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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 11.04.13

Weggefährten & Rivalen

Gunter Hofmann erzählt die Geschichte der schwierigen
Freundschaft von Willy Brandt und Helmut Schmidt.

Von Lothar Struck






 

Es beginnt mit einem Bild: November 1983. Sonderparteitag der SPD. Soeben wurde mit 400 gegen 14 Stimmen beschlossen: Der Nato-Doppelbeschluss, die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen für den Fall, dass die UdSSR nicht abrüstet, ist nicht mehr Parteilinie. Knapp ein Jahr nach der Wende der FDP zur CDU/CSU und dem Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Die Delegierten hasten zu den Ausgängen, unter ihnen der Parteivorsitzende Brandt, der sich endlich durchgesetzt hatte, und der Ex-Kanzler Schmidt, der als Miterfinder dieser Politik galt. Noch 1979 hatte Brandt Schmidts Politik aus machtkalkulatorischen Gründen mehr miter- als getragen. 1983 war dann keine Loyalität mehr notwendig. Die beiden begegneten sich nach der Abstimmung unbeabsichtigt. "Journalisten, die es beobachteten, haben die wenigen Sekunden nie vergessen: Sie sahen sich nicht an, Willy Brandt und Helmut Schmidt, und sie sahen sich nicht." Sie schüttelten sich nicht die Hände, gingen nicht aufeinander zu. Die schwierige Freundschaft, wie sie Gunter Hofmann im Untertitel seines Buches nennt, war auf einem Tiefpunkt angelangt. "Schisma" heißt das Kapitel, das diese Frage, die damals Millionen Menschen mobilisierte und besorgte, genau beleuchtet (und wie nebenbei mit einigen kleineren Legenden aufräumt). Aber es war nicht nur ein Schisma zwischen zwei Persönlichkeiten. Längst hatte sich eine neue, grüne Partei aus der Protestszene der frühen 80er Jahre herausgebildet. Die jungen Leute gingen der SPD verloren und die Linke schwächte sich, in dem sie sich zersplitterte. Brandts Déjà-vu aus anderen, schlimmeren Zeiten. Und die Freundschaft zwischen Brandt und Schmidt war auf einem Tiefpunkt angelangt. Sie zerbrach allerdings – anders als die zwischen Brandt und Wehner (falls es denn jemals eine war) – nicht; sie ruhte nur, suchte einen neuen Weg.

Immer wieder betont der Autor: Es sind nur fünf Jahre Unterschied. Hier Willy Brandt, 1913 geboren. Und dort Helmut Schmidt, 1918. Nur fünf Jahre – aber die Lebensläufe hätten unterschiedlicher nicht sein können. Hier der Emigrant, der 1933 nach Norwegen in den friedlichen, unbewaffneten Widerstand gegen die Nazis ging. Der einst glühende SPD-, dann, radikaler, SAP-Anhänger. Der den (gemäßigten) Sozialdemokraten Julius Leber, der 1945 von den Nazis ermordet wurde, zeit seines Lebens zum Vorbild hatte (eine Gemeinsamkeit mit Schmidt übrigens). Dort der Arbeitersohn Helmut Schmidt mit, wie er später erst erfuhr, jüdischem Großvater (der, den er für seinen Großvater hielt, war es nicht). Der 1937 freiwillig zur Wehrmacht ging und fast den ganzen Krieg dort, bei dem "einzig anständigen Verein" wie er die Wehrmacht später nannte und weiterhin nennt, mitmachte. Der Emigrant und der pflichterfüllende Wehrmachtsoldat. Sie beide bildeten mit dem geläuterten Kommunisten Herbert Wehner, der "am eigenen Beispiel" die "Arbeiterklasse mit der Republik versöhnen" wollte (Hofmann), die berühmte "Troika" der SPD. Das jahrzehntelange Verhältnis zwischen Brandt und Schmidt untersucht Gunter Hofmann, langjähriger Redakteur und Chefkorrespondent der "Zeit" in diesem Buch.

