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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Die Durchkapitalisierung der Literatur & der Person

Ein paar Überlegungen zu Charles Dickens - ohne Ansehung seiner Romane

Von Wolfram Schütte

Schon bevor ich auch nur eine Zeile von ihm gelesen hatte, hat mich Charles Dickens  fasziniert. Und  zwar Dickens als (öffentliche) Person & durch die Art seiner durchkapitalisierten literarischen Produktion.: also den alle großen Säle füllenden Vorleser aus eigenen Werken und den Autor, der seine umfangreichen Romane zuerst portionsweise in Vorabdrucken in Zeitschriften publizierte, die Dickens sogar selbst betrieb & die er (gewissermaßen) als sein eigenes “Blog” mit Artikeln & aktuellem Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Themen versah & als der Adapteur, der sich  nicht scheute, seine Romane auch als Schauspiele auf die Bühne zu bringen - ein Genre-Transfer, der heute wieder auf unseren Bühnen an der Tagesordnung ist (kürzlich z.B. mit “Die Wahlverwandtschaften”, als habe Goethe keine Theaterstücke geschrieben. Aber der Bühnenbearbeiter & meist auch Regisseur kann für seine Bearbeitung ein Autorenhonorar einstreichen!)

Ohne zu wissen, ob einzig er derart mit seiner laufenden literarischen Produktion so verfuhr - soviel ich weiß, hatten aber auch seine Freunde & Kollegen Wilkie Collins & Bulwer-Lytton in Dickens' Magazinen publiziert -, war er doch wohl, im Hinblick auf seine literarische Qualität, eine singuläre Erscheinung sowohl für seine Publikations- & Produktionsmethode als auch in seiner öffentlichen Rolle als Vorleser aus seinen eigenen Werken. Das war eine öffentliche Tätigkeit, die er, der ja nicht nur ein Pathetiker  rührender Szenen, sondern auch ein veritabler Satiriker war, wie nach ihm Karl Kraus ausübte - gelegentlich mit dem Hinweis, wonach die Einnahmen des Vorlese-Abends einer sozialen Institution zugute kämen.

Was mich an Dickens faszinierte, war also noch gar nicht sein Oeuvre, das ich ja nicht kannte, sondern sein empirisch-materieller Umgang damit, es war also das Flüchtigste & Eigenartigste seiner empirischen Person und deren geschäftlichen Strategien, die sich auf einen immer umfangreicheren Absatzmarkt einstellen mussten. Denn Dickens schrieb noch vor der gesellschaftlich-kommerziellen Scheidung von sogenannter Hoch- & Trivialliteratur.

Während man sich den genusslesenden Viktorianer mit fuchtelnden Armen hinter einem Schreibtisch auf einer Bühne in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal vorstellt, weiß man zugleich, dass Derartiges weder von Flaubert - dem einsamen Prosa-Brüller in seinen vier Wänden -, noch von Fontane denkbar wäre. Es wäre geradezu absurd, sich die beiden kontinentaleuropäischen Dickens-Zeitgenossen in dessen Rolle zu imaginieren.

Allerdings war Dickens schon zu seinen Lebzeiten als britischer Nationalautor anerkannt, und wahrscheinlich ist auch kein großer Schriftsteller je derart geliebt und verehrt worden wie Dickens zu seiner Zeit (während Flaubert und Fontane nur unter der happy few ihrer landsmannschaftlichen Zeitgenossen bekannt gewesen sein dürften.)

Wie Mozart unter den europäischen Komponisten der erste war, der sich als freier Künstler auf dem Musikmarkt zu behaupten suchte, indem er seine ganze Existenz auf sein künstlerische Talent als Pianist & Komponist stellte, so hat der (wie von Fontane) gewesene Journalist Dickens sein Leben & die aufwendige Lebensweise seiner Großfamilie ganz & gar auf die Eroberungs- & Beutezüge seiner Feder im Imaginären & die ökonomischen Strategien eines die eigenen literarischen Kapitalien verwertenden Genies der Selbstdarstellung & Selbstausbeutung gestellt.

Was seinen Erfolg garantierte, war wahrscheinlich nicht nur die schauspielerische Meisterschaft des (leidenschaftlich laienspielenden) Schriftstellers, der seine literarischen Emanationen - sei's szenisch, sei's figürlich - gleich so anlegte, dass der Vorlesende sie umstandslos beschwören und den Zuhörern sie (so) plastisch vor Augen stellen konnte (wie heute der Bildschirm eine TV-Serie), sondern zugleich auch die überwältigende Gegenwart des grandiosen Demiurgen einer zwar de facto virtuellen, aber qua Suggestion täuschend real-realistischen Welt, die engen Kontakt mit der empirischen Welt der Zuhörer unterhielt. Das Verhältnis von Realität & Fiktion (z.B. im 19. Jahrhundert) ist ganz gewiss ein anderes, solange eine audiovisuelle Produktion, resp. Reproduktion noch nicht existiert.

