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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 02.06.14

Ist Fußball unser Leben?

Martin Gessmann Essayband »Mit Nietzsche im Stadion«

Von Lothar Struck




 

Prolog: Fußball und Politik (Norbert Seitz)

Als bei der Fußball-WM 1998 Gastgeber Frankreich Weltmeister wurde, initiierte Daniel Cohn-Bendit, damals Moderator der Schweizer Literatursendung "Literaturclub", eine "Spezialsendung", die dann tatsächlich einen Tag nach dem Endspiel ausgestrahlt wurde. Am Ort, an dem normalerweise über literarische Neuerscheinungen diskutiert wurde, lud der sicht- wie hörbar aufgewühlte Moderator vier Gäste ein, um über Parallelen zwischen Fußball und Politik und den vielleicht hieraus resultierenden Konsequenzen zu diskutieren.[1] Cohn-Bendit führte die Runde zielgerichtet in eine Diskussion um ein Buch von Norbert Seitz mit dem Titel "Doppelpässe". Seitz' Buch wurde seinerzeit stark diskutiert. Der Titel ist doppeldeutig. Zum einen geht um den Doppelpass zwischen Fußball und Politik  (das, was man hochtrabend Interdependenzen nennen könnte), zum anderen wird auf die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft angespielt, die Ende der 1990er Jahren in Deutschland für große Diskussionen sorgte. Verkürzt lautet die These des Buches, dass sich der Zustand und die politische Lage einer Gesellschaft (vulgo: Nation) in deren Fußballspiel spiegelt (und umgekehrt!).

Da wurde, so die These, 1954 der Krieg für Deutschland in Bern nachträglich gewonnen – mit einer Mannschaft, die Trainer und Tugenden aus dem Dritten Reich übernommen hatten und nun praktizierten; diesmal spielte allerdings – im Gegensatz zu Stalingrad – das Wetter mit. 1974 wurde eine deutsche Mannschaft Weltmeister, die den gesellschaftlichen Aufbruch im Geist der Zeit verkörperte. Und 1990 gab es die "Energie" der Wiedervereinigung (Cohn-Bendit), die einer schlechtspielenden, aber durch die Ereignisse selbstbewussten Mannschaft den Titel brachte – und den damaligen Teamchef Franz Beckenbauer zu der Aussage trieb, Deutschland werde nun auf unbestimmte Zeit unschlagbar bleiben (ein veritabler Trugschluss, der der Aura des "Kaisers" dann aber doch nichts anhaben konnte).

Natürlich spiel(t)en politische Einflüsse beim Fußball immer eine gewisse Rolle. Eisenberg wies auf die Stärken autoritärer und faschistischer Regime in den 1930er Jahren hin (bspw. Italien aber auch Deutschland), die alleine schon von großen finanziellen Zuwendungen profitierten. Aber Seitz geht es um mehr als nur staatliche Gelder oder einfache Wechselwirkungen. Es geht um Parallelen zwischen dem Spiel von Fußballmannschaften und der politischen Verfasstheit einer Gesellschaft.

