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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Das Universum Dürrenmatt

Zur neuen Biografie von Peter Rüedi über ein Schweizer Literaturwunder: »Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen«

Von Jürgen Seul

»Für den vielgescholtenen Literatur-Nobelpreis war Dürrenmatt einfach zu gut.« Salzburger Nachrichten

Neuenburg, der 28. November 1990
Ein grauer Tag, Nieselregen, am südlichen Fuß des Jura im Winter. Der Journalist Peter Rüedi ist mit dem Taxi unterwegs zu einer vertrauten Adresse, Pertuis-du-Sault 76. Vallon de l’Ermitage, autonome Republik Dürrenmatt. Deren Souverän hatte eingewilligt, ihn vor seinem 70. Geburtstag an drei aufeinanderfolgenden Tagen zu empfangen. Es war nicht das erste Gespräch zwischen den beiden. Dennoch ist Rüedi überrascht von Dürrenmatts gelassenem Ernst. Es hatte vermutlich mit seiner Lebenssituation zu tun haben – »auch wenn man sich hüten sollte, in eine solche Begegnung im Nachhinein Hinweise und Todesahnungen hineinzulesen. Wie auch immer: Ein Empfang zu Verlautbarungen von oben herab war es nicht,« wie der Journalist später schreibt.
Zu Friedrich Dürrenmatts 70. Geburtstag plant die Schweizer Wochenzeitung „Die Weltwoche“ eine Serie über den Grandseigneur der Schweizer Literatur. Max Rüedi genießt das Vertrauen seines Gastgebers, dem eine Sche
u vor der Offenbarung von Persönlichem in der Öffentlichkeit eigen ist. Doch Rüedi gegenüber ist er bereit, »Auskunft zu biographischen Hintergründen zu erteilen: sozusagen den Klartext zu liefern, was in seinem großen Alterswerk, den Stoffen, sofern es darin überhaupt auftaucht, denn doch geformt, gefiltert, stilisiert erscheint.«

Journalist und Schriftsteller sprechen über Gott und die Welt, was bei »Dürrenmatt nicht ein Gespräch über alles nichts, sondern über das All und das Nichts« heißt.
An den folgenden Tagen gibt es weitere Treffen, doch zur Serie in der ›Weltwoche‹ wird es nicht mehr kommen. Keine drei Wochen später bleibt das Herz des großen Dramatikers in den ersten Stunden des 14. Dezember 1990 stehen.

Der Plan einer biografischen Annäherung an einen der »Giganten des 20. oder auch jedes anderen Jahrhunderts«, wie das ›New York Magazine‹ schrieb, bleibt bestehen. Es wird mehr als eine bloße Zeitungsserie. Weit mehr. In den folgenden zwanzig Jahren wird Peter Rüedi an einer außerordentlichen großen Biografie arbeiten, sich dem Universum Friedrich Dürrenmatt – wie er es beschreibt – annähern, ohne es vollständig erforschen zu können. 
»Man könnte sagen«, so der Journalist in einem Interview des Diogenes-Magazins, »im Laufe dieser Arbeit [...] habe sich die Aufmerksamkeit vom Offensichtlichen ins Verdeckte, in vielen Punkten ins Rätselhafte verschoben. Die nicht oder schwer erklärbaren Punkte, diejenigen, denen sich Dürrenmatt selber nur indirekt über das vieldeutige Gleichnis nähern konnte, sind die faszinierendsten: zum Beispiel sein Sprung in  die Schriftstellerei nach einer schmerzvollen und chaotischen Adoleszenz, zum Beispiel die Entwicklung von der christlich-religiösen-protestantischen Voraussetzungen einer Kindheit im Pfarrhaus über die Rebellion gegen den ‚Glauben meines Vaters’, dann eine Strategie des Verbergens dieser Ursprünge bis zum Bekenntnis eines Atheismus, der aber nach wie vor religiös grundiert blieb (und sei’s im Widerspruch); die Verlagerung der Metaphysik in die Bereiche, in denen die Naturwissenschaften selbst zur Erkenntnis gelangen, dass, wie es Max Planck sagte, auch in der Physik der Satz gelte, dass man nicht selig werden könne ohne den Glauben. Dürrenmatt selbst trieb um (und an), was er nicht erklären konnte. Deshalb der Titel meines Buches: Die Ahnung vom Ganzen

