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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Langatmig & geschwätzig

Umberto Eco neuester Roman »Der Friedhof in Prag«

Von Gregor Keuschnig

Rund 650.000 Exemplare sind von Umberto Ecos "Der Friedhof in Prag" seit Oktober 2010 in Italien verkauft worden. In Anbetracht dessen, welche Bücher in Deutschland Millionenauflagen erzielen, spricht das zunächst einmal deutlich für die Kulturnation Italien. In 40 Sprachen soll das Buch übersetzt werden. Mit der deutschen Ausgabe zieht der Hanser-Verlag alle Register seiner Marketing-Kunst. Es gibt für das Kritikervolk sogar ein "Einlesebuch" - unter anderem mit Personen- und Zeitregister zum Roman und einem Aufsatz über Verschwörungstheorien von Philipp Blom. Dieser schreibt, es sei letztlich gleichgültig, ob Verschwörungstheorien wahr seien oder nicht. Sie müssten nur "ausreichend viel Wahrheit beinhalten, um plausibel zu sein", aber ihre "eigentliche Kraft" läge im "emotionalen Sog … im Versprechen von Sinn, von einem Ganzen, an das man glauben kann und dessen Teil man wird". Das ist natürlich nicht falsch, erklärt aber nicht den Sog von Verschwörungstheorien, die, je nach Lage, komplizierte Vorgänge radikal vereinfachen oder auch einfache Ereignisse mit Komplexität aufladen. 

Vielleicht wagt man sich lieber ohne vorgefertigte (und unzulängliche) Erklärungsversuche in den Eco'schen Fabulierkosmos, einer Zeitmaschine in das 19. Jahrhundert des politischen Italien und Frankreich. Der Held des Buches ist ein Hauptmann Simonini, 1830 geboren, der zum zu Beginn der Erzählung 1897 alleine in einer Wohnung in Paris lebt. Er beginnt mit 67 ein Tagebuch, um sich seines Lebens zu erinnern. Ein Ratschlag eines gewissen "Dr. Froïde", den er in einem Art "Ärzte-Salon" (oder besser: Stammtisch) kennenlernt und den er gar nicht schätzt (früh erfährt man warum: weil es sich um einen Juden handelt).

In dieses Tagebuch macht in Simoninis Abwesenheit ein gewisser Abbé Dalla Piccola seine Notizen, der einige Darstellungen ergänzt und ihnen zum Teil widerspricht. Simonini ist verblüfft über diese Einträge und fragt sich, wie ein fremder Mensch in seine Wohnung eindringen und sich im Tagebuch äußern kann - ohne dass er jemandem begegnet. Schließlich entdeckt er einen unterirdischen Gang, der aus seiner Wohnung in eine andere, spärlich eingerichtete Wohnung führt. Beiden kommt schließlich auch in den Sinn, dass sie ein und dieselbe Person sein könnten und zweifeln ihre jeweils eigene Existenz an. Sind sie doch von einer schrecklichen Vergesslichkeit geplagt, die sie zuweilen in den Wahnsinn zu treiben scheint und nur im Erzählen langsam weicht. Zur besseren Übersicht sind Simoninis und Dalla Piccolas Eintragungen in anderen Schriften abgedruckt. Hinzu kommt noch ein Erzähler (durchgängig in Fettdruck), der die niedergeschriebenen Ereignisse, Anekdoten und Episoden zusammenfasst und die unterschiedlichen Versionen kommentiert und gewichtet.

Es ist wohl dem Spieltrieb Ecos geschuldet, dieses umstandsvolle Erzählen gewählt zu haben und dem Buch noch eine Portion "Identitätssuche" hinzuzufügen. Als sich Simonini irgendwann erinnert, dass er Jahrzehnte vorher den Abbé Dalla Piccola umgebracht hatte, bleibt nur noch die Version der vorübergehenden Persönlichkeitsspaltung übrig. Eine eher phantasielos-müde Erklärung, die sich schon auf Seite 34 ankündigte und in etwa so vorhersehbar war wie der Donner einem Blitz folgt. Viel Getöse um einen Kunstkniff, der für den Verlauf des Buches bedeutungslos ist.

Sei's drum: Die Kinder- und Jugendzeit Simoninis wird mit Schwung erzählt. Er wächst beim Großvater auf, einem glühenden Antisemiten, der die politisch-revolutionären Umtriebe des Sohnes, also Simoninis Vater, argwöhnisch beäugt. Schnell dringt man die Verschwörungswelt des Großvaters ein, der immer und überall Freimaurer, Templer, Illuminaten, Jesuiten und natürlich vor allem Juden als die Übel dieser Welt ausmacht. Dieses Denken prägt für immer den Enkel. Und so versteht man die ziemlich schockierenden misanthropisch-rassistischen Äußerungen Simoninis am Anfang, der an niemandem nur ein gutes Haar lässt und "odi ergo sum" ("Ich hasse, also bin ich") zum Lebensmotto erhebt, wobei ihm Ironie oder Sarkasmus fremd sind (was der Leser früh mitbekommt).