Leidenschaftlich verteidigte Cohn-Bendit Seitz' These und unterbrach fast immer bei Einwänden seiner Gäste. Der Titel von 1954 nur ein "Zufall" (Christiane Eisenberg)? "Quatsch!". Als Anhänger der sogenannten Multikulti-Gesellschaft passte es ja auch 1998 zu schön: Die französische Nationalmannschaft war das Spiegelbild der Einwanderungsgesellschaft Frankreich, die sich auch entsprechend als solche stolz präsentierte, mit Schwarzen, Nordafrikanern und den "blanc", den Weißen. Hier entstand, so Cohn-Bendit fast esoterisch, eine "Produktionskraft", eine Energie. Die "integrative Mannschaft" reüssierte auf dem Spielfeld und machte so der Einwanderungsgesellschaft, die auch in Frankreich damals schon unter dem "Front National" politisch unter Druck stand, alle Ehre.[2] Der Gegensatz dazu war die hermetische Einwanderungsgesellschaft Deutschland, die ohne Türken und EU-"Gastarbeiter" spielte und sang- und klanglos im Viertelfinale gegen Kroatien auch noch als schlechter Verlierer ausgeschieden war. Die gesellschaftliche Blockade der Bundesrepublik, verkörpert durch Kohl, spiegele sich, so Cohn-Bendit,  im Spiel der deutschen Mannschaft.[3] Im Angesicht des triumphalen Endspielsiegs von 3:0 gegen Brasilien verblasste ein wenig das zähe Achtelfinalspiel gegen die defensiv-destruktive Mannschaft von Paraguay, die Frankreich erst mit einem Golden Goal besiegen konnte. Aber auch solche Einwände prallten ab: So sei er eben, der Fußball! Eine tautologische Erklärung; wie so oft, wenn nichts anderes mehr hilft. Vergessen auch das zähe Ringen mit Italien im Viertelfinale, dass erst im Elfmeterschießen für Frankreich entschieden wurde.[4] 

Obwohl die These einigen Charme habe, bezeichnete Stephan Müller Seitz damals als einen "Wahrscheinlichkeitsopportunisten". Bei entsprechender Auslegung wird man tatsächlich sehr viele zutreffende Punkte zu Seitz finden, was jedoch voraussetzt, die nicht stimmigen Beispiele entweder als Sonderfälle anzufertigen oder zu Ausnahmen zu deklarieren. Da wird dann etwas zusammengedichtet, was nicht immer ganz zusammenpasst. So geht Seitz kaum auf die diversen Titel südamerikanischer Mannschaften (insbesondere Argentinien 1976 und 1982 – einmal Diktatur, dann Demokratie) ein, die mit dieser These nicht zu erklären ist. Und es bleibt auch unklar, warum das in den 1960er Jahren untergegangene British Empire noch 1966 den WM-Titel schaffte. Schließlich: Deutschland errang noch 1996 mit dem zwei Jahre später "abgewirtschafteten" System Vogts (Klinke) die Europameisterschaft (wenn auch glanzlos).

Was die Diskutanten 1998 natürlich nicht wissen konnten: 2000 wurde Frankreich Europameister (noch stimmt's also). 2005 brannten dann in Paris die Vorstädte und 2010 gab es einen offenen "Putsch" in der französischen Nationalmannschaft gegen den Trainer. Der Multikulturalismus innerhalb der Mannschaft hat da nichts geholfen; vielleicht war unter dem selbstherrlichen Coach, der die Nachfolge des Meistertrainers angetreten hatte, eher das Gegenteil der Fall? Natürlich kann man hier auch Seitz "retten": Die Unruhen innerhalb der französischen Gesellschaft sind infolge falscher Politik wieder aufgekommen, aber 2006 hatte die équipe tricolore abermals die Chance, Weltmeister zu werden und unterlag unglücklich im Zidane->Kopfstoß-Endspiel gegen Italien.[5]

Auftritt der Philosophen

Auch Martin Gessmann knüpft zunächst scheinbar in seinem Essayband "Mit Nietzsche im Stadion" eine Analogie zwischen Fußball und Politik, indem er die Aufgabenverteilungen in einem professionell geführten Fußballverein mit politischen Organen vergleicht. So ist für ihn ein Trainer der Verfassungsgeber, der Manager übernimmt die Rolle des Parlamentspräsidenten und der Vereinspräsident ist äquivalent zum Staatsoberhaupt. Glücklicherweise führt er diese Betrachtungen nicht weiter, sondern entdeckt in der Analyse der Spielsysteme eine konzeptionelle Verbindung zwischen Fußball und der Gesellschaft. Eine deutliche Absage erteilt Gessmann dabei Theorien, die im Fußball eine Art Kompensation für archaische Verhaltensweisen sehen. Vielleicht passiert dies ein bisschen arg kursorisch, da sich beispielsweise immer noch bellizistische Elemente bis hinein in die Sprache des Fußballs zeigen. Aber sein Buch würde mit einer ausgiebigen Demontage in dieser Hinsicht aus den Nähten geplatzt sein.