Rasch zeigt sich, dass Hofmann nicht einfach nur ein "Experte" ist, der "sein" Gebiet in- und auswendig referieren kann. Nein, Gunter Hofmann ist ein Kenner der bundesdeutschen Politikläufe seit 1949. Und es gelingt ihm, diese Kennerschaft dem Leser spürbar zu machen – ohne ihn mit dem Zeigefinger belehren zu wollen. Einmal schreibt er, Brandts Regierungs- und Führungsstil sei mehr ein Fragen als ein Anordnen gewesen. Auch Hofmanns Stil ist fragend – dort, wo er etwas nicht weiß bzw. nicht wissen kann, fragt er und überlässt es dem Leser, die Antworten für sich zu finden; Antworten, die nicht unbedingt nur ein falsch oder richtig kennen.

Schmidt und die Wehrmacht

Die quälendste aller Fragen wird zu Beginn und noch einmal am Ende aufgeworfen: Welche Rolle spielte Helmut Schmidt in der NS-Zeit? Seine Äußerungen hierzu werden erläutert. War die Wehrmacht für ihn (vielleicht auch für andere?) eine Art Refugium, in der eine Immunisierung vom Nazismus möglich war? Das Wissen um fast Nichts, was später so allgegenwärtig war. Wenige Monate nur war Schmidt 1941 in Russland. Es kann ja sein, dass er da von Judenvernichtungen nichts gehört hatte. Aber auch nichts vom Kommissarbefehl? Im Buch wird erwähnt, dass Schmidt 1943 für einen Tag beim sogenannten "Volksgerichthof" abkommandiert gewesen war. Hofmann schreibt hier von der Teilnahme am Prozess gegen Ulrich von Hassell – dieser Prozess war aber 1944. Dort sei ihm, Schmidt. klar geworden, wie verbrecherisch das Regime gewesen sei. Aber kann es sein, dass jemand, der so etwas gesehen hatte, keine Ahnung über die Hintergründe besaß? Schmidt war Offizier, auch wenn er fast "nur" als Referent für Ausbildungsvorschriften eingesetzt war. Eine Frage jedoch taucht auch in diesem Buch nicht auf: Hatte Brandt sich diese Frage über Schmidts Rolle jemals gestellt? Er hätte gelacht, als er Schmidts Rede über die Kameradschaft unter den Soldaten gehört habe, heißt es nur einmal.

Oder liegt die Antwort in Brandts frühen Schriften, aus denen Hofmann zitiert? Zwei Grundannahmen sind hier bereits verankert, von denen Brandt niemals abgewichen ist. Zum einen negiert er die Kollektivschuldthese. Besondere Umstände hätten die Deutschen auch zu "Werkzeugen – und Opfern – des Nazismus werden lassen", zitiert Hofmann Brandt aus einem Buch von 1946. Was häufig übersehen wird: Indem Brandt eine kollektive Schuld der Deutschen negiert, hebt er die jeweilige Verantwortung des Einzelnen stärker hervor. Schmidt dürfte das ähnlich gesehen haben, aber bei Brandt hat eine solche Sicht natürlich ein anderes Gewicht. Zum anderen, und das ist vielleicht so etwas wie das heimliche Vermächtnis des Willy Brandt bis in die heutige Zeit: Für ihn war niemals etwas "alternativlos" (wie man heute so leichtfertig sagt). Hitler hätte, so Hofmann Brandt aus einer Rede von 1959 zitierend, nicht an die Macht kommen müssen. Für Brandt hatte die "Bewegung", der auch er angehört hatte, in Anbetracht des Nazismus "versagt". Es wäre möglich gewesen, die Weimarer Republik zu retten: die Linke zog es stattdessen vor, sich zu spalten – sie hatten es im Rahmen der demokratischen und parlamentarischen Möglichkeiten "nicht vermocht, die Unmenschen von der Macht fernzuhalten". Und 1981 bekräftigte Brandt in einer Rede über sein Vorbild Julius Leber die Notwendigkeit in Zeiten, in denen es gilt, eine "überragende Gefahr" zu verhindern, "ungewöhnliche Bündnisse" zu schließen. Es sei dann "sogar geboten", zitiert Hofmann. "Brandt predigte nicht nur Geschichtsoffenheit, er hatte sie verinnerlicht". Ein Schicksal, einen unabwendbaren Gang der Geschichte, gab es nicht, so lange Menschen noch handeln konnten. Hier liegt auch der Schlüssel für Brandts Neigung, auf andere zu hören, ihr vielleicht zunächst abseitiges Urteil zu versuchen, in eine Entscheidung zu integrieren. Etwas, was Helmut Schmidt als Schwäche empfand und hasste.

