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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Seelenexkursionen

Über Martin von Arndts neuen Roman »Oktoberplatz«

Von Lothar Struck

Wasil Mikalajewitsch (auch Wasja genannt) ist Jahrgang 1974. Seine Familie (mit ungarischen Wurzeln; Parallelen zu Kovács aus ego shooter und dem Autor selber) hatte es in den Wirren des 20. Jahrhunderts in die Nähe von Hrodna, in den Westen Rußlands, der aber doch eigentlich der Osten ist, verschlagen. Bestimmende Persönlichkeit in der Familie ist Großvater István, der Rote Ungar (längst politisch desillusioniert), der 1988 ebenso überraschend wie tragisch mit 80 Jahren stirbt und somit die Geburt seines vierten Kindes Marya um wenige Monate verpasst. Maryas Mutter hat es mit 45 Jahren auch nicht leicht; das Kind wird hauptsächlich von Wasils Tanten Alezja und vor allem Tatsiana betreut (keine Angst: es gibt eine erklärende Ahnentafel und ein kleines Register des russisch-weißrussischen Vornamendickichts). Istváns Erstgeborener Mikola, am Ende ein Alkoholiker und Ikonenschmuggler, schwängerte mit 16 Jahren die gleichaltrige Sweta - Wasils Eltern, die bei seiner Entwicklung so gut wie keine Rolle spielen (und dennoch: bei den Begräbniszeremonien anlässlich des frühen Unfalltods der beiden eine ergreifende Reminiszenz Wasils über die Vergeblichkeit der Existenz insbesondere des Vaters).

Sehnsuchtsort Hrodna

Natürlich kommt von Arndt bei dieser Konstellation nicht ganz an alkoholgeschwängerte Atmosphäreneinheiten vorbei. Die Männer haben eben großen Durst und allabendlich ziehen sie von einem Haus zum nächsten und sprechen sich die Lage des Landes schön. Istváns Leber soll beträchtliche Ausmaße gehabt haben. Dieses bizarre Wimmeltheater der Welt um Hrodna erinnert zuweilen an ein Potpourri aus Magrebinischen Geschichten und der seligen Kohlenrauch-Gemütlichkeit von Andrzej Stasiuks Medziborie (wobei Hrodna als literarischer Ort nach der Lektüre von "Oktoberplatz" mindestens ebenbürtig betrachtet werden muss). Aber glücklicherweise werden Stilisierungen wie auch peinliche Idealisierungen im Keim erstickt. Da sind zum Beispiel die lakonisch inszenierten Trostlosigkeiten, die dann doch - wenn auch nur kurz - das Gefühl von Geborgenheit evozieren (Heimweh ist mein großväterliches Erbe entdeckt Wasil in der aufgezwungenen Internatshölle). Immer wieder wenn Wasil in den nächsten Jahren infolge diverser familiärer Sterbefälle nach Hrodna zurückkehrt, gelingen wunderbare Beschwörungen wie beispielsweise im Rekurs auf "seine" Toten:

Meine Toten. Meine Toten. Auf der langen Zugfahrt in mein altes Leben habe ich all meine Toten zusammengesucht. Großpapa, den ich in Budapest zurückgelassen hatte, Großmama, Vater, Mutter, Nadja 1, Jadwiha, Nadja 2. Die einen sind gestorben und die anderen sind’s auch. Die einen mit dem Kopf voran gegen einen Baum. Eins geworden mit ihrem Auto. Die anderen haben sich so oft gehäutet in ihren fünfundzwanzig Jahren, daß ich ihnen nicht mehr als denselben Menschen begegne. In meiner Erinnerung sind sie längst gestorben. Mit dem Kopf voran gegen unsere gemeinsame Jugend. Uneins mit unseren gemeinsamen Erlebnissen. Nadja 1. Meine große Liebe der dritten Klasse. Längst tot. Motorradunfall. Unmittelbar nachdem sie den Führerschein bekommen hatte. Exitus noch an der Unfallstelle. Die grünen Augen, die’s mir angetan hatten, ein unvergleichliches Smaragdgrün: die hatten’s abbekommen. Das Gesicht eine einzige Schnittwunde, eine Fleischmaske, die Augäpfel wie chirurgisch entfernt. Und ich hatte es kein einziges Mal geschafft, mich in diesen Augen zu spiegeln. Oder wenn, dann nur aus nichtigem Anlaß. Und meine große Liebe der sechsten Klasse. Nadja 2. Auch tot. Tot oder Cellistin, die Meinungen gingen auseinander.