Simonini studiert Jura. Als der Großvater stirbt, offenbart ihm der Testamentsvollstrecker, dass dieser entgegen der landläufigen Meinung bankrott war. Gnädigerweise übernimmt der Notar den schlagartig mittellos gewordenen jungen Mann in seine Dienste. Früh wird deutlich, welcher Art von Notar hier am Werk ist: Ein Fälscher – sowohl in eigener Sache als auch im Auftrag anderer - der nicht einfach plump Vorhandenes verändert, sondern neue "Tatsachen" selbst kreiert. So besteht eigentlich kein Zweifel daran, dass der Notar das Testament seines Großvaters gefälscht hatte – alleine: es fehlt der Beweis.

Simonini fügt sich ein, lernt schnell, findet Gefallen an diesem Tun, übertrifft den Meister und wird sogar Mitarbeiter des Geheimdienstes. Bereitwillig schlüpft er in diese und jene Rolle, scheut nicht, sich als Abbé oder Jesuit zu verkleiden, agiert als Agent provocateur, inszeniert schwarze Messen oder ist einfach nur militärischer Ratgeber und kommt mit dem Volkshelden Garibaldi in Kontakt. Als der (politische) Boden in Turin zu heiß wird, geht er nach Paris, arbeitet sich dort ebenfalls hoch und spinnt mit Wonne Intrigen. Seine Masche ist simpel, aber enorm wirkungsvoll: Liegt gegen eine Person oder Gruppe gegen die intrigiert werden soll nichts vor, wird etwas konstruiert. Schließlich kann das frei Erfundene gar nicht oder nur schwer widerlegt werden. Es muss nur einigermaßen plausibel sein und eine gewisse Erwartungshaltung bedienen. Dabei verwendet Simonini häufig fiktionale, längst vergessene oder indizierte Texte (die niemand mehr kennt, eben weil sie lange verboten sind), die so lange bearbeitet werden, bis sie in das Konzept der Denunziation oder Verschwörung passen. Einmal organisiert Simonini ein Komplott, nur damit es dann mit Aplomb aufgedeckt werden kann. "Die Geheimdienste aller Länder glauben nur das, was sie schon einmal irgendwo gehört haben und weisen jede wirklich unerhörte Nachricht als unglaubwürdig zurück", so seine verblüffende Quintessenz, die mühelos in die medial-hysterischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts übertragbar sein dürfte.

Die "Provisionen" werden immer üppiger, zumal er die Aufwendungen an Gehilfen immer halbiert und damit noch zusätzlich kassiert. Hass zahlte sich aus. Und wenn Leute drohen, die Verschwörungen mit Fakten aufzudecken, schreckt Simonini auch nicht vor eigenhändigen Morden zurück. Als er in Paris weilt, verbringt er die gemeuchelten Leichen unterirdisch in den Kloakengängen. Glücklicherweise geschieht dies nicht sehr oft. Zwischendurch wähnt man sich in der Küche Thomas Lievens, denn wie Simmels Held wartet Simonini mit allerlei Rezepten auf, die jedoch eher an die rustikale Innereien-Küche des Günter Grass erinnert (also ähnlich fürchterlich sein dürfte wie die unterkellerten Leichen).

Wenn es auch mal gegen die Freimaurer oder Jesuiten geht - alles wird überlagert vom paranoiden Judenhass Simoninis. Schon früh schreibt er ein Pamphlet über die Versammlung der zwölf Stämme - symbolisiert durch zwölf Rabbiner - auf dem jüdischen Friedhof von Prag, in dem der Plan der Juden, die Weltmacht zu übernehmen, "dokumentiert" wird. Dabei bedient er sich diverser fiktionaler Quellen, von Alexandre Dumas über Eugène Sue und einem satirischen Text eines Maurice Joly. All dies wird von Eco ausführlich, nachvollziehbar und mit viel Liebe zum philologischen Detail ausgebreitet. Schließlich sucht Simonini - ein großer Deutschenhasser - dann sogar den deutschen Antisemiten Hermann Goedsche auf, der unter dem Pseudonym "Sir John Retcliffe" tatsächlich in seinem Roman "Biarritz" (von 1868) plagiatorisch Simoninis Texte verwendet. Man schätzt sich nicht, die Gesinnung verbindet aber mindestens für kurze Zeit.