Die 960-Seiten starke Biografie basiert auf den vielen ausführlichen Gesprächen des Autors mit Friedrich Dürrenmatt, mit der Familie, mit Weggefährten, Freunden und einer erstmaligen Auswertung des riesigen Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv.

Der Vater-Sohn-Konflikt

Am 5. Januar 1921 kommt Friedrich Reinhold Dürrenmatt im kleinen Emmentaler Städtchen Konolfingen zur Welt. Er sei ein Dörfler, kein Städter, wird er später oft zitiert. Er sei geprägt von der Kindheit im Emmental, aber schon dort empfindet er sich als dicklicher Außenseiter. Seiner geordneten, kleinkarierten Wirklichkeit setzt er früh, wild um sich malend und dichtend, die Eigenwelt seiner überbordend monströsen, apokalyptischen Phantasie entgegen. Wenig Verständnis findet seine Welt beim Vater, einem Pfarrer und Gelehrten.
Rüedi skizziert eindrucksvoll die Distanz zwischen Vater und Sohn. Er zeigt auf, dass der Dichter selber im Glauben des Vaters die eigentliche Ursache der Fremdheit und auch der Rebellion gegen ihn sah. Diese Rebellion gegen den Glauben des Vaters wird zum Lebensgrund des Sohnes, zur Motivation, die ihn zunächst antreibt und aufrechterhält. Auch später noch: 
»Der Vater geistert in zwei Formen durch die frühe Prosa Dürrenmatts: als übermächtiges, strafendes, den Sohn vernichtendes Monstrum und als verborgene, unerreichbare Autorität.«
Dabei ist der Vater »keineswegs ein tyrannischer Schriftgelehrter, sondern ein Mann von großer Toleranz«. Die Rebellion gegen ihn geht so weit, dass Dürrenmatt für einige Monate Kontakte zu einer frontistischen Studentengruppe hat.

Das Verhältnis zur Mutter Hulda ist zwar auch problematisch, aber unauffällig. Wie seine jüngere Schwester Verena hat der junge Fritz von ihr keine körperliche Wärme, keine kreatürliche Geborgenheit zu erwarten.
»Beide Eltern, erinnert sich die Schwester, seien ›ausgeprägte Persönlichkeiten gewesen, die ihre Welt gelebt haben, wir waren ja eigentlich draußen und hatten unsere eigene zu entdecken.‹«
Die Rebellion gegen den Vater führt zeitweise zu einem »nebulösen Parteinehmen für Hitler«, dessen Aufstieg zu Anfangs noch als Gegenkraft zum Kommunismus von beiden Dürrenmatts gemeinsam mit Sympathie verfolgt wird. Das ändert sich beim Vater, der den Führer des Dritten Reiches zunehmend als Antichristen wahrnimmt, während der Sohn ihn als »Schutz gegen die väterliche Welt des Glaubens« verwendet. Außerdem gefällt sich der junge Fritz in der Rolle des Außenseiters und des provokanten Bürgerschrecks.
Ein Nazi sei Friedrich Dürenmatt jedenfalls nicht gewesen, sagt Peter Rüedi:
»Er war zumindest das, was man ›germanophil‹ nennen könnte, schon aus Opposition gegen seinen Vater [...].«

