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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 03.04.13

Eine packende Parabel

Martin von Arndts neuer Roman »Tage der Nemesis«

Von Lothar Struck




 

Ein türkischer Gemüsehändler liegt mit einem gezielten Kopfschuss tot auf einer Straße in Berlin. Der Täter wurde unweit des Tatortes gefasst; er ist sogar geständig. Scheinbar ein einfacher Fall für Kommissar Dr. Andreas Eckart und sein Team um den grantigen Wagner und emsigen Rosenberg. Aber dabei bleibt es nicht und wer hier eine politisch brisante Konstellation entdeckt, wird nicht enttäuscht werden. Obwohl der Mord im Januar 1921 geschah. Das Opfer ist auch kein Gemüsehändler, sondern ein türkischer Exilpolitiker, der als einer der Hauptverantwortlichen für den 1915 von einer türkischen Regierungsclique verübten Genozid an den Armeniern gilt. Der Tatverdächtige ist ein Armenier. Dahinter soll eine ominöse armenische Geheimorganisation stehen, die mit einer "Operation Nemesis" Rache für die ungesühnten Massaker nimmt. So scheint es zunächst.

Natürlich ist es noch weitaus verzwickter. Dabei rückt vor allem die Person Eckarts, des leitenden Kommissars, in den Vordergrund. Eckart wurde 1885 geboren; seine Mutter war Italienerin, der eigentliche Vorname ist "Andrea", in Italien ein männlicher Rufname. Früh musste Eckart seine Loyalität zu Deutschland immer wieder neu "beweisen". Er trat in die Armee ein und zog anfangs durchaus willig in den Krieg, den er als Leutnant beendete. Jahre später sieht er sich als Republikaner, als Repräsentant eines demokratischen Deutschlands. Sein Mitarbeiter Wagner verkörpert das Gegenteil: er ist kaisertreu, deutschnational, steht für das "alte Deutschland". Rosenberg, Eckarts "Lieblingsassistent", ist Jude, was gelegentlich zu despektierlichen Bemerkungen auf dem Revier führt. Etwas bemüht die Stelle zu Beginn, wenn über das Massaker an den Armeniern im Kommissariat als ein einmaliger historischer Ausrutscher gesprochen wird und ausgerechnet Rosenberg konstatiert: "Zum Glück ist so was hier nicht möglich." Darauf  lachte der Kommissar "scharf auf" und antwortete schließlich: "Ich weiß nicht, wieviel Ihre demokratische Presse wert ist, Rosenberg. Was bedeuten schon Menschen gegenüber den Interessen von Militär oder Wirtschaft."       

Eckart ist psychisch gezeichnet, ein Kriegszitterer, was er gut zu verbergen weiß.  Eindrucksvoll die alptraumhaften Szenen, die ihn gelegentlich fast überfallartig heimsuchen und mit Morphium, dieser "warme[n], wässrige[n] Leere", versucht, zu bannen. Und dann das Eintreten des "Gierschlafs" der Morphiumsüchtigen, "ein Dämmern, das nicht erholte, das noch müder machte, das es nach der nächsten Spritze verlangte." Trotz des immer im Mantel griffbereiten Morphiumfläschchens ermittelt Eckart seriös und gerät immer tiefer in die Szene der türkischen und armenischen Exilanten. Als ein Mord in Rom geschieht, der in das Schema der Operation Nemesis zu passen scheint, macht er sich auf eigene Faust auf den Weg. Die Begegnung mit Commissario Leopardi im Heimatland seiner Mutter beflügelt ihn; das Morphium braucht er nur noch selten. Wie so viele Deutsche, hat er sein Sehnsuchtsland erreicht. Leopardi ist ein angenehmer Zeitgenosse, aber das Land steuert Anfang 1922 bereits auf die Mussolini-Diktatur zu, wie von Arndt unaufdringlich aber eindrucksvoll einwebt. Aber Eckart muss wieder zurück – erneut gibt es zwei Tote in Berlin.

Nach zwei wunderbaren Büchern über die Seelenexkursionen von Außenseitern, Aus-der-Welt-Gefallenen (ego shooter und Der Tod ist ein Postmann mit Hut) und seinem Roman über die heutigen politischen, sozialen und sexuellen Abgründe in Weißrußland (Oktoberplatz) bietet Martin von Arndt mit "Tage der Nemesis" einen rasant geschriebenen Roman, vordergründig eine Mischung aus Doku-fiktionalem Krimi und Historiendrama, der sich gegen Ende zu einem aufregenden Polit-Thriller mit einigen unvorhersehbaren Pointen entfaltet. Schließlich kommen auch noch die Politik und die Geheimdienste ins Spiel, gilt es schließlich auf die Entwicklungen in der Türkei – ein gewisser Mustafa Kemal später Atatürk genannt erscheint als neue, wichtige politische Figur – Rücksicht zu nehmen. Mit dem Protagonisten Eckart bleibt sich von Arndt was die melancholische Haltung seiner Haupthelden angeht, treu. Dazwischen findet sich noch so manch bemerkenswerte Wahrnehmung, etwa wenn ein Händedruck erzählt wird als "fast wie zwischen zwei leblosen Personen" oder das "gleichzeitige Ausatmen mehrerer Personen im Raum". Auf die zahlreichen richtigen wie falschen Fährten verbietet es sich im Rahmen eines solchen Begleitschreibens einzugehen. Martin von Arndt gelingt es, die Spannung bis zum Schluss zu halten.

Aber vor allem entwickelt sich jenseits der Spannungsmomente der Falllösungen (es gibt mehrere Tote) eine packende Parabel über Recht und Gerechtigkeit. Dürfen die armenischen Killerkommandos den ansonsten von der türkischen Regierung (und ihren Verbündeten) unsanktionierten Massenmord an ihren Familienangehörigen, Bekannten, Freunden und Landsleuten mit Selbstjustiz rächen? Immer wieder stellt sich Eckart diese Frage - nach der Legitimation dieser Form von Rache. Heute denkt man unweigerlich an die Racheaktionen bspw. des Mossad bei den Olympia-Attentätern von 1972 und an den entsprechenden Spielberg-Film.

In einem Vorwort erklärt von Arndt die Balance von Fiktion und historischen Fakten; am Ende des Buches wird dies durch einige Quellenangaben ergänzt. Ausdrücklich wird auf die Neutralität hingewiesen. "Tage der Nemesis" sollte schleunigst ins Türkische und Armenische übersetzt werden. Es bietet nicht nur gute Unterhaltung, sondern auch fruchtbare, nachdenkliche Momente.  Lothar Struck
 

Martin von Arndt
Tage der Nemesis
Roman ars vivendi
390 Seiten
18,90 €
978-3-86913-424-6

 

 


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