Gessmann beschäftigt auch sich in seiner Strukturanalyse kaum mit den vergangenen Spielsystemen, was sich im Laufe der Lektüre als ein bisschen problematisch zeigt. Das jahrzehntelang praktizierte Spiel mit Libero hat sich (für ihn) längst erledigt. Hier erklärt er Martin Heidegger zum Kronzeugen, der in den 60er und 70er Jahren wenn möglich seinen Lieblingsspieler Franz Beckenbauer, den Libero par excellence, im Fernsehen anschaute. Der "freie Mann", entbunden jeglicher direkter Abwehr-Verpflichtung, der aus dem Mittelfeld heraus das Spiel offensiv machen konnte – hier sah Heidegger, der in seiner Hybris geglaubt hatte, den Führer führen zu können, das Führerprinzip auf ästhetische Art und Weise verwirklicht. Aber bereits in den 1970er Jahren sei dieses hierarchische Spielsystem obsolet gewesen, so Gessmann. Die deutsche Mannschaft habe 1974 gegen die Niederlande nicht wegen sondern trotz ihres Systems die Weltmeisterschaft gewonnen. Die Niederlande habe den besseren Fußball gespielt, aber verloren. Johan Cruyff ist für Gessmann der Vorreiter des schnellen, dominanzausstrahlenden Kurzpassspiels. Dabei vergisst er, dass Cruyff damals nicht der Trainer war, sondern in der doch eigentlich "veralteten" Rolle als "Spielmacher" agierte. Der Mann dahinter, Trainer Rinus Michels, kommt bei Gessmann genau so wenig vor wie der Begriff des "totalen Fußballs", den Michels aus der holländischen Fußballtradition fortschrieb und perfektionierte und Cruyff dann später in Barcelona modifizierte.

Der Abgesang auf die Libero-Spielweise hat sich inzwischen längst umfassend durchgesetzt, was Gessmann als synonym für die Veränderungen in der Gesellschaft sieht (hier streift er Seitz' These). Entworfen werden nun drei aktuelle Spielsysteme, die Gessmann Philosophietheorien zuordnet und dann gesellschaftliche Entwicklungen in ihren gespiegelt sieht. Sie werden in seinem Buch nach der Einführung in je einem Kapitel ausgiebig vorstellt und analysiert.

Man kann sie wie folgt kursorisch zusammenfassen:

Liberalismus  – Vertreter: José Mourinho
Philosophische Referenz: Thomas Hobbes
Defensive Grundausrichtung
Wettbewerb der Individuen innerhalb der Mannschaft
Geringe Starbildung möglich
Am Ende: Gesellschaftsvertrag mit Trainer als primus inter pares
Ergebnisorientiert

Republikanismus  – Vertreter: Pep Guardiola
Philosophische Referenz: Jean-Jacques Rousseau
Genaues, präzises Kurzpassspiel
Die Mannschaft ist ohne Stars; alle sind gleich
Das System steht über dem Ruhm des Spielers und des Trainers
Torschießen fast "lästig"

Ästhetizismus  – Vertreter: Jürgen Klopp
Philosophische Referenz: Friedrich Nietzsche
Offensives Spiel, hohe Laufbereitschaft mit "überfallartigen" Angriffen
Passspiel mit großer Geschwindigkeit kombiniert
Inkaufnahme eines hohen Risikos (Konter)
Schönheit vor Ergebnis

In den jeweiligen Kapiteln führt Gessmann den Leser an die entsprechenden philosophisch-gesellschaftlichen Grundtexte heran, die sich dann im Spielstil spiegeln und dabei die jeweiligen Befindlichkeiten bzw. Mentalitäten zeigen. Man mag die Ableitungen zum Teil sehr konstruiert finden – aber hierin liegt auch ein sympathischer Zug. Dabei ist in jedem Fall die Grundthese zu akzeptieren, dass der Fußball mehr ist als nur ein Spiel von 22 sehr oft sehr hoch bezahlten Balltretern. Das Spiel sei, so Gessmann, mitten in der Gesellschaft angekommen. Intellektuelles Naserümpfen über den einstigen Proletensport führt hier nicht weiter.

