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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Petits riens (sechzehn)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Landläufig.- Auf dem flachen Land unterwegs in Norddeutschland kann man nicht nur die üblichen touristischen »Entdeckungen« machen – also Städte, Schlösser, Burgen, Marktplätze, Kirchen etc. – sondern auch auf den Straßen gibt es manches zu bestaunen, das einem Großstädter bislang fremd war. Z.B. ausgefallene Automodelle. So sah ich auf dem Fußweg durch das nordhessische Melsungen einen zweisitzigen  Alfa Romeo Sportwagen (4C 1), wie er mir noch nie in Frankfurt am Main, dem wahrlich reichen Rhein-Main-Gebiet oder auf der Autobahn begegnet ist. Ein paar Kilometer weiter in Fritzlar begegnete mir ein noch nie zuvor gesehener Sportwagen von Opel (GT), der allerdings wie ein schlichtes Imitat des eleganten Alfa-Designs wirkte. Zweimal sind mir auf den schönen norddeutschen Landstraßen innerhalb einer Woche Ferraris Testarossas  begegnet. Ganz zu schweigen von jenen ein- bis dreisitzigen monströsen Motorrädern, die (wie ich jetzt nach langer Internetsuche herausgefunden habe) »Trikes« heißen, offenbar meist gemietet werden & die sich in Großstädten so gut wie nie sehen lassen.

Was sagt uns das? Dass »auf dem Land« (wo jeder jeden kennt & sieht) das Auto für die ländliche Klasse der Reichen noch als deutlich sichtbares Zeichen fungiert -  dafür, dass man einen besonderen Geschmack hat & nicht nur das Geld dazu, sondern auch das Wissen, wie man seinesgleichen demütigend »auf die Plätze verweist«. Mercedes & selbst die Coupés sind wie der Porsche gewissermaßen, wegen ihres häufigen Vorkommens, »vulgär«. Wo im Gegensatz zu den metropolitanen Ballungsräumen  noch genügend Platz zum Ausfahren & Gesehen-werden vorhanden ist, hat man auch gleich mehrere ansehnliche Pferde(stärken) im Stall: Heute wie ehedem.

                                             *

Die verlassenen Bücher –Jährliches Klassentreffen der Siebzigpluplusgeneration. Vor einem Jahrzehnt noch waren Bücher gerne erwünscht, vor allem von den weiblichen Klassengenossinnen. »Endlich hatte man im Alter Zeit zum Lesen«. In der freudigen Erwartung, den ergrauten Mitabiturienten eine Freude zu machen, hat eine unter ihnen, die beruflich mit Büchern zu tun hatte, mehr als ein Dutzend Romane & Erzählungen als Geschenke mitgebracht. Beim ersten gemeinsamen Hotelfrühstück liegen sie aufeinander gestapelt als Bücherturm mitten im Raum.

Jedoch keine(r) der Frühstückenden offenbart das geringste Interesse an den Büchern, noch nicht einmal ein Blick der Neugier eines einzigen fällt auf den Bücherturm. Dabei war es doch noch diese Generation, die mit Lektüre als »geistigem Lebensmittel« groß (& alt) geworden war. In den Tischgesprächen der letzten Jahre wurde immer wieder das bestürzend abgenommene Interesse der Enkel an Büchern & dem Bücherlesen sorgenvoll  besprochen.  Keines neugierigen Blickes gewürdigt, werden die mitgebrachten verwaisten Bücher dem Hotel überlassen.

Dort werden sie, wenn sie Glück haben, an verschwiegenem Ort, ohne noch jemals aufgeschlagen & gelesen worden zu sein, ihrem Exitus still & verlassen entgegen dämmern.                                                                                                                                                                                             *

OrtsfetischismusDie zweistöckige Villa mit 5 Schlafzimmern & 6 Badezimmern am San Remo Drive in Pacific Palisades am Westrand von Los Angeles, in der Thomas Mann mit seiner Familie zehn Jahre (1942/52) gewohnt & gearbeitet hatte, steht augenblicklich zum Verkauf. Das Grundstück in einer der besten & teuersten Lagen der amerikanischen Filmmetropole – wo sich die Superreichen der »Traumfabrik« niedergelassen haben – wird für an die15 Millionen $ zum Kauf angeboten. Der potentielle Käufer könnte aber das Haus, in dem der Lübecker Nobelpreisträger vor allem sein Alterswerk, u.a. den »Dr.Faustus« & unzählige Briefe an alle Welt geschrieben hat, auch abreißen & neu bebauen.