Politisch waren Brandt und Schmidt zunächst gar nicht so weit auseinander. Beide waren in den 50er Jahren gegen die dogmatische Rolle der Schumacher-"Dagegen"-SPD. Brandt hatte, wie er meinte, lange genug "nein" gesagt, sagen müssen: Nein zum Nationalsozialismus, Nein zur bürgerlichen Welt. "Brandt zog es längst vor, zu sagen, wofür er ist. Das hatte er übrigens mit einem gemein, den er bis dahin nicht kannte – Helmut Schmidt." Sie waren das, was man "Realisten" nannte. Und überzeugte Transatlantiker. Beider politisches Vorbild in der SPD war Ernst Reuter. Zwar gestaltete sich die SPD 1959 mit dem "Godesberger Programm" um und verabschiedete ihre sozialistischen Ideale, aber es bedurfte einer sanften "Rebellion" bei einem Parteitag 1960 gegen das "traditionalistische Ollenhauer-Lager". Die Troika hatte sich gefunden. 1961 wurde Brandt zum ersten Mal Kanzlerkandidat. Das war noch zu früh. 1962 machte Schmidt zum ersten Mal bundesweit Schlagzeilen – er profilierte sich als Krisenmanager bei der Hamburger Flutkatastrophe (am Rande: Hofmann sitzt nicht dem Fehler auf, Schmidt als Hamburger Innensenator zu bezeichnen; das wurde er erst einige Monate nach dem Ereignis).       

"…das Bismarcksche an Brandt"

Zuweilen setzt Hofmann Schmidts und Brandts Lebensläufe der Kindheit und Jugend konstrastierend fast parallel nebeneinander. Bei Schmidt stützt sich Hofmann besonders auf die umfang- und detailreiche Biografie von Hartmut Soell. Peter Merseburger wird für ihn bei Willy Brandt zum Kronzeugen. Aber auch andere Autoren kommen zu Wort, wie Jonathan Carr, Harald Steffahn und Martin Rupps (zu Schmidt) bzw. David Binder, Egon Bahr und Gregor Schöllgen (zu Brandt). Sehr instruktiv ist es, wenn Hofmann die autobiografischen Texte von Brandt und Schmidt mit den Einschätzungen der Biografen und eigenen Eindrücken verknüpft. Dabei werden kleine Unstimmigkeiten nie in auftrumpfendem Gestus aufgedeckt, sondern in bestem Sinne diskursiv behandelt.   

Aber man täusche sich nicht: Hofmanns Buch ist keine meinungslose Melange aus zwei Biografien. Es ist schon verblüffend, wenn Brandt in einigen, am Ende entscheidenden Situationen "zielstrebiger" als Helmut Schmidt agiert. Gegen Ende schreibt Hofmann sogar: "Mir scheint, das Hamletsche an Schmidt und das Bismarcksche an Brandt geriet … zu oft aus dem Blick". Man muss die Geschichte dieser beiden Persönlichkeiten nicht gänzlich neu schreiben, aber die allzu bequemen Urteile - Brandt ist ein Zauderer; Schmidt ein "Macher" - sind in dieser Verallgemeinerung schlichtweg falsch.

Es war Willy Brandt der gegen die Bedenken Schmidts (und auch Wehners) noch am Wahlabend der Bundestagswahl 1969 mit der FDP die sozial-liberale Koalition schmiedete - und dies trotz einer knappen Mehrheit. Aber Schmidt zögerte. Er hatte sich mit der Fortsetzung der Großen Koalition abgefunden. Vielleicht spekulierte er auf ein Ministeramt (er war SPD-Fraktionsvorsitzender). Hofmann schildert wie schwer es für Brandt war, in der Großen Koalition seine progressiv orientierte Außen- und Sicherheitspolitik umzusetzen. Das lag weniger am ehemaligen NSDAP-Mitglied Kiesinger (Brandt schluckte die Kröte, die Wehner praktisch alleine serviert hatte) als an der Rücksicht, die er glaubte, der CDU/CSU-Fraktion verpflichtet zu sein. Da die FDP bereits im Wahlkampf einen Wechsel zur SPD kaum noch verklausuliert als Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, ergriff Brandt die sich ihm bietende Gelegenheit.  