So weit, so gut. Man lernt aus diesem Buch einiges. Manchmal ist man von einer Parallele zwischen philosophisch-gesellschaftlicher These und dem entsprechendem Spielsystem verblüfft. Gessmann scheut sich auch nicht, scheinbare Widersprüche zu seinen Analogien zu erwähnen. So rekurriert er auf das ultra-permissiv[e] Spiel der Niederlande der 1970er Jahre, welches aber trotz seiner vermeintlichen Fortschrittlichkeit nicht zu einem Titel geführt habe. Etwas schnell wischt Gessmann die Überraschung durch griechischen Mannschaft, die 2004 mit Otto Rehhagels "veraltetem" System Europameister wurde, vom Tisch.

Die dritte Person

Das liberale Spielsystem mit seiner grundsätzlichen Freiheit, die jeder Spieler hier beanspruchen darf, birgt die Gefahr des Eskalationspotential[s] des Starkults. Nicht umsonst kommen die großen egomanischen Stars, die auf dem Platz für sich einen Sonderstatus beanspruchen, mit dem republikanischen System Guardiolas, das noch viel mehr auf das Kollektiv zielt, überhaupt nicht klar. Zlatan Ibrahimović, ein sogenannter "Superstar", der um seine Qualitäten sehr genau weiß und einer der bestbezahltesten Fußballspieler der Welt, kann mit Guardiolas Spielidee nichts anfangen und bezeichnete sie als "Scheiße für Fortgeschrittene". Diese Abneigung bleibt allerdings nicht auf das Spielsystem des katalanischen Trainers bezogen; auch menschlich kamen die beiden nicht zurecht. Das sah bei Mourinho anders aus, für ihn hätte er "töten" können.

Dennoch hat ein Star wie Ibrahimović auch im liberalen Spielsystem seine Probleme, wenn er zu sehr seine Allüren ausleben möchte. Liberalismus bedeutet nicht laissez faire. Selbst hier soll der Weg von einem Starensemble zu einem Starensemble  führen. Möglich wird dies durch ein Gesellschaftsvertrag à la Hobbes: Jeder gibt sein Recht auf alles auf und damit sein Recht sich selbst zu regieren und überträgt dieses Recht auf eine dritte Person. Für Gessmann ist diese dritte Person der Trainer, jener Spieler, der als einziger nicht durch den anstehenden, gegenseitigen Rechteverzicht und Nichtangriffspakt gebunden ist. Er, der Trainer, bleibt die Ausnahme in der Allürenvermeidungsregel, er muss es vielleicht sogar bleiben, weil der Trainer ja aus einem Verfahren als Begünstigter und damit als ein 'primus inter (vormals) pares' hervorgegangen ist und er ursprünglich also ein gleicher unter gleichen, ein Star unter Stars gewesen sein muss.  

Mourinho habe sich über Jahre hinweg als ein Meister der begrenzten Mittel und des reinen Ergebnisfußballs etabliert. Die "begrenzten Mittel" erscheinen im Angesicht der hochkarätigen Stars, die Mourinho trainiert hat und noch trainiert eher eine theoretische Formulierung. Interessant ist, dass das liberale Spielsystem praktisch systemimmanent reinen Ergebnisfußball praktizieren soll. Zwar stimmt dies ja tatsächlich - Mourinhos defensives Agieren, sein "Mauerfußball", macht ihn bei Fans anderer Mannschaften per se schon unbeliebt. Aber warum dies ein spezifisches Kriterium in einer liberalen Spielform sein soll, leuchtet nicht ganz ein, es sei denn man argumentiert mit den stark beanspruchten physischen Ressourcen von Spielern im längst ausufernden Spielzirkus in Europa (Meisterschaft, Pokal, internationaler Wettbewerb; Nationalmannschaft), was jedoch auch kein Spezifika eines Spielsystems darstellt.   

