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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Die Schönheit der ganzen Welt

Über die Arbeiten der Fotografin Thekla Ehling

Von Jürgen Nielsen-Sikora


Sommer. Es heißt, das sei die Zeit, in der die Tage wegtropfen wie Honig vom Löffel. Und doch bleibt vom goldfarbenen Traum stets ein wenig kleben am Löffel, ein unvergänglicher Rest, von dem wir auch an kälteren Tagen noch zehren.
Heute, da unser Herz nicht länger bis zum Hals in goldenem Erntelicht steht und wir uns nur dunkel daran erinnern, wie das war, früher, als wir noch unsterblich und voller Fragen waren, versetzt uns Thekla Ehling mit ihren Fotografien zurück in jene vergangenen Tage, in denen unser Herz noch voller Sommer war.
Die Kindheit und unsere Erinnerung an sie stehen im Zentrum ihrer Bilder, die mich an eine Zeile Paul Celans erinnern:

Geraubt sind dem Sommer die Herzen
das Obst, das dir reifte zum Dämmer, gehißt auf den zackigen Türmen
der Luft.

Es ist, als brächten uns die Bilder die geraubten Herzen zurück.
Wer das Buch
»Sommerherz« durchblättert und sich ausreichend Zeit nimmt, wird noch mehr Anklänge an Celans Wortschöpfungen finden. Fadensonnen sind zu entdecken, Traumkämme, Lichtkeile und Flügelstunden, aber auch Schwirrhölzer und Schmerzknoten, Gedankenkäfer, Herzschatten und Schlafbrocken. Ins Zentrum all dieser Bilder entführen uns die Blicke der Kinder, von Thekla Ehling liebevoll und eindringlich in Szene gesetzt.

Die Fotografin lebt mit ihrer Familie im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, der geprägt ist von Häusern aus der Gründerzeit, alten Industriedenkmälern und modernen Mietshäusern. Hier leben Menschen aus allen Teilen der Erde. Eine Geschäftswelt aus deutschen, türkischen, italienischen und afrikanischen Händlern ist hier zu Hause. Aber der Stadtteil ist inzwischen auch ein sehr beliebtes Wohnviertel. An allen Ecken und Enden entstehen neue Wohnkomplexe. Theater und Szenekneipen sowie eines der schönsten Kinos der Stadt sind hier zu finden. Zahlreichen Künstlern und Schriftstellern ist der Stadtteil ans Herz gewachsen – nicht nur im Sommer.

Wir sitzen bei einem Kaffee in der Wohnküche. Die 1968 geborene Fotografin berichtet, wie sie über Umwege nach Köln kam. 1993 fertigte sie eine erste Studienarbeit in Irland an. Auf ihren Portraits zeigte sie Frauen Anfang 20, die ihre erste große Enttäuschung hinter sich hatten. Es waren äußerst charakterstarke Frauen, denen der Betrachter ansah, dass das Leben nicht nur lustig und amüsant ist, sondern auch voller Rückschläge und Schmerzen.
In den Bildern kommt vor allem eines zum Ausdruck: Menschen sind so wie sie sind schön. Es gibt so etwas wie innere Schönheit, die die Bilder zum Ausdruck bringen. Es bedarf aus diesem Grunde nicht der Masken und des Pomp, nicht der Schminke und der Verkleidung, um ihre wahre Schönheit zu zeigen. Denn die fotografierten Gesichter erzählen auch ohne Verstellung spannende Geschichten.
In einem Seitenflügel der Humboldt-Universität in Berlin stellte Ehling vor Jahren Portraits junger Frauen aus. Dort gab es viel Laufpublikum, das sehr unterschiedlich auf die Bilder reagierte. Empörung der Betrachter, aber auch Erleichterung über die Art der Darstellung sind dokumentiert. Schon Ehlings Vater war ein leidenschaftlicher Fotograf, der zahlreiche Bilder und Alben der eigenen Kinder angefertigt hat.