Vor allem die in den 1960er Jahren ausgearbeitete Ostpolitik forcierte Brandt mit großer Energie. Egon Bahrs unverzichtbare Rolle als Unterhändler und Vertrauter ist vielfach beschrieben worden. Hofmann merkt an, dass Bahrs berühmte Tutzinger Rede von 1963 mit der griffigen Parole "Wandel durch Annäherung" überschrieben eher durch Zufall in dieser Form gehalten wurde - Brandt hatte sich damals verspätet und sollte eigentlich vor Bahr reden. Er hatte nicht ganz so weit gehende Formulierungen gewählt und befürchtete mit der Formel könnte das subversive Element der Entspannungspolitik, die im Juni 1984 in den sogenannten Korb III der KSZE-Schlussakte mündete, sozusagen "verraten". Die Sorge war unbegründet - weder die Regierungen der Staaten des Warschauer Pakts noch die große Masse der CDU/CSU-Fraktion verstand die implosive Kraft dieser Politik (einschließlich etlicher Unterstützer, die nach dem Mauerfall fassungslos vor Brandts Einheitsbekenntnissen standen). In ihrer Beschränktheit versah die Opposition noch Jahre später die Ostpolitik mit dem Odium des "Verrats" durch den "Emigranten". Dass dann der von Schmidt verachtete, von Brandt jedoch durchaus respektierte Helmut Kohl diese Politik nach 1982 fortsetzte, befriedigte Brandt.

"Nein, Frahm"

Trotzdem: diese "Verräter"-Denunziationen, die von Adenauer ausgehend bis weit hinein in die 70er Jahre immer wieder aufflammten. Sie bildete mehr als nur das Lindenblatt auf Brandts Rücken. Es war eine leicht aufzubrechende Narbe. Noch Jahrzehnte danach traf es Brandt, dass auf einen der Stimmzettel zur Kanzlerwahl 1969 "Nein, Frahm" stand; Hofmann schreibt, es sei eine Stimme aus der Koalition gewesen. Und Schmidt? Er reüssierte im Kabinett Brandt/Scheel. Zunächst Verteidigungsminister ("Militarist" hatten ihn Parteifreunde schon in den 50ern gescholten, als er an einer Wehrübung teilnahm und später für die Wiederbewaffnung eintrat), dann sogar Superminister (Wirtschaft und Finanzen). "Schmidt-Schnauze" hieß er im Parlament. Schmidt scheute keinen noch so abseitigen Nazi-Vergleich, wenn er einen sich ereifernden Redner der CDU/CSU angreifen wollte. Aber er war nie Brandts Mann fürs Grobe. Sein Ego war nach außen enorm. Dabei wollte er - das arbeitet Hofmann wunderbar heraus - von Brandt immer anerkannt, vielleicht sogar geliebt werden. So bot Schmidt Brandt offen und unverhohlen 1959 in einem Brief seine Freundschaft an. Brandt antwortete ausweichend. Er stand lieber ein bisschen abseits, wollte nicht vereinnahmt werden.

Ein separates Kapitel widmet sich der Korrespondenz zwischen Brandt und Schmidt. Erstaunlich, dass sich diese Männer Briefe schrieben. Besonders als Brandt Kanzler war. Das Muster dabei: Schmidts lange Briefe - Einwände, Fragen, Bitten um Klarstellungen Brandts, Anmahnen von "Führung". Die Antworten fallen entweder formal aus (er siezt Schmidt, wenn es sich um ein halboffizielles Schreiben handelt) oder knapp, ausweichend. Manchmal beides. Es ist keine Frage: Schmidt hat Brandt verehrt. Sein rüder Perfektionismus sollte das politische Charisma Brandts irgendwie kompensieren. Erste Risse macht Hofmann zwischen den beiden 1973 aus; die "Lebenswege hatten sie - fast  auseinandergerissen. Brandt wollte verstehen, einbinden und integrieren. Schmidt wollte selbst definieren, wohin die Reise geht, wollte führen und kontrollieren." Und "Wehner folgte sich alleine". Es ging nicht mehr lange gut.