Zwischen Studium und Berufung

Vom 29. August bis zum 13. September 1941 legt er die Eidgenössische Maturität ab. Das vom Vater gewünschte Theologiestudium lehnt er ab. Stattdessen immatrikuliert er sich an der Universität Bern für Neuere Deutsche Literatur, Germanistik und Kunstgeschichte. Homer und Aristophanes, Kierkegaard und Kafka werden ihm wichtig. Zwischendurch setzt er das Studium in Zürich fort, kehrt aber im Mai 1943 nach Bern zurück, wo er jetzt Psychologie, Nationalökonomie und Philosophie studiert. Parallel leistet er in jener Zeit den militärischen Hilfsdienst ab und vor allem – er schreibt und malt. Der Gedanke an einen künstlerischen Beruf beherrscht ihn. Irgendwann fällt die Entscheidung, die er begründen und sogar genau terminieren kann:
»Das war am 5. Januar 1945. Ich war Hilfssoldat in einem Schweizer Grenzbataillon. Deutschland war praktisch besiegt, also man wusste, dass nichts mehr passieren würde. Der Krieg war entschieden. [...] Die Schweiz war doch nie in Gefahr gewesen. Das Problem der Schweiz war eine Armee, bei der nie etwas geschah, nicht weil Hitler etwa Angst gehabt hätte, uns anzugreifen, das ist ja Blödsinn, sondern weil die Schweiz Trümpfe hatte, vor allem Tunnels, das waren die Verbindungsstraßen für Kohle und Stahl nach Oberitalien, die brauchte Hitler, die hätten ihm nichts genutzt, wenn sie gesprengt worden wären. Deshalb hat er die Schweiz in Ruhe gelassen. Aber diese Chance des Verschont seins wurde hier von niemandem begriffen, sondern man hat sich zum Heldenvolk stilisiert und gesagt, die Schweizer Armee habe einen Angriff verhindert. Das kam mir alles so absurd vor, und da habe ich eben den Entschluss gefasst, diese Welt, die ja nur in meiner Phantasie existiert, schreibend in den Griff zu bekommen.«

Das Studium bricht er ab. Der Berufung zum Schriftsteller folgt er nun mit wilder Entschlossenheit. Sie führt dazu, dass Dürrenmatt »die Rebellion gegen den Glauben des Vaters aufgegeben und dagegen den Glauben an die Schriftstellerei gesetzt« habe, deutet Rüedi diesen lebensentscheidenden Schritt.
Konsequenz zeigt auch Dürrenmatts private Lebensführung. Die Schauspielerin Lotti Geissler tritt 1946 in sein Leben. Noch im selben Jahr wird geheiratet. Mit ihr wird er drei Kinder haben.

Der Bühnendramatiker

In seinen ersten Werken verarbeitet Dürrenmatt das sektengeprägte Ambiente des heimatlichen Emmentals und seine Erinnerungen an den Krieg.
»Eine seiner Obsessionen während des Kriegs war die Vorstellung, in dieser verschonten Schweiz eingeschlossen zu sein. Also, dass der Ort der Verschonung gleichzeitig ein Gefängnis ist. Das ist genau die Thematik, die ganz am Ende seines Lebens in der berühmten Havel-Rede wieder auftaucht«, sagt Rüedi.

Mit Getöse betritt der junge Autor 1947 später die Bühne des Schauspielhauses Zürich. Die Premiere seines turbulenten Wiedertäufer-Spektakels Es steht geschrieben führt zu einem solchen Skandal, dass man sich in Zürich für etliche Jahre an kein neues Werk des Szenen-Berserkers wagt.

Einer erblickt in dem Stück des Bühnennovizen keinen Skandal, sondern schreibt in einem persönlichen Brief vom 22. Januar 1947 über das Stück: »[...] ich bin begeistert davon. Ich weiß, dass ich nicht der erste bin, der Ihnen das sagt. Das Ganze hinterlässt mir einen tiefen Eindruck, eine Vision, die anhält, einzelne Scenen sind besonders stark, weil sie, wie mir scheint, groß gesehen sind, und ich bewundere vor allem die starke und eigene Vorstellungskraft, die sich in allem offenbart, in der Sprache wie in der bühnenmäßigen Verbildlichung.«

Der Schreiber des Briefes ist Max Frisch – der andere große Schweizer Dramatiker. Es ist der Beginn einer „Arbeitsfreundschaft“ der beiden erfolgreichsten alpenländischen Autoren der Nachkriegsjahre.