Warum Gessmann in der Beschreibung des liberalen Modells auf die Tatsache hinweist, dass die europäischen Spitzentrainer der Gegenwart zu großen Teilen eher mittelmässige bis schwache Spieler gewesen sind, ist ebenfalls nicht ganz nachvollziehbar. Zwar ist die Aussage an sich interessant und wird auch an Beispielen illustriert (alle drei Repräsentanten der Spielsysteme, zusätzlich werden erwähnt: Thomas Tuchel, Ralf Rangnick, Arsène Wenger, Arrigo Sacchi [man könnte auch Joachim Löw nennen] – im Gegensatz zu Beckenbauer, Cruyff, Berti Vogts beispielsweise). Aber warum es mit einem speziellen Spiel- bzw. Gesellschaftssystem in Verbindung gebracht wird, leuchtet nicht ganz ein.

»… dann schauen wir mal, ob wir ein Tor erzielen können.«

Ausgiebig und am ausführlichsten widmet sich das Buch dem republikanischen Spielmodell. Weit holt sein Autor aus und findet etliche Parallelen zum Gesellschaftsentwurf Jean-Jacques Rousseaus. Kurz und sehr vereinfachend gesagt: Rousseaus "neuer" Gesellschaftsvertrag "verlängert" Hobbes' Kontrakt. Die "dritte Person" des Trainers, der die "Rechte" der Spieler sozusagen koordiniert und bündelt, wird weitgehend abgeschafft zu Gunsten eines fast kollektivistischen Systems, der Mannschaft. Idealerweise wird ein "Naturzustand" erreicht, der es –Rousseau! –  den Spielern gestattet, ihre Kräfte und Eignungen ohne einengende Hierarchien und ohne Entfremdungen auszuleben. Alle müssen zum Souverän über alle werden. Es gibt keine Stars mehr; ihr Gehabe wäre für das Spielsystem hinderlich und kontraproduktiv. Die Mannschaft wird zu einem einzigen "Körper"; zum Kollektiv. Die Spieler "spielen" im wörtlichen Sinne. Gessmann anthropomorphisiert das "Spielsystem", welches die Spieler in eine Art Naturzustand versetzt. Der Trainer bleibt dann zwar doch noch, aber eben nur eine Art Vermittler; ein "Coach".

Ballbesitz, Kurzpassspiel; jeder Pass eine Kommunikation mit dem Mitspieler. Guardiolas System ist, wie er es ausdrückt, fast simpel: »Wir haben den Ball, und jetzt wollen wir mal sehen, ob sie es schaffen, ihn uns wieder abzunehmen. Wir spielen ihn uns so oft wie möglich gegenseitig zu, und dann schauen wir mal, ob wir ein Tor erzielen können.« Das republikanische Spielsystem entfernt sich vom reinen Nützlichkeitsdenken und Ergebnisfußball. Toreschießen wird, wie Gessmann einmal etwas süffisant erklärt, fast "lästig"; es stört den kombinatorischen Spielfluss. Die Gegenspieler kommen gar nicht mehr an den Ball. Bevor sie realisiert haben, wer den Pass erhalten soll, hat der Passempfänger bereits wieder abgespielt. Ein 0-10-0 ist das Ideal dieses Spiels, dass nach außen eine extrem hohe Ballbesitzquote zeigt. Am Ende soll die Spielweise den Spieler eingepflanzt sein; nichts darf mehr davon ablenken, was auch dazu führt, dass die Auseinandersetzung mit anderen Spielsystemen vermieden wird. 

Das republikanische Spielsystem habe die Physik des Spiels vollkommen verändert, so Gessmann. Auf die dritte Dimension – das Kopfballspiel – werde fast vollständig verzichtet; Standard-Situationen (Eckbälle, Freistösse) nicht als Hereingaben für besonders großgewachsene Spieler konzipiert und in der Regel kurz geschlagen. Die "Recken" der Abwehr, die bei Standards in den Strafraum kommen um mit dem Kopf ein Tor zu erzielen, haben ausgedient. Die Raumdimension geht bei diesem Spielsystem in die Fläche. Hier werden kleinere, technisch versierte Spieler bevorzugt.

