat bei einem Oxforder Gelehrten. Dieser Philologe klärte ihn darüber auf, dass zu Trollopes Zeit »supper« noch nicht, wie heute, ausschließlich Abendessen meinte, sondern generell für ein gemeinsames Essen zu welcher Tageszeit auch immer im Sprachgebrauch war. Es handelte sich mithin in Barchester selbstverständlich um eine Einladung zur Mittagszeit.

Die Übersetzerin, die übrigens gerade einen hoch dotierten Preis für ihre berufliche Tätigkeit erhalten hat, hatte gewissermaßen »automatisch« Trollopes »supper« als »Nachtmahl« übersetzt – ohne die irritierenden »Kollateralschäden« zu bedenken, die einer solchen Terminierung notwendig folgten. Ich wiederum war ihr willig auf diese »Fehlhalde« (Th. Mann) gefolgt, weil diese signifikante Abweichung der »sittenstrengen Viktorianer« mir ganz offensichtlich »bemerkenswert« erschien, weil sie mit ihren mitternächtlichen Esssitten die heutigen libertären Spanier übertrumpft hätten. Auf die nahe liegende Idee eines übersetzerischen Fehlgriffs bin ich mutmaßlich deshalb nicht gekommen, weil die vermeintliche Entdeckung der »sensationellen« Absonderlichkeit der Viktorianer alle mögliche Skepsis zum Schweigen brachte.

                                              *

Aus der Geschichte lernen - In seiner »33. Türkischen Chronik«, die der ins Ausland geflohene Journalist Yavuz Baydar in der SZ publiziert, hat er dieser Tage berichtet, dass er sich außerhalb der Türkei mit sieben türkischen Geschäftsleuten getroffen hatte, die alle der Gülen-Bewegung mehr oder weniger nahestanden. An seinem Bericht von dem »Dinner mit den Underdogs« hat mich besonders folgende Passage fasziniert: »Dann erzählten mir die Männer, wie ein gewaltiger Teil ihrer Besitztümer und ihres Vermögens beschlagnahmt und Anhängern der AKP übergeben worden war. Sie zählten große und mittelständische Unternehmen auf, die nun bankrott waren und deren Geschäftsführer entweder im Gefängnis saßen oder ins Ausland geflüchtet waren. Sie schätzten, dass die Regierung insgesamt 70 bis 90 Milliarden Euro konfisziert hatte. Viele hatten erlebt, wie ihre Unternehmen mit Tausenden Beschäftigten von einem Tag auf den anderen zerstört worden waren – aufgrund des Notstands und der Anti-Terror-Gesetze«. (Kursivierung von mir)

Es fällt einem mit der deutschen Geschichte des 20.Jahrhunderts Vertrauten schwer, bei den türkischen Ereignissen der Gegenwart neben den historischen Erinnerungen an den Reichstagbrand & den Notverordnungen am Ende der Weimarer Republik  nicht auch noch an den staatlichen Vermögensraub & dessen Loyalitätsverteilungen an Parteimitglieder sowie an die Zwangsarisierungen während NS-Deutschlands gemahnt zu sehen. Ganz zu schweigen von der europäischen Appeasement-Politik damals & heute. Und gehört zur gespenstischen Zweideutigkeit des politischen Augenblicks nicht auch andernorts der Anschein partieller historischer Wiederholungen? Z.B. was im 20. Jahrhundert mit den Namen Pilsudski in Polen & Horty in Ungarn sich autoritär-antidemokratisch verband, heute auf  die Namen Kaczynski  in Polen & Orban in Ungarn hört?                                   

                                             *

Vorsicht & Nachsicht - Jede neue staatlich erwünschte Überwachungskamera auf signifikanten öffentlichen Plätzen provoziert politische Gegenwehr. Gerade auch von jenen, die es für »normal« halten, dass die Spuren ihrer Internet-Aktivitäten, vornehmlich ihres Kaufverhaltens, von privaten Interessenten überwacht, aufgezeichnet & zur Erstellung ihres persönlichen Profils gehortet werden. Wehe aber, der Staat würde in die Lage versetzt, z.B. durch temporäre Vorratsdatenspeicherung, den Bürger dadurch einer unzumutbaren Kollektivverdächtigung auszusetzen, die unsere freiheitlich-liberale Gesellschaftsordnung aushöhlt & untergräbt! Dabei glaubt sich der ablehnende, protestierende Bürger vollauf im Recht, wenn er argumentiert, dass durch vermehrte Überwachungskameras nicht mehr Sicherheit gegen die Geißel der terroristischen Anschläge entstehe. Das stimmt ja auch. Wenn sich wer in der Öffentlichkeit in die Luft sprengen (& als islamischer Märtyrer möglichst viel Lebende mit ins versprochene Paradies nehmen) will, könnte ihn auch, selbst wenn er auf einer Überwachungskamera als potentieller Attentäter entdeckt worden wäre, das nicht von seiner Tat abhalten. Zumindest solange nicht, als es noch nicht Mittel gibt, die sein Vorhaben derart verraten könnte, wie die Wärmebild-Identifikation heute schon Erkenntnisse liefert, die über den Augenschein hinausgehen.

Aber als wegweisendes oder schlagendes Argument wider die Inflation von Überwachungskameras wird das nicht ausreichen. Wenn die Überwachungskameras zwar keinen selbstmörderischen Terror annoncieren & verhindern können, so waren sie aber schon in der Lage, eine besonders heimtückische Art des Terrorismus (Deponierung eines Sprengsatzes) ausfindig & dingfest zu machen. Außerdem leisten sie, wenn auch nur nachträglich, erfolgreiche erkennungsdienstliche Hilfen, um die Täter möglichst schnell zu identifizieren, bzw. zu überführen – oft auch durch private (kommerziell eingerichtete) Überwachungskameras. Wat nu?

Artikel online seit 25.04.17
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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