Weitere Bühnestücke entstehen: Der Blinde, Romulus der Große, Die Ehe des Herrn Mississippi. Letzteres führt 1952 mit seiner Aufführung an den Münchner Kammerspielen  zum entscheidenden Durchbruch für Friedrich Dürrenmatt beim deutschen Theaterpublikum.

Der junge Dürrenmatt ist zum Inbegriff einer höchst eigenen, ins Groteske getriebenen Bühnenwelt voll Leidenschaft und Verbrechen geworden. Rüedi weist darauf hin, dass Dürrenmatt immer wieder der Vorwurf des „Kabarettistischen“ gemacht wird, aber der Autor »im Kabarett selbst nicht ankam, gewogen und für zu schwer befunden wurde. Es ist leicht einzusehen, warum. Am „Kabarettistischen“ in seinen Stücken interessierte ihn die Fallhöhe, der Kontrast, die ironische Brechung, die Provokation. Ohne Kontrast und Subtext funktioniert Dürrenmatts Komik nicht; oft ist kaum auszumachen, wo der platte Scherz in abgründigen Humor umschlägt oder umgekehrt.«

Die Grundzüge des Universums Dürrenmatt, in dem jede Geschichte ihr schlimmstmögliches Ende finden muss, und die Eigenarten seines Theaterstils mit der Lust an barocker Sprachfülle und Schauereffekten haben bereits den Erstling Es steht geschrieben geprägt.

 

Kunst, »wo sie niemand vermutet«

 

In jenen Jahren des literarischen Aufstiegs fließen die Einnahmen trotz der ersten Erfolge nicht gerade üppig. Dürrenmatt greift zu einem Broterwerb der eigenen Art:

»Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung«, fragt er listig.»Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet.«

1950 erscheint Der Richter und sein Henker als Fortsetzungsroman in ›Der Schweizerischer Beobachter‹ und erreicht bis heute eine weltweite Auflage von über 6,5 Millionen Exemplare.

Dürrenmatts Themen auch der folgenden Kriminalromane sind die des ketzerischen Protestanten; es geht stets um Schuld und Verrat, die unmögliche Gnade und die unmögliche Gerechtigkeit auf Erden. Die Welt erscheint Dürrenmatt als Paradoxon, als Absurdum, als faszinierende Sinnlosigkeit.
In den nächsten Jahren publiziert er weitere Kriminalromane, die seinen Weltruhm mit begründen. Herausragend ist dabei Das Versprechen.
Für Rüedi ist das Buch ein »Meisterwerk über den Zufall.« Es reflektiere die Gattung des Kriminalromans wie keine andere Kriminalerzählung. Der Stoff wird 1958 unter dem Titel Es geschah am helllichten Tag mit Heinz Rühmann in der Rolle des Kommissars Matthäi und Gert Fröbe als Triebtäter Schrott verfilmt. Gemeinsam mit Regisseur Ladislao Vajda schreibt Dürrenmatt das Drehbuch. Rüedi skizziert die Entstehungsgeschichte des Drehbuchs.

Neben den Kriminalstoffen belegt 1955 auch die bitterböse Satire Der Besuch der alten Dame Dürrenmatts Strategie von der Kunst, »wo sie niemand vermutet«. Das Stück wird ein Welterfolg. Gleichzeitig ist es auch Beleg für die Vorliebe des Dramatikers für alte Menschen, was sich bei diesem Stück schon im Titel wiederspiegelt. Rüedi führt aus:
»Friedrich Dürrenmatt war fasziniert vom alten Menschen. Frauen wie Männern. Vom Menschen in einem Zustand, in welchem die geschlechtliche Zuordnung in den Hintergrund tritt. Seine Sympathie für das Alter ging so weit, dass er in einem frühen Notizbuch festhielt: ›Ich habe eine Antipathie gegen Jugend. Der Mensch soll nun eben in Gottes Namen alt werden‹. Das mochte zuerst eine Antipathie gegen die eigene Jugend meinen, seine schwierige und ungewöhnlich lange Adoleszenz. Jedenfalls gibt es auffällig viele Alte in Dürrenmatts Werk.«
Tatsächlich wimmelt Dürrenmatts Werk neben der exzentristischen und rachsüchtigen Claire Zachanassian von älteren Protagonisten.