Der Vorleser Dickens, dem in einem großem Saal ein Publikum atemlos zuhört, ist das moderne, urbane Nachbild des ursprünglichen Erzählers, wie er orientalisch noch heute in einzelnen Exemplaren, um die sich Zuhörer scharen, auf dem “Platz der Gehängten” in der Mitte Marrakeschs anzutreffen ist. Der einzige unter unseren Autoren, der Dickens als Rhetor & Vorleser heute das Wasser reichen könnte & auch mit gleicher Lust vorliest, ist Günter Grass, der auch als Moralist ähnlich wie Dickens sich öffentlich zu Wort meldet, wenn es auch heute schwieriger ist, die so gut wie konkurrenzlose Rolle des sich episch & situationistisch einmischenden Dickens nachzuspielen - besonders, wenn man - wie Grass - nicht auf weitreichende persönliche Sympathie beim Publikum rechnen darf.

Aber mit seinen vielfachen öffentlichen Vorleseabenden prägfigurierte der geschäftstüchtige Viktorianer eine heute in Deutschland (jedoch weder im angelsächsischen noch im romanischen Kulturbereich) übliche Erscheinung, die nicht nur poeta minores, sondern auch den erfolgreichen Autoren eine übers Buchhonorar weit hinausgehendes Zubrot ermöglicht: die sogenannte “Dichterlesung”.

Hätte nicht die öffentliche Hand in den Siebziger/Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in zahlreichen Groß- & Kleinstädten “Literaturhäuser” u.ä. “erfunden” & sie als Orte für die Literatur wie die Schauspielhäuser einst für die dramatische & komische (National-) Literatur etabliert, so wären die ursprünglich in den Buchhandlungen & von diesen & den Verlagen gesponserten Lesungen schon längst ausgestorben, weil der finanzielle Aufwand in keinem Verhältnis zum potentiellen Gewinn durch den davon provozierten Buchkauf steht.

Die Lesereisen der Autoren, die für einen abendlichen Auftritt in einem Literaturhaus zwischen 400 & 600 € (plus Spesen für Fahrt & Unterkunft) verdienen, finanzieren weitgehend deren empirisches Alltagsleben (& nicht selten auch das ihrer Familie, wenn nicht die jeweiligen Lebenspartner einen bürgerlichen Beruf haben.)

Das Einzigartige unserer Literaturhäuser ermöglicht ein zwar durch die öffentliche Hand, aber ohne deren mögliche Zensur gestütztes literarische Leben, in dem auch der ökonomisch nicht erfolgreiche Autor einzig von seinem literarischen Talent im Verbund mit der Authentizität seiner Person leben & überleben kann.

Dieses öffentliche Mäzenatentum setzt den darwinistischen Lebenskampf außer Kraft, den Literaten früher & heute noch in anderen Kulturen oft durch einen zweiten sogenannten “Brotberuf” bestehen müssen. In beiden Fällen wird das auch auf die literarischen Stoffe Auswirkungen haben - ganz zu schweigen vom Sozialcharakter der Autoren & ihren Vorstellungen von der sie umgebenden Gesellschaft.

Die großen Romane von Dickens sind - auch dies unterscheidet sie & ihn von Flaubert & Fontane - illustrativ auffällig unterfüttert. Damit wurde einerseits der Phantasiearbeit ihrer Leser unter die Arme gegriffen, andererseits behielt der Autor - der bestimmte, was illustriert wurde - die Verfügungsgewalt über die Imaginationsrichtung, in die sich seine Leser bewegen sollten. Die Illustrationen der Dickens-Romane bilden grosso modo schon so etwas wie deren Comic-Strip.

Durch Dickens' literarische Produktionsweise konnte er sich jeweils auf Augenhöhe mit seinem Publikum fühlen - gleichviel, ob er sich davon bestimmen ließ oder sein Publikum damit an der langen Leine führte. Das unter den Augen des sukzessive lesenden Publikums entstehende Werk wurde außerliterarisch zumindest mitbestimmt & folgte einer Spannungs- & Darstellungsdramaturgie, wie sie erst wieder in TV-Mehrteilern und deren Unterbrechung durch Werbeblöcke nötig wurde, um die Leser/Zuschauer über die fiktionsfremden Werbe-Abschweifungen “bei der Stange zu halten“.

Der Dickens seiner Zeit hat, weil er aus seinem künstlerischen Talent einen lukrativen Beruf machte & weil Großbritannien damals “an der vordersten Stelle des Weltprozesses” (Bloch) stand, schon vielfach sowohl die Produktionsweise als auch die Verwertungskette & die mediale Aufmerksamkeitsdramaturgie der modernen Unterhaltungsindustrie in nuce antizipiert.

Heute vor 200 Jahren wurde Charles Dickens, der Shakespeare der Prosa, geboren.
 


 


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