Das Pamphlet der Versammlung der zwölf Rabbiner zu Prag wird die große Klammer in Ecos Buch und Simoninis "Lebenswerk". Am Ende wird er gezwungen, das "Dokument" für die Russen zu perfektionieren und selbst Simonini fragt sich einmal, was denn die Juden noch alles verbrochen haben sollen. Der Rest der Geschichte, der im Nachwort nur ganz kurz angerissen wird, ist bekannt: Das Buch wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland "erstmalig" publiziert - unter dem Titel der Protokolle der Weisen von Zion. Der traurige Ruhm dieses Machwerkes ist bis heute zu beobachten, obwohl es bereits in den 1920er Jahren als plumpe Fälschung entlarvt und als eine Zusammenstellung diverser Schauergeschichten überführt wurde. All das hat nicht verhindert, dass die "Protokolle" von den Nazis als "wissenschaftlicher" Beleg für die "jüdische Weltverschwörung" dienten und damit die Vernichtung der europäischen Juden gerechtfertigt wurde.

Eco lässt (unglücklicherweise) viele bekannte (und auch weniger bekannte) Antisemiten des 19. Jahrhunderts auftreten, wie beispielsweise Henri-Roger Gougenot des Mousseaux, Alphone Toussenel, Edouard Drumont und Joseph-Antoine Boullan. Mehr als nur einmal fragt man sich, ob nicht weniger mehr gewesen wäre und wem dieses Namedropping dienen soll. Die Äußerungen der Protagonisten sollen, so im Nachwort, sämtlich verbürgt sein, wenn auch teilweise szenisch verfremdet. Einzig die Hauptfigur sei erfunden, wobei Eco nebulös die Option anbietet, Simonini sei "immer noch unter uns" und somit seinen fiktiven Helden – wenig überzeugend – als untoten Verschwörungs-Mephisto anbietet.

Ecos Vergnügen an der Dekonstruktion dieser eigentlich lächerlichen und plumpen Lüge, die sich in den "Protokollen" manifestiert, treibt zuweilen seltsame Blüten. Da schwadronieren Figuren von der "Endlösung" oder der Ausrottung; fast natürlich, dass auch irgendeiner von "Arbeit macht frei" spricht. Einige der zahlreichen Illustrationen des Buches sind schreckliche antisemitische Karikaturen. Hier spielt Eco mit einer Mischung aus Schonungslosigkeit und Entzücken mit den Entrüstungsaffekten seiner Leser. Problematisch ist dabei weniger die (zuweilen plumpe) Intertextualität, der exzessiv gefrönt wird, als die Vermischung zwischen Realität und Fiktion. Wie Jonathan Littells SS-Offizier Maximillian Aue ist Simonini häufig mitten in den Brennpunkten des weltgeschichtlichen Geschehens. So auch in der Dreyfus-Affäre, in der natürlich er die Bordereau schreibt und von Esterházy nur entsprechend instruiert wird. Eco treibt - und hierin liegt die Crux dieses Buches - die bestehenden Verschwörungstheorien mit neuen Verschwörungstheorien aus. Man fragt sich warum.

Zwar mag dies intellektuell reizvoll sein, aber der Leser des 21. Jahrhunderts weiß nun einmal mehr als die Figuren des 19. Jahrhunderts, so dass einem die Faszination ob dieser Machwerke ein bisschen wie klebriger Honig vorkommt, der vom Brötchen heruntertropft und die Finger benetzt. Der aufklärerische Impetus, den Eco sicherlich intendiert, greift nur bedingt: Zu lächerlich und fast tölpelhaft erscheinen die Protagonisten und zu weit entrückt (und dem deutschen Leser auch unvertraut) erscheint diese Zeit. Und zu krampfhaft  diese Kreation einer unsympathischen Hauptfigur bis hin zur physischen Hässlichkeit und geistigen Schlichtheit. 

Die Kalamitäten des Buches: Einerseits fordert "Der Friedhof in Prag" den wissenden, fortgeschrittenen Leser. Andererseits braucht man dieser Zielgruppe kaum Wesen und Unwesen von Verschwörungstheorien zu erklären. Einerseits könnte dies ein niveauvoller Unterhaltungsroman sein. Andererseits bietet sich das Thema der "Protokolle" nur begrenzt dafür an. Einerseits folgt man der ornamental-ausschmückenden Sprache des Autors zunächst ganz gerne. Andererseits wird es sehr früh ziemlich zäh. Was bleibt ist ein schaler Geschmack. Nur die größten Freunde Ecos werden ihre Freude haben. Die anderen sollten Besseres lesen. Gregor Keuschnig

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Umberto Eco

Der Friedhof in Prag
Roman
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber
Hanser Verlag
Fester Einband, 528 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
Mit Lesebändchen
26.00 €
ISBN 978-3-446-23736-0

Leseprobe

 


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