Vom Meisterbettler zum Millionär

»Dürrenmatt war ein großes Leihgenie. Er hat auch in den Jahren davor nie unter seinen finanziellen Nöten gelitten«, sagt Rüedi.
Der Besuch der alten Dame sorgt nicht nur für literarischen Ruhm, sondern bedeutet die Wende zum Wohlstand. Nach der französischen Erstaufführung der Dame bittet Dürrenmatt den Leiter seines deutschen Theaterverlags Bloch Erben, Peter Haendel um 16000 Franken Vorschuss. Dieser fragt verwundert, wie und wann der Schweizer Verleger denn abrechne. Als Dürrenmatt in Basel aus dem Zug stieg, steht sein Schweizer Verleger Kurt Reiss mit einem großen Strauß Rosen am Bahnhof und teilt ihm mit, dass sich sein Guthaben nun auf 60000 Franken belaufe. Das ist die Wende.
Dürrenmatt reist in den nächsten Jahren sehr viel: London, Mailand, Paris, Stockholm und München; es geht nach Spanien, Marokko, die UDSSR und in die USA. Überall werden seine Bühnenstücke aufgeführt; neue entstehen: Die Physiker, Der Meteor oder Herkules und der Stall des Augias.
Weitere Stoffe werden verfilmt, wie in Hollywood Der Besuch der alten Dame unter dem Titel The Visit. Nicht jede neue Aufführung wird ein Erfolg. An Kritik wie Zuspruch mangelt es gleichermaßen nicht. Dazu werden ihm zahlreiche Literaturpreise werden ihm verliehen.
Der Ruhm wirkt sich auf die Einnahmesituation aus. Dürrenmatt kann finanziell aus dem Vollen schöpfen.
Den Wohlstand weiß Dürrenmatt zu genießen. Seine seit jeher bestehende Leidenschaft für Wein pflegt er nunmehr im großen Stil des Kenners. Es entsteht im Laufe der Jahre ein legendärer Weinkeller, nachdem er für diesen Luxus durch den Bau seines zweiten Hauses (1965) im großen Luftschutzkeller Platz geschaffen hat. Schon früh hat er sich mit Vorliebe an roten Bordeaux gehalten.

»Auch nach einer durchzechten Nacht war er spätestens morgens um neun wieder an der Arbeit. Der Alkohol hat ihn nie an der Arbeit gehindert. Er hat auch die Auffassung vertreten, dass sein Diabetes, an dem er seit Jahrzehnten litt, und der Anfälle von Müdigkeit und von Verstimmungen zu Folge hatte, für seine Arbeit förderlich sei. Er betrachtete die Krankheit als Widerstand, den er überwinden musste. – ›Wenn ich keinen Diabetes gehabt hätte, wäre ich an meiner Gesundheit schon längst verreckt‹, sagte er mir beim letzten Gespräch, zwei Wochen vor seinem Tod,« erklärt Rüedi.
Seit dem Beginn seines Wohlstandes entwickelt sich Dürrenmatt auch ein bisschen zum Gourmet, soweit ihm das sein Diabetes erlaubte. »Davor war er ein Gourmand. Ein Schlinger, der gegen seine Gesundheit ebenso anschlemmte wie der todkranke Bärlach bei dem berühmten letzten Abendmahl.« 

