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Die
Sehnsucht nach den Sternen
Über Tom Bulloghs hinreißenden Roman
»Die
Mechanik des Himmels«
Von Jürgen Nielsen-Sikora
Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Glaube an Fortschritt und Wissenschaft nahezu
grenzenlos. Überall hält der Positivismus Einzug in das europäische
Geistesleben. Charles Darwin erschüttert das Selbstbild des Menschen. Marx und
Bakunin streiten für eine andere Gesellschaft. Auch Turgenew und Dostojewski
üben Kritik an den herrschen Verhältnissen. In der Reise um den Mond
lässt Jules Verne seine Helden in einer übergroßen Kanonenkugel ins All fliegen.
Es ist die Geburtsstunde des Telefons. Und des Sprengstoffs. Ingres Odalisken
sind Vorbild eines neuen weiblichen Körperideals. Baudelaire besingt Dekadenz
und Morbidität. Die Impressionisten feiern die Flüchtigkeit des Augenblicks.
Allein der Papst proklamiert seine Unfehlbarkeit. Mussorgski säuft sich zu Tode.
Die europäischen Staaten blähen sich mit neuen Kolonien auf. Aber das
vorrevolutionäre, zaristische Russland gleicht einem einzigen großen Bauernhof.
Zu dieser Zeit erkrankt in dem kleinen Dorf Ischewskoje, 300 Kilometer
südöstlich von Moskau, ein kleiner Junge an Scharlach. Seine Name: Konstantin
Ziolkowski, genannt Kostja. Trotz des unglaublichen technischen und
medizinischen Fortschritts bleibt die Krankheit lebensbedrohlich: Friedrich
Rückert schreibt nach dem Verlust seiner beiden Kinder mehr als 400
Kindertodtenlieder, in denen die unsterbliche Zeile steht: „Du bist
ein Schatten am Tage / Und in der Nacht mein Licht.“
Die Krankheit kann erst mit Erfindung des Penicillins in den 1920er Jahren
erfolgreich behandelt werden.
Der kleine Kostja überlebt, leidet aber infolge der Krankheit an
Schwerhörigkeit. Mit einem selbst gebauten Hörrohr bleibt er fortan mit seiner
Außenwelt in Kontakt und schwärmt für die Astronomie, die Musik der Mathematik
und die Schönheit des Universums.
Tom Bulloughs Roman über Konstantin Ziolkowskis Kinder- und Jugendjahre setzt
mit der Erkrankung des Kleinen 1867 ein und endet mit der Heirat des 24-Jährigen
im Herbst 1881. Der Autodidakt Ziolkowski, inspiriert durch Vernes Romane, gilt
als lange Zeit unterschätzter Visionär der Raumfahrt. Trotz seiner wegweisenden
Thesen zum Raketenantrieb steht er bis heute im Schatten von Pionieren wie
Hermann Oberth, Wernher von Braun und Sergei Koroljow.
Auf Grundlage von Ziolkowskis Leben (1857-1935) erzählt Bullough von der
Sehnsucht nach den Sternen. Die Erkrankung des Zehnjährigen deutet er als
zentrale Erfahrung des jungen Kostja. Auf dem Weg zum Krankenlager wird dem
Jungen die eigene Sterblichkeit ebenso bewusst wie er in die Ewigkeit des Alls
zu blicken vermag: „Als die Peitsche über den Pferderücken flog, hörte Kostja
sich selbst aufstöhnen und sah, wie sich die Schneeflocken aus der Dunkelheit
schlängelten, ganz wie Sterne, die von ihrem himmlischen Platz abfallen... Er
stellte sich vor, die Sterne wären Geschöpfe eines gewaltigen Geschöpfes,
vielleicht von Gott selbst. Er stellte sich vor, dass er durch den Äther flöge,
nicht von Pferden, sondern von einer Schwanenschar gezogen, und dass er bald auf
einem anderen Planeten landen würde...“
„Kleiner Vogel“ nennt ihn seine Mutter. Fliegen wird er zwar nie. Doch plötzlich
tauchen Antworten auf, die den Ausflug in den Weltraum in Zukunft möglich machen
sollen. Zuvor aber muss Kostja nicht nur gegen die Schwerkraft ankämpfen,
sondern auch gegen seine Angst vor der Hexe Baba Jaga und den Wölfen, die ihn in
den Wäldern Russlands verfolgen. Es ist das gleiche Schicksal, das am Ende des
Romans der Kosmonaut Leonow erleidet — jener berühmt gewordene Spaziergänger im
All, der im März 1965 aus der Woschod 2 aussteigt um ein Menschenleben später
Kostjas Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
Bullough gelingt mit Die Mechanik des Himmels ein hinreißendes Stück
Prosa über die Wunschträume eines kleinen, kranken und armen, doch stets mutigen
und entschlossenen Jungen im Russland des 19. Jahrhunderts. Es ist Bulloughs
Verdienst, die Aufmerksamkeit auch auf die historische Person Zioltkowski zu
lenken und ihn aus seinem Schattendasein in der Öffentlichkeit herauszuholen.
Gekonnt zeichnet er die soziale Atmosphäre im Zarenreich nach. Manchmal nur sind
die Szenen übertrieben farbenfroh: Die von Gold durchzogenen Linden, das
jubelnde Gold der Kirchenkuppel, die goldenen Wolken, die goldene Stadt,
gelbbraune Paläste und gelbbraune Schulhöfe, eisgraues Wasser und silbrige
Heckwellen. Alles funkelt und schillert und glänzt. Alles blüht und ist bunt und
wieder bunt. Hin und wieder sind auch die Gegensätze zu stark akzentuiert: Sonne
und Eis, Himmel und Erde, Tag und Nacht, Licht und Schatten, Blut und Wasser,
Felder und Sterne, die spätsommerliche Pracht der Landschaft und die
Farblosigkeit der Menschen. Aber wer weiß schon zu sagen, ob die Welt nicht
genau so aussieht?
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Tom Bullough
Die Mechanik des Himmels
Roman
Aus dem Englischen übersetzt
von Thomas Melle
C.H. Beck Verlag
229 Seiten
Gebunden
18,95 Euro
978-3-406-62998-3
Leseprobe
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