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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Seitwert


Hesiod und die Monster

Über Heinz-Gerhard Frieses ambitionierte Kulturgeschichte zur »Ästhetik der Nacht«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Ästhetik ist die Lehre von der Wahrnehmung, griechisch: aisthēsis. Seit Baumgarten und Kant bezeichnet sie die Lehre vom Schönen und dessen Erfahrung; Hegel fokussierte das Kunstschöne und den schönen Schein; und schließlich war die Kunst für Adorno eine ernste Alternative zur gesellschaftlichen Realität. Erst in den letzten Jahrzehnten findet innerhalb der ästhetischen Theorie ein starker Rückbezug auf subjektive Erfahrungswelten und Werte statt. Zweifellos ist der subjektive Aspekt bereits bei Kant grundgelegt, verstand er doch die Ästhetik als Kritik des Geschmacks und als Lehre von der sinnlichen Erkenntnis. Es ging ihm um die kritische Beurteilung des Schönen und die Frage nach den Bedingungen ästhetischer Beurteilung, genauer: um unser Erkenntnisvermögen im Hinblick auf ästhetische Urteile. Allein die transzendentale Ästhetik war für ihn Wissenschaft im strengen Sinne, da sie von den Prinzipien der Sinnlichkeit a priori handelt. Bei Baumgartens unvollendet gebliebener Aesthetica ist die Ästhetik ars pulchre cogitandi, also eine Kunst des schönen Denkens, da Schönheit die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis meint.

Eine Ästhetik der Nacht wäre also nicht nur eine Theorie über die Schönheit der Nacht, sondern müsste zugleich auch die Frage nach Wahrnehmung und Urteilskraft des Menschen in Bezug auf die Schönheit der Nacht aufwerfen. Frieses Untertitel „Eine Kulturgeschichte“ verleiht dieser Ästhetik darüber hinaus eine historische Dimension. Zu erwarten wäre mithin eine Geschichte der Entwicklung der Ästhetik der Nacht von der altgriechischen aisthēsis bis zu gegenwärtigen Ästhetiken.

Das Buch aber handelt in der Hauptsache von Hesiod und den Monstern. Nach einer knapp 100seitigen „Vorrede“, in der vieles kryptisch bleibt („Die Nacht hat eingestülpte Leiblichkeit, so wie die Menschen eingestülpte Nacht haben“), widmet Friese sich Hesiods Theogonie, in der die Musen tanzen und die Götter gegen die Titanen kämpfen. Wichtiger noch: Der Tag (Hemera) geht aus der Finsternis (Erebos) und der Nacht (Nyx) hervor. Der entscheidenden Frage, ob das Lehrgedicht, in dem Entwicklung und Dauer im steten Widerspruch stehen, ob Hesiods archaische Poesie schon als Ästhetik gelten kann, geht Friese nicht wirklich nach. Vielmehr behandelt er es als ästhetisch anspruchsvolles Stück Literatur, das die Ordnung der Welt und die Verantwortung des Menschen zum Thema hat. Seine durchaus fundierte und ehrgeizig vorgetragene, mehr als 300 Seiten umfassende Quellenanalyse hält sich nicht unbedingt an den Titel des Buches. Das gilt leider auch für die folgenden 800 Seiten, die sich in der Hauptsache mit Monstern und Nachtleibern beschäftigen. Zwar werden ästhetische Aspekte immer mitgedacht, von einer Ästhetik der Nacht aber fehlt jede Spur. In besagtem zweiten Teil wuchert das Thema förmlich aus und entwickelt sich ähnlich wie Elisabeth Bronfens „Tiefer als der Tag gedacht“ zu einem Fragment über all die Nachtphänomene in der Geschichte des Menschen und seiner Kultur. Bronfens Darstellung jedoch bietet den Vorteil, die Kosmogonien der Nacht wesentlich kürzer zu behandeln. Und sie muss auch nicht den Spagat zwischen Ästhetik und Kulturgeschichte der Nacht mit bedenken. Genau dies wird Friese zum größten Problem. Ist sein Buch eine Kulturgeschichte der Ästhetik? In Sachen Ästhetik fehlen bei ihm Denker wie Baumgarten und Adorno, aber auch Derrida, der mit Fichus eine prominente philosophische Aufwertung der Nacht vorgenommen hat und den träumenden Diskurs als Stück Aufklärung deutet. Kant taucht bei Friese nur mit der Anthropologie und der Kritik der praktischen Vernunft auf. Für die Ästhetik ist freilich die Kritik der Urteilskraft bedeutend. Auch Platons Symposium, den Phaidros und die Politeia hätte er zugunsten des Timaios vernachlässigen können. In Sachen Kultur und Literatur vermisse ich Céline und Bonaventura. Selbstverständlich hat ein so gewaltiges Thema zwangsläufig seine Lücken, auch bei 1300 Seiten. Aber der Reise ans Ende der Nacht und den Nachtwachen hätte schon ein Platz gebührt. Bis zum Schluss ist mir zudem nicht ganz klar geworden, ob Hesiod und die Monster nur den ersten Teil einer weit umfänglicheren Kulturgeschichte der Nacht beschreiben.
 

Heinz-Gerhard Friese
Die Ästhetik der Nacht
Eine Kulturgeschichte
Rowohlt
Hardcover, 1312 S.
16.09.2011
49,95 €
978-3-498-02057-6


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