Der Traum vom eigenen Theater

Gemeinsam mit Werner Düggelin übernimmt Dürrenmatt 1969 die Direktion des Basler Theaters.
»Dürrenmatt hatte sich so etwas erhofft, wie ein eigenes Theater, so wie Brecht es in Berlin hatte. Nur: Berlin hatte zu Brechts Zeiten rund 30 Theater. Da mochte es ein Theater ad personam gut ertragen. Basel war ein Vierspartenbetrieb und das einzige große Theater in der Stadt. Also musste man auch Produktionen einstreuen, die man mit der linken Hand und zur Erfüllung des Abonnements machte und konnte nicht nur stringente Ästhetiken durchziehen. Das konnte der Fritz nicht begreifen«, erläutert Rüedi.
Basel ist damals die Nummer eins unter den deutschsprachigen Theatern in Europa. Im Streit mit Düggelin scheidet Dürrenmatt jedoch sehr bald wieder aus. Nach diesem Debakel mit der Ko-Direktion ist Dürrenmatt »bei den deutschen Großfeuilletons […] zur Persona non grata erklärt worden«, erklärt der Biograf. Dazu habe auch beigetragen, dass er sich damals öffentlich für Israel engagiert habe.

Verlagstreue und Verlagswechsel

Für Friedrich Dürrenmatt verblassen Freundschaften mit den Anlässen, aus denen sie entstehen. In anderen Belangen, so Rüedi, »konnte er treu, in seiner Treue dazu stur sein.«
Ein Beleg dafür ist die Beziehung des Dramatikers zu dem Verleger Peter Schifferli, der mit seiner Arche, einem Ein-Mann-Verlagsunternehmen, von Beginn an Dürrenmatts Hausverleger in Deutschland ist. Der Kontakt hat 1951 seinen Anfang genommen.
»Als Idealist und Individualist war Schifferli im Verlagswesen eine unzeitgemäße Figur. Sein Verständnis von Stil verbot ihm jede eigentliche Verlagswerbung, wie sie die größeren deutschen Verlage nach dem Krieg betrieben. Dem Marketing und der Entwicklung von effektiven Vertriebssystemen misstraute er. Das betraf selbst die Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse. Taschenbuchausgaben ließ er nur selten drucken. Seine Verlagsanzeigen waren von einem nicht mehr zu unterschreitenden Understatement.«
Nicht von ungefähr verlassen die meisten Autoren Schifferli schon recht bald. Nicht so Dürrenmatt. Ob nun Rowohlt, S. Fischer oder Suhrkamp – alle Abwerbungsversuche scheitern.

»Dürrenmatt hielt Schifferli auch deshalb so lange die Treue«, erklärt Rüedi, »weil er ab dem Erfolg der Alten Dame nicht mehr auf die Einnahmen aus den Buchpublikationen angewiesen war. Das große Geld brachten jetzt die Theaterrechte.«
Doch nach dem Baseler Theaterdebakel sinkt allmählich auch Dürrenmatts Stern am deutschen Theaterhimmel, was sich im Laufe der Jahre auf seine Einnahmesituation auswirkt.
Und so bahnt sich an, was letztlich unvermeidbar scheint: Nachdem 1978 Daniel Keels Diogenes Verlag den großen Band Dürrenmatt, Bilder und Zeichnungen herausgegeben hat, ist der geschäftliche Kontakt hergestellt. Gespräche werden geführt, Pläne besprochen.
1979 endet die Arbeitsbeziehung mit Schifferli, die gleichzeitig eine enge Freundschaft ist – soweit dieser Begriff auf persönliche Beziehungen von Dürrenmatt überhaupt anwendbar ist.
Zum 60. Geburtstag des Dramatikers erscheint noch die dreißigbändige Werkausgabe als Gemeinschaftsproduktion von Arche und Diogenes, die allerdings schon durch den damaligen Diogenes-Lektor Thomas Bodmer begleitet wird.