Die Ankunft in Hrodna folgt zum einem immergleichen, fast ritualisierten Schema, andererseits vermischen sich die Erinnerungen an diesen Kindheitsort mit den sich langsam aber stetig abzeichnenden (kritisch beäugten) Veränderungen:

Es war nicht anders als sonst: niemand holte mich von der Busstation ab. Nur der Weg nach Hause hatte sich verändert, die Straßen waren noch leerer, wahrscheinlich konnten sich meine Kleinstädter nicht einmal mehr das Tumbleweed leisten. Den Gemischtwarenladen gab es nicht mehr. Wo die Auslage des Magasins war, prangten jetzt Wahlplakate, die einen auf Weißrussisch, die anderen auf Russisch, man mußte nicht auf den Namen des Kandidaten oder den der Partei sehen, schon die Sprache sagte, wer wofür stand. Vor unserem Haus klaffte ein Loch, jemand hatte begonnen, neue Rohre zu verlegen und war darüber in Dornröschenschlaf gefallen. Die Garagen standen nicht mehr, Großpapas Elektroschrott lag auf einen großen Haufen gestapelt.

Raumschiff Weißrussland

Diese eher kontemplativen Momente sind selten für Wasil, der im Laufe der Geschichte vor allem mit seinen Tanten (die jünger bzw. nahezu gleichaltrig sind) zu tun hat. Eine begehrt und liebt er und den sexuellen Avancen der anderen erliegt er dann mehr oder weniger freiwillig und hat alle Hände voll zu tun, diese entsprechend zu koordinieren. Hinzu kommt: Mitten in der Pubertät, zunächst unbeachtet und unbemerkt, später dann mit einer immer stärkeren, fast dröhnenden Realität zerspringt auch noch die bräsige UdSSR-Seligkeit zu Gunsten eines neuen Staatsgebildes und der Abkömmling einer Flüchtlingsfamilie findet sich in einem neuen Land wieder, das nun Belarus heißt. Und so gut wie niemand weiß, was das bedeutet.

Von Arndt flechtet diese politisch-sozialen Veränderungen durchaus in den Roman ein; der Verlag wirbt mit der Recherche des Autors vor Ort und mit dessen Kontakten zu weißrussischen Oppositionellen (denen am Ende des Buches gedankt wird). Auch der Titel "Oktoberplatz" suggeriert einen politischen Hintergrund. Glücklicherweise ist dieser jedoch nicht mit dem groben Pinsel des besserwisserischen Menschenrechtsaktivisten aufgetragen, sondern nur in sehr feinen und dafür dann umso wirkungsvolleren Strichen skizziert. Wenn Wasil bei einer Zeitung in Minsk mitarbeitet um sein Studium finanziell zu stützen, trifft er auf eine Redaktion, die stark an Tabucchis "Erklärt Pereira" erinnert. "In Zeiten, in denen der Westen unser Land mit seinem Warenkonsumismus vergewaltigt, brauchen wir eine Ideologie", so das Credo dieser Zeitung, die natürlich (und sicherheitshalber) auf die "Ideologie" des Präsidenten zurückgreift. Als dann Linienmaschinen in die Schaltzentralen der amerikanischen Macht einkrachen, entschloss sich die Chefredaktion nach einiger Überlegung doch noch diese Nachricht "zu bringen": Ein Einspalter auf Seite 14. Unter Vermischtes. Muss man mehr sagen? Nein.

So taumeln sie (fast) alle in diesem Raumschiff mit sozialistischen Butzenscheiben, das sich Weißrussland nennt. Zur völligen Überraschung Wasils stellt sich plötzlich heraus, dass sein bester Freund Stanislau (Stas [sic!]), der sich konspirativ politisch für die Opposition engagiert und irgendwann von der Universität relegiert wird, seit zwei Jahren der Liebhaber von Tatsiana ist, der einst so exzessiv begehrten und später dann geliebten Tante. Seinen Ritterschlag in der Szene erhält Stas als er wegen Beleidigung des Präsidenten verhaftet wird. Dass diese Oppositionsarbeit kein Vergnügen und die Lage nicht eben putzig ist, wird an kleinen Szenen deutlich, die sehr fein in den Roman eingebunden werden. Beispielsweise als wieder einmal auf dem Oktoberplatz in Minsk gegen den Präsidenten demonstriert wird und alte Frauen….Suppen und böse wie gute Worte beibrachten, die einen, um damit aufzustacheln, die anderen um Mut zu machen. Das Resultat war dann, dass sich am Abend immer mehr Demonstranten übergeben mussten; später kamen auch noch Darmkoliken dazu.