Diese Möglichkeit hat eine »Gesellschaft für Exilforschung« auf den Plan gerufen & »darunter viele Autoren, Verleger und Künstler, an der Spitze Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller«, meldete dpa. In einer von  mehr als 2500 Personen unterzeichneten Petition wird die deutsche Bundesregierung aufgefordert, das Haus zu kaufen & es zu einem »Erinnerungs- und Begegnungsort auszubauen«. Dabei gibt es genau das schon in nächster Nähe - & sogar viel schöner, weitläufiger. Seit 1995 ist Lion Feuchtwangers »Villa Aurora« als Geschenk von dessen Witwe im Besitz der Bundesrepublik Deutschland. Das »wahre Schloß am Meer«, wie Thomas Mann das umfängliche Anwesen nannte, in dem sich während des amerikanischen Exils die deutsche antifaschistische Kolonie die Klinke in die Hand gab, dient heute nicht nur als Erinnerungsort, sondern auch als Arbeitsort – ähnlich wie die römische Villa Massimo – für Künstler. Über 300 Stipendiaten sind seither schon in der Villa Aurora gewesen. Wozu & warum noch eine »Begegnungsstätte« in L.A.?

Die öffentliche Erregung über die mögliche Zukunft der ehemaligen Thomas-Mann-Villa in L.A. ist hysterisch. Sie verdankt sich dem weitverbreiteten Authentizitätsfetischismus, von dem sich der weltweite massenhafte Kulturtourismus höchst lukrativ nährt. Als sei der Wohnraum, in dem ein Künstler das Werk seine Phantasie geschaffen hat, ein heiliger Ort der Schöpfung, der auf jeden Fall zur Pilgerstätte musealisiert werden muss. Als gehöre nicht Ort & Raum wie der Mensch, der in ihnen sein Oeuvre schuf, zum Vergehen der Zeit & des Lebens! Als habe nicht Oscar Wilde in seinem Roman »Das Bildnis des Dorian Gray« alles Notwendige zum Kunstwerk & Autor & Leben gesagt.

Der »Begegnung« mit der Kunst & der Erinnerung an sie dient einzig jeder Lektüre oder aneignende Wahrnehmung eines Kunstwerks & nicht das Begehen eines musealisierten Lebensraums, dem die Kunst einmal entsprungen war. Banausisch & kunstfeindlich ist nicht das Desinteresse am Schicksal der Thomas-Mann-Villa in L.A., sondern das laute Rascheln im feuilletonistischen Blätterwald, den eine Online-Petition von 2500 Unterzeichnern verursacht hat, an deren Prominenzspitze Herta Müller steht.

Hätte Thomas Manns deutsche Nobelpreisträgerkollegin sich nicht  zur imponierenden Karyatide für diese Petition machen lassen, hätte man das absurde Ansinnen mit verdientem Stillschweigen übergehen können. So aber scheint es mir notwendig, dem symptomatischen zeitgenössischen Irrlauf zu einem vermeintlichen Denkmal  entgegenzusprechen.

Eine ganz andere Art von Ortsfetischismus wird aus dem österreichischen Braunau gerade gemeldet. Dort soll das ganz & gar unschuldige Geburtshaus Hitlers »baulich dekonstruiert und verfremdet« werden, wie ich einem Bericht der »Welt« entnehme, die diese Empfehlung einer von der österreichischen Regierung eingesetzten Kommission« zurecht für falsch hält.

Entweder handelt es sich dabei um die Fortsetzung eines religiösen Archaismus, mit dem hier das »Erscheinen des Teufels« oder andernorts der Jungfrau Maria dingfest gemacht werden soll. Oder es ist eine vorauseilende Initiative der Österreichischen Fremdenverkehrsindustrie. Wahrscheinlich beides in einem.

                                              *

AfD-Wahlplakat in Mecklenburg-Vorpommern: »Weil wir für EUCH sind, sind sie gegen uns.« In C-Dur die klassische Melodie aller Rattenfänger-Lieder.

Artikel online seit 06.10.16
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen diesen flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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