Gessmann zeigt auch, wie die menschlichen Eigenschaften und Umgangsformen der Spieler in der Jugendarbeit beispielsweise des FC Barcelona geformt werden (die Johann Cruyff übrigens begründete). Benehmen, Demut, Bescheidenheit, Teamgeist werden parallel zur fußballerischen Technik gelehrt. Spieler müssen vom Kollegen zum Kameraden werden. Es bekommt etwas sektiererisches. Alles ist langfristig angelegt; auch in den Profivereinen. Kurzfristige Spielerverträge und allzu große Fluktuationen innerhalb des Mannschaftsgefüges sind unerwünscht. Was dann allerdings streng genommen wieder gegen Rousseaus "Naturzustand" sprechen würde.

Den Ausdruck "republikanisch" für dieses Spielsystem hat Gessmann gut gewählt. Es steht im krassen Gegensatz zum "monarchischen" Spielsystem mit Libero, Führungsspieler, Stoßstürmer und "Wasserträgern", die den anderen zuzuarbeiten haben. Interessant am Rande, dass der FC Barcelona und auch Pep Guardiola sich als Vertreter eines katalanischen Separatismus zeigen.

Wieder magische Momente

Schließlich widmet sich Gessmann dem Ästhetizismus, den er, was überrascht, mit der Kapitalisierung des Fußballs verbindet. Ganz am Ende versucht er, dies aufzuklären. Gemeint ist nicht die Kommerzialisierung des Fußballs per se mit Senderechten, Ablösesummen, Werbeeinnahmen und Spielergehältern. Den Tempo- und Risikofußball des ästhetischen Spielsystems vergleicht mit dem Hochfrequenzhandel an den Börsen – dies ist eine Analogie, mit der ich große Schwierigkeiten habe und die mir nicht schlüssig erscheint.

Kronzeuge für das ästhetische Spiel ist Jürgen Klopp und Borussia Dortmund. Die Einleitung zu dieser Betrachtung ist durchaus doppeldeutig angelegt, denn wenn Gessmann schreibt, dem Fußball drohte die Langeweile und der Verlust der magischen Momente so kann dies auch auf das Guardiola-Spiel zurückgeschlossen werden. Klopp hat nun Nietzsches Elan der Revolutionen auf das Spielfeld gebracht, zeigt Kampf-Fußball mit Bolzplatzpathos. Das nennt Gessmann Willensfußball und wer dabei nicht an Nietzsche denkt, ist dann endgültig selber schuld. Die Dialektik apollinisch und dionysisch verwendet Gessmann erstaunlicherweise nicht, könnte man doch hieran den Ergebnisfußball des liberalen Modells dem Klopp-System entgegensetzen. 

Klopps energetische Aufladung des Spiels ist von den Spielern ebenso verinnerlicht wie Guardiolas "Hallenhandballspiel" vor des Gegners Strafraum. Das Gegenpressing erfolgt auf den Pass, nicht auf den Mann. Die Angriffe werden überfallartig initiiert. Kurze Pässe gibt es dabei ebenso wie lange, die allerdings sehr präzise ausgeführt werden müssen, damit durch einen Ballverlust der Gegner keinen Konter beginnen kann, da alle Spieler aufgerückt sind. In Klopps Spielsystem bleibt die dritte Dimension, der Luftraum, erhalten. Immer wieder wird gebetsmühlenartig vom Umschaltspiel geschwafelt, dass die Dortmunder beherrschen. Dabei ist es umgekehrt, wie Gessmann en passant eine Reporterphrase decouvriert: Das Umschaltspiel beherrscht die Dortmunder. Das ästhetische Spielsystem wird mit Hochgeschwindigkeit gespielt und ist mit hohem Risiko verbunden. Die Laufbereitschaft, das Sprinten von einem Ende des Platzes zum anderen – nirgends sind diese Spielweise so wichtig wie hier. Dieses Spielsystem fordert und fördert die kreative Entfaltung des Menschen.