Für sie selbst gab es immer nur zwei Alternativen der Berufsausübung: Entweder Buchbinderin oder Fotografin. Nach der Hauptschule begann sie zunächst eine Lehre als Buchbinderin. Doch der Betrieb sei furchtbar gewesen, sagt sie. Deshalb brach sie die Lehre ab, machte ihr Fachabitur nach und begann anschließend ein Praktikum bei einem Fotografen. »Papa, stell mir Blende und Zeit ein, ich geh dann fotografieren« hieß es des Öfteren im Hause Ehling. Die Kameraeinstellungen selbst perfekt zu beherrschen lernte sie dann während ihres Studiums an der Fachhochschule Dortmund bei Arno Fischer, einem bekannten deutschen Fotografen, der zwischen 1990 und 2000 dort einen Lehrauftrag für Bildjournalismus innehatte. Ihm ist auch Ehlings zweiter Band »Vergiszmeinnicht« gewidmet: Kleine Triptychons voller Wunder sind hier versammelt: Wurzeln alter Bäume, geflochtenes Haar, Verästelungen, verwobene, ineinander verstrickte Dinge. In ihnen wuchert das Flüchtige, Zufällige, Spontane, wuchern Anfang und Ende, und die schreckliche Gewissheit, dass nichts von Dauer ist.



Warum gibt es etwas und nicht nichts? Das ist jene uralte philosophische Frage, derer sich »Vergiszmeinnicht« annimmt. Es sind Bilder des Staunens über die Ordnung der Dinge: Ein verschwommener Strommast, eine zierliche Pflanze, der Vogel, der sich auf dem Lampenschirm niedergelassen hat. Fundsachen auf der Fensterbank, ein Segelschiff am Krankenbett, Traum von der Freiheit, versunkene Landschaften. Die erste Liebe, Blütenstaub auf dem Wasser, die unergründlichen Rituale der Menschen. Vergiss mich nicht: Identität, Freundschaft, Suche nach dem Selbst. Schlaf, früher Morgen, reife Frucht, fragile Ruhe.

Ehlings Fotografien sind stark beeinflusst von Richard Avedon, Robert Frank, Rineke Dijkstra, Hellen van Meene – Kollegen, deren Werke sie sehr schätzt. Sie sind zudem untrennbar mit ihrer persönlichen Entwicklung verbunden. Ihr eigener Werdegang spiegelt sich in ihren Bildern wider. Nach dem Studium verbrachte sie zunächst eine intensive Zeit mit sich selbst, ohne recht zu wissen, wie es weiter gehen sollte. Sie zog nach Berlin zu Freunden. Doch auch ohne konkrete Perspektiven zu haben, hat sie ihre Berufung nie infrage gestellt. »Natürlich gab es Verlustängste« sagt sie und erzählt von verschiedenen Nebenjobs, die sie annahm, um ein wenig Geld zu verdienen. Kaum in Berlin, ging alles sehr schnell: Schwangerschaft, Umzug nach Köln, wo sie Hilfe und Engagement durch Freunde erfuhr. Sie begann mit Kinder- und Familienportraits, alles Auftragsarbeiten; sie legte Flyer in Praxen aus, um auf ihre Arbeit aufmerksam zu machen. Ein befreundeter Produzent fragte sie schließlich, ob sie Interesse habe, Portraitarbeiten beim Film zu machen. Sie fotografierte den »Fahnder« und andere Schauspieler, die sich mit Ehlings Bildern bei Schauspielagenturen bewarben. Parallel zu den Auftragsarbeiten ging sie dem nach, wozu sie am meisten Lust hatte. Dazu gehörten vor allem die Portraits der eigenen Kinder. Aus der jahrelangen Begleitung ihres Heranwachsens entstand der Bildband »Sommerherz«. Er vereinigt Bilder gegen das Vergessen der eigenen Kindheit und ist zugleich ein Weckruf kindlicher Erfahrungswelten. In der Kindheit liegt nicht zuletzt der Schlüssel zum Verständnis unserer Identität. Dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben gilt sie als der Ursprung der Sprache, wie die Sprache andererseits Ursprung der Kindheit ist. In diesem dialektischen Spannungsverhältnis von Bild-Sprache und Kindheit erlangen wir Zutritt zur Kindheit nur, indem wir an die Sprache stoßen, die den Eingang unserer Kindheit bewacht. Wenn das Unsagbare in Wirklichkeit die Kindheit ist, und wir uns selbst nur dann erfahren, wenn wir wieder einen Zugang zur Kindheit, zu der Zeit intensivster Erlebnisse, finden, bedarf es der Türöffner. Den Eingang zur Kindheit aufgestoßen zu haben, ist die eigentliche Leistung von Ehlings »Sommerherz«. Wenn wir die Seiten durchblättern, so werden wir beschossen mit Herztönen, von allen Weltkanzeln her.