Krankheiten, Tod und Wiedergeburt

Und obwohl Dürrenmatt im persönlichen Umgang nicht einfach ist, vor allem seine Zuckerkrankheit für Stimmungsschwankungen und Wutausbrüchen sorgt, ist er dennoch ein liebevoller Vater und Ehemann.
Am 14. Januar 1983 stirbt Lotti Dürrenmatt nach einer langen Periode von Erkrankungen, Depressionen, zwischenzeitlichen Besserungen und Rückfällen.
Ihr Tod stürzt den Dramatiker in tiefe Verwirrung, er hält ihn auf kindliche Weise für einen bösen »Streich«, den ihm Lotti gespielt hat, für eine Art böswilliges Verlassen des gemeinsamen Ehestandes.
Aus Ratlosigkeit, Verdüsterung und aus der Verfinsterung seiner Lebensumstände rettet er sich 1984 durch die Ehe mit der Journalistin und Schauspielerin Charlotte Kerr. Die zweite Ehe wird zu einer Wiedergeburt des Dramatikers. Ein neuer Alltag, neue Beziehungen und neue Einsuchten lösen einen Kreativschub aus und sorgen dafür, dass Dürrenmatt liegengebliebene literarische Pläne wie Justiz oder Durcheinandertal wieder aufnimmt und vollendet..

Über die zweite Ehefrau schreibt Rüedi:
»Sie brachte F. D. zurück in eine ihm fremd gewordene Öffentlichkeit und verwandelte den Einsiedler fast in einen Mann von Welt. Das mochte vielen, vor allem manchen unter seinen vernachlässigten und somit gekränkten alten Bekannten, wie eine Nötigung wider seine Natur erscheinen. Aber es ist nicht zu bezweifeln, dass es ihm das Leben, wenn nicht gerettet, so doch verlängert hat. Auffallend oft trat er nun bei offiziellen Anlässen auf, bei Preisverleihungen an ihn oder andere, zu denen er sich ohne die Initiative seiner Frau in diesem Maß wohl kaum mehr bereitgefunden hätte. Dürrenmatt war wieder im Gespräch. Wenn auch nicht unbedingt in den Spalten der einschlägigen Feuilletons.«

Am 14. Dezember 1990 stirbt Friedrich Dürrenmatt an den Folgen eines Herzinfarkts in Neuenburg.

Zürich, im Herbst 2011

Peter Rüedis Biografie erzählt kein Leben, sondern taucht in ein Universum ein. Und weil manche Aspekte aus Umfangsgründen nur angedeutet werden können, bleibt dem Leser manches entweder verborgen oder rätselhaft. Vermutlich bleibt jede Biografie eine fragmentarische Lebensdarstellung. Trotzdem gelingt es Rüedi aufgrund seiner langjährigen persönlichen Bekanntschaft mit Friedrich Dürrenmatt dessen Geist und Seele näher zu kommen und ein faszinierendes Bild über den Schweizer Dramatiker zu entwerfen. Vor allem fällt die akribische Arbeit auf, mit der Rüedi das umfangreiche Oeuvre Dürrenmatts durchforscht, unbekannte Quellen erschlossen, Entwürfe, Revisionen und Neubearbeitungen berücksichtigt hat.
»Ich gäbe viel darum«, so Peter Rüedi im bereits zitierten Interview des Diogenes-Magazins, »jene Gespräche noch einmal führen zu dürfen. Von meinem heutigen Stand des Nicht-Wissens aus.«
Er hat das Universum Dürrenmatt besichtigen, aber nicht vollständig erforschen können.

 












Peter Rüedi
Dürrenmatt
oder Die Ahnung vom Ganzen
Biographie, Hardcover Leinen,
Diogenes Verlag
960 Seiten
ISBN 978-3-257-06797-2
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Friedrich Dürrenmatt.
Schriftsteller und Maler

Ein Bilder- und Lesebuch
Diogenes
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ISBN 978-3-257-02049-6
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Der Besuch der alten Dame
Eine tragische Komödie
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detebe 23045 Broschur,
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detebe 23067 Broschur,
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