Es besteht kein Zweifel, dass Gessmann, der sich so neutral wie möglich gibt, das ästhetische Spielsystem bevorzugt. Das ist auch kein Problem; die Systeme, wie Gessmann sie sieht, werden mit philosophischen Analogien weitgehend gleichrangig behandelt. Manches Bild sticht nicht; anderes ist erhellend. Das Grundproblem des Buches liegt in seiner Generalisierungstendenz. Zwar wird vage angedeutet, dass diese Systeme nur eine Bestandsaufnahme des Status quo sind. Gessmann versteift sich zu sehr auf die drei Protagonisten ohne auch andere wichtige Konzepte, die unter Umständen Mischformen darstellen, auch nur anzusprechen. Fast schon merkwürdig, dass einer der maßgeblichen Verfechter und Weiterentwickler der republikanischen "Tiki-Taca"-Spielmethode, der spanische Nationaltrainer Vincente del Bosque, bei Gessmann keine Beachtung findet. Neben der taktischen und strategischen Ausrichtung liegt das Verdienst del Bosques ja vor allem auch darin, die beiden großen rivalisierenden landsmannschaftlichen "Blöcke" innerhalb des Teams – die Katalanen und die "Spanier" – befriedet zu haben. Ähnlich ließe sich gewiss auch von Aimé Jacquet sagen, der 1998 mit Frankreich den Titel gewann und die Einwandererfraktion mit den "Einheimischen" zusammenfügte. Womit man dann über einen kleinen Umweg doch wieder bei Seitz vorbeigekommen wäre. Und was ist eigentlich mit Joachim Löw, der im Buch nur als taktischer und strategischer Kopf hinter dem Motivator Klinsmann bei der WM 2006 vorkommt? Löws Spielweise zeigt ja große Parallelen zum republikanischen System.

Auch nichts zu Carlo Ancelottis Spielweise, dem aktuelle Trainer von Real Madrid. Entgegen der gängigen Doktrin, in der jeder Feldspieler praktisch situativ jede Position spielen muss, sind bei ihm zwei Spieler, die "Stars" Cristiano Ronaldo und der Stoßstürmer Karim Benzema, von Abwehraufgaben weitgehend befreit. Ähnliches findet sich auch in der schwedischen Nationalmannschaft, die ihren Superstar Ibrahimović auch von defensiven Aufgaben entbunden hatte (ob dies dazu führte, dass man nicht bei der WM 2014 dabei ist?). Dies ist eine Element, dass verdächtig an die "monarchistischen Zeiten" erinnert, wenn auch die Spielanlage ansonsten sehr modern ist.

Was auch fehlt: Spielsysteme aus niederen Ligen. Wie spielt Hansa Rostock gegen Unterhaching in der 3. Liga? Oder Rot-Weiß Essen gegen Oberhausen im Pott-Duell in der Regionalliga West? Gessmann orientiert sich zu stark am Spitzenfußball. Womöglich betrachtet er die drei differenten Spielmodi als Oberbegriffe. Andere Systeme, die immer wieder ja nach Spielsituation auftauchen, wie den berühmten Catenaccio oder der Vorläufer des modernen Spiels, die sogenannte Raute, würden dann als untergeordnete "Zwischensysteme" fungieren. Einen entsprechenden Hinweis darauf hätte man schon gerne gelesen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Gessmann kein Fußball-Taktikbuch geschrieben hat und sich daher vermutlich bewusst nicht ins Detail einlässt.   