Äußerlich passt sich Wasil dieser passiv-resignativen Grundstimmung an. Im Inneren jedoch brodelt es in ihm und er heckt einen teuflischen Plan aus, dessen der Leser auf den ersten Seiten in groben Zügen und unvollständig kurz gewärtig wird, bevor dann die Erzählung des Vergangenen erfolgt. Die genauen Details und das fulminante Ende sollen hier nicht verraten werden. Nur so viel: Der Roman behält seine Frische auch wenn man die Pointe kennt (und bis zur Auflösung mindestens zweimal in die Irre geführt wird). Es ist sogar fast erleichternd, die Wendungen zu kennen, weil man sich beim zweiten Lesen endlich auf die schönen Kleinigkeiten in diesem vor lauter Pretiosen wimmelnden Buch konzentrieren kann und so manches motivische Kabinettstückchen nachträglich noch eine besondere Wirkung entfaltet.  

Seelenexkursionen

Wasil reiht sich nahtlos in die Riege der von-Arndt-Protagonisten ein. Man denke an den Proficomputerspieler Kovács aus "ego shooter", der nach dem Tod seiner wichtigsten Menschen als einzige Bezugsperson noch den Tankstellenbesitzer kennt, der ihm die onlinebestellten Lebensmittel vor die Tür bringt. Fast eingemauert in seiner Wohnung gibt sich Kovács seinen Trinkexzesse hin, mixt "Cocktails" mit Beruhigungs- und Schmerztabletten, Morphinen oder anderen, gerade in Reichweite verfügbaren Medikamenten und Getränken. Dagegen scheint es Julio C. Rampf aus Der Tod ist ein Postmann mit Hut noch gut getroffen zu haben. Der 40jährige Gelegenheitsmusiker, ein Piefke in Österreich, wurde nach 20 Jahren von seiner Frau verlassen. Er erhält mysteriöse Briefe (er vermutet sie dahinter) und droht in ein Oblomow-Dasein zu versinken, aber gerade noch rechtzeitig findet er im Frühpensionisten Koloman (Kosename "Grantler"), einem Vier-Zentner-Hünen und optisch eine Mischung aus Inspektor Columbo (sic!) und einer Manfred-Deix-Figur einen Menschen, der ihn vor diesem Absturz bewahrt. Zwischen den beiden Versehrten entwickelt sich eine herzliche aber unspektakulär-lakonische Freundschaft so unterschiedlich Alter, Lebenslauf, Interessen, Herkunft und Körperfülle auch sein mögen. Mit dem sich früh abzeichnenden Ableben Kolomans (die Morphiumpflaster halfen irgendwann nicht mehr), werden die anfangs als Bedrohung empfundenen eingeschriebenen Briefe deren Schreiber/in nicht ermittelt werden konnte, zu Rampfs fast einzigem Kontakt nach draußen, der ihn vor einer veritablen Depression bewahrt.

Es sind allesamt einsame Figuren, die an und in dem leiden, was man großspurig als existentielle Obdachlosigkeit bezeichnen könnte - allerdings ohne dieses Leiden als Attitüde zu stilisieren. Ihnen gemein ist eine Lebenssehnsucht und Menschenbedürftigkeit. Aber wie soll es ohne den einen "Lebensmenschen" gehen? Wie soll man diesen finden, wenn man ihn verloren hat? Minsk ist keine Stadt der Sehnsucht sagt Marya einmal zu Wasil. Und das gilt auch für Essen und Innsbruck. Von Arndts Romane sind keine Literatur, in der sich die Protagonisten in einem durch und durch verblödeten Behaglichkeits-Repertoire  einrichten oder gar niederlassen. "Du kannst nichts besser als davonlaufen" imaginiert Wasil im Gespräch mit seinem toten Großvater. Ist das nun ein Vorwurf oder ein Kompliment?

Fernab jeder Stereotypisierung sind diese Bücher Seelenexkursionen von Aus-der-Welt-Gefallenen, die man im luftig-leichten Gewebe der jeweiligen Geschichte sehr leicht überlesen kann. Mit diesem doppelten Boden weiten sich von Arndts Romane noch einmal; sie erzeugen eine zweite, erfrischende Luft. " Dem Einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nützlich deucht; aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch", lässt Goethe Ottilie in ihr Tagebuch schreiben. Und dieses flirrende, dabei von jedem Pathos freie Oszillieren zwischen dem selbstbewussten (Roman-)Individuum und dessen Suche nach dem "Du" (nicht so ganz fern hier Marin Buber) ist in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur längst nicht selbstverständlich. Es tut, im wörtlichen Sinne, wohl. Lothar Struck
 

Martin von Arndt
Oktoberplatz

Meine großen dunklen Pferde. Roman
Klöpfer & Meyer
mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86351-023-7
[D] 19,90 / [A] 20,50/ sfr 28,50*



 


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