Zentrale Motive der Fotografien sind Verlust und Wehmut, so wie sie der Kinderblick auf dem hier gezeigten Bild der eigenen Tochter transportiert. Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Und der Blick geht hinaus in die Schweizer Berge, ins Wallis, gen Himmel. In der Schweiz hatte sich die Familie in eine Hütte eingemietet. Ihr Erbauer war der in Calrens bei Montreux geborene Maler François de Ribeaupierre (1886-1981). Die zweite Fotografie spürt dem Kinderblick nach und spielt insofern mit der Verschränkung von Innen- und Außenperspektive. »Mit einer Kindheit voll Liebe«, sagt Jean Paul (1763-1825), »kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten.« Diesen Beweis tritt auch »Sommerherz« an. Es zeigt aber auch, dass unsere Erinnerungen an die Kindheit oftmals wie ein Hohlspiegel wirken können, in dem verzerrte und verdrängte Erlebnisse wieder aufscheinen. Dazu noch einmal Celan:

Ein weißes Beben, kauern sich nun leicht
die nackten Birken in den Wunsch der Fichten
Dein Schritt vermehrt die Stille, blendet sie und weicht …
Und Zauber kommt, das Leben aufzurichten.

Thekla Ehling berichtet, sie habe mit durchaus gemischten Gefühlen und Angst andere wichtige Projekte abgesagt, um dieses eine verwirklichen zu können. Dass sie mittlerweile so arbeiten darf, wie sie möchte, empfindet sie als großes Glück. Glück hatte sie auch, als sich die Verleger Markus und Christoph Schaden ebenso wie die Fotografin Jessica Backhaus für ihr Buchprojekt eingesetzt haben. Es sei ein Geschenk ihres Berufs, die Zeit mit interessanten Menschen zu verbringen, sagt sie. So konnte sie noch den kürzlich verstorbenen deutschen Psychoanalytiker und großen, alten Mann der Friedensbewegung Horst-Eberhard Richter für das Wirtschaftsmagazin Brand eins fotografieren. Zurzeit arbeitet sie an einem Buch über Judith Kerr. In den Portraits von Richter und Kerr spiegelt sich nicht zuletzt unser Schattenjahrhundert.

Vergiss mich nicht: den Augenblick, die Oase inmitten der Konsumgesellschaft, das Alter, Grollen und Brüllen der Städte, Schlaflosigkeit. »Bloody Love«, Freude, Trauer und Tod. Staub und Asche. Stolz, Verzweiflung, Erfahrung. Und immer wieder die Möglichkeit des Neubeginns. Hoffnung. Angst. Sorge. Mut, ja Mut.
»Vergiszmeinnicht« ist im Miniformat gedruckt. Wie fokussiert wirkt hier die Welt. Nackheit, Scham, Unschuld entdecke ich in den Bildern. Das Gefühl des Eingesperrtseins, Erhabenheit und »Spaghetti mit Tomatensauce«. Dialektik des Seins: Ich sehe Orte, Heimat, Nähe, Ferne, Weite. Menschen auf der Durchreise, Hektik und Innehalten. Aufbruch, Erwachsenwerden, Schmerz und Stärke, zerbrechliches Überall.

Noch immer sitzen wir in der lichtdurchfluteten Wohnküche, während ich mir die Bilder anschaue im
Stundenwechsel: Im Glas des Herzens seltsam grünen Schweiß
versäumt mein Mund den Schluck vom letzten Wein?
Was innen zittert – heb es und befreis
und wieg, und wiege es nicht ein!

 

Thekla Ehling
Sommerherz
Kehrer Verlag
Festeinband
23 x 30,5 cm
72 Seiten
51 Farb- und 4 S/W Abb.
Deutsch/Englisch
Lieferbar
ISBN 978-3-86828-035-7
48 Euro

Autor: David Almond
Künstler: Thekla Ehling
Vergiszmeinnicht
Künstlerbuch in Box
Kehrer Verlag
104 Seiten
40,00 Euro

 


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