Sehr bedauerlich, dass neben den fehlenden Hinweisen auf Vorspieler des republikanischen Systems auch die historischen Parallelen zum ästhetischen Spiel, die immer wieder in der Bundesliga aufflackerten, gänzlich unberücksichtigt bleiben. In den 70ern galt vor allem Borussia Mönchengladbach und in der ersten Hälfte der 80er der Hamburger SV als Vertreter jenes Dauerbegeisterungsfußball à la Klopp heute. Trainer wie Hennes Weisweiler und Ernst Happel spielten nietzscheanischen Fußball, während Bayern München und vor allem Trainer Udo Lattek für das ergebnisorientierte Spiel standen. Der aktuell von Borussia Dortmund praktizierte Fußball ist nicht ganz neu erfunden worden.

Statt sich die zuweilen doch eher langweilige Vorberichterstattung zu den Spielen anzutun, empfehle ich - bei aller Kritik - Gessmanns Buch als intellektuellen Wachmacher. Es ist weder liberal, noch republikanisch, sondern - in Anlehnung an Nietzsche – dionysisch und damit ganz nah beim ästhetischen Hochrisikofußball.

Und dann bleibt ja immer noch das "ultimative" philosophische Endspiel mit dem wichtigsten Satz der Fußballreportergeschichte überhaupt: "Beckenbauers Aufstellung überrascht ein wenig". 

 

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem Buch von Martin Gessmann.

Eine Leserunde mit fachlichen Kommentaren zu diesem Buch finden Sie hier: Begleitschreiben


[1] Zu Gast waren die Historikerin Christiane Eisenberg, der Theaterregisseur und –intendant Stephan Müller, Johnny Klinke, der als "Lebenskünstler" vorgestellt wurde (er betreibt ein Varieté-Theater in Frankfurt, der Heimatstadt Cohn-Bendits) und der Schriftsteller Thomas Hürlimann.

[2] Dabei hatte Cohn-Bendit vermutlich den Aufsatz von Lucas Delettre, einem ehemaligen "Le Monde"-Korrespondenten in Bonn, überlesen, der sich in Seitz' Buch mit der französischen Nationalmannschaft und deren Chancen beschäftigte, eine Art Wagenburgmentalität Frankreichs ausmachte und am Ende feststellte: "Inwieweit wollen wir, inwieweit können wir uns von der Globalisierung des Sports abkapseln?"

[3] Auch den sehr feinen Aufsatz von Jochen Leinemann aus Seitz' Buch hatte er vielleicht nicht präsent. Während Seitz in seinen Texten kaum ein gutes Haar an Vogts ließ und ihn kongenial zum ungeliebten Kanzler Kohl rückte, schrieb Leinemann fast eine Hommage auf den ehemaligen "Terrier" Vogts.

[4] Auch Brasilien quälte sich gegen die Niederlande im Halbfinale und gewann erst nach Elfmeterschießen.

[5] "Doppelpässe" ist dennoch heute größtenteils sehr gut lesbar, auch wenn Seitz, wie Helmut Böttiger feststellt, sehr "sozialdemokratisch" argumentiert. Einige Beiträge von Politikern sind erschreckend langweilig. Aber es gibt auch sehr schöne und instruktive Aufsätze über den spanischen, französischen und holländischen Fußball – alle natürlich nur bis 1997. Und Seitz' Bemerkungen zum Ruhrgebiets-Fußball und die oft abenteuerlich-spitzbübischen Konstrukte auf seine These hin, sind interessant und amüsant, auch wenn er gelegentlich bestimmten Klischees – Borussia Mönchengladbach als rebellische Mannschaft darzustellen etwa - aufsitzt. Die paar Euro, die es im Antiquaritat kostet, versprechen durchaus Vergnügen.

 

Martin Gessmann
Mit Nietzsche im Stadion
Der Fußball der Gesellschaft
Wilhelm Fink Verlag
1. Aufl. 2014, 143 Seiten, kart.
16.90 €
978-3-7705-5761-5

Leseprobe


Siehe auch:

Martin Gessmann
Philosophie des Fußballs

Warum die Holländer den modernsten Fußball spielen, die Engländer im Grunde immer noch Rugby und die Deutschen den Libero erfinden mussten
Wilhelm Fink Verlag
166 S., kart., 16.90 €
978-3-7705-5105-7

 


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