Immer wieder löchert Schmidt Brandt mit Fragen, Klagen, Warnungen, ungefragt erteilten Ratschlägen. Aber Brandt taucht ab: Nach dem großartigen Wahlsieg 1972 fällt er in Depressionen (Schmidt) oder Schwermut (wie es Egon Bahr freundlicher und unverbindlicher ausdrückt). Die Ostpolitik, nobelpreisausgezeichnet, war gegen massive Widerstände durchgesetzt worden und auf einem guten Weg. Und nun? Brandt fehlte der Elan. Schmidt hatte durchgesetzt, dass Ehmke, der Chef des Kanzleramtes, der das volle Vertrauen von Brandt genoss, ins Postministerium "abgeschoben" wurde. Zwar wurde Egon Bahr Intimus des Kanzlers, aber Schmidt glaubte, seinen Einfluss auf Brandt verstärken zu können, wenn Ehmke ausfalle. Es gingen Landtagswahlen für die SPD verloren. Die Innen- und Wirtschaftspolitik rückte in den Fokus. Erste Ölkrise 1973. Die Inflation stieg (auf mehr als 6%). Schmidt, der "mächtige Minister", blieb nach der exorbitant hohen Lohnforderung der Gewerkschaft ÖTV für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst Anfang 1974 von mehr als 14% "unsichtbar" und ließ den Kanzler ausrichten, er trage seine Entscheidung mit. Dabei hatte Schmidt die Forderung vorher als "nicht darstellbar" bezeichnet. Es wurden rund 12%, nachdem der Nahverkehr bestreikt wurde und einige Tage der Müll sich in den Straßen stapelte. Wollte Schmidt den Kanzler bewusst demontieren? Hatte er sogar hinter den Kulissen mit dem damaligen ÖTV-Chef Kluncker, einem Freund, gegen Brandt konspiriert? Es kam zu einem Ansehensverlust Brandts in Fraktionen und Regierung. Das linksintellektuelle Establishment kritisierte Brandt vor allem wegen des Radikalenerlasses (den Hofmann richtigerweise als eine Art Zugeständnis an die Opposition für die Ostpolitik sieht). Sah so das "mehr" an Demokratie aus, dass man wagen wollte? Wehner, der Fraktionsvorsitzende, hielt mit seiner Meinung nicht mehr hinter dem Berg. Auf einer Auslandsreise beschimpfte er Brandt, er "bade gerne lau", so kolportierten die Journalisten.

Schmidt zögerte abermals

Fast schien da die Guillaume-Affäre gerade recht zu kommen. Nach außen blieb sie lange der Grund für den Rücktritt Brandts im Mai 1974. Hofmann sieht in Guillaume, der, wie neuere Untersuchungen zeigen, ein höchstens mittelmäßiger Agent war und kaum geschadet haben dürfte, nur eine Ursache für Brandts Demission. Es war die Innenpolitik. Und Brandt hatte das Vertrauen vor allem in Herbert Wehner verloren. Dessen Rolle als SPD-Fraktionsführer im Bundestag war aber sakrosankt. Aber Brandt zeigte sich merkwürdigerweise 1974 stark: Er bestand auf seinen Rücktritt. Die Geschäftsgrundlage war ihm entzogen. Agiert so ein Mann, der depressiv ist? Bahrs Tränen in der Fraktion, als Wehner Brandt einen Strauß roter Rosen schenkte, erwähnt Hofmann nicht. Bahr erklärte dies immer in Bezug auf Wehners Heuchelei – es war nicht Trauer über den Rücktritt Brandts, es war Wut: Wehner schrie "Wir werden dich immer lieben" - ein Treueschwur auf den Mann, den er seit Wochen planmäßig demontiert hatte, dessen vermeintlich promiskuitives Privatleben er instrumentalisierte. Soviel Niedertracht rührte den hart gesottenen Verhandler Bahr zu Tränen.

Wehner hatte den Kanzlerwechsel eingestielt: Schmidt sollte es machen. Und wieder zögerte dieser. War es nur Koketterie? Angst vor der Macht? Den Gedanken äußert Hofmann nicht. Zu viel Überliefertes spricht dagegen. Schmidt sprach und spricht von "Verantwortung", was seine Kanzlerschaft angeht. Aber Brandt agierte 1969 als Machtpolitiker; es war eine Macht, die er brauchte, um, wie er seiner Frau Ruth einmal sagte, Einfluss zu gewinnen. Er wollte verändern, kalkulierte sogar ein, dass er aufgrund der knappen Mehrheit nicht die vier Jahre durchhalten werde. Brandt riskierte etwas, Schmidt fügte sich.

Schmidts Kanzlerschaft: Terrorismus, Wirtschaftskrisen, Doppelbeschluss. Schon seine erste Regierungserklärung: Kontinuität ja – aber mit anderen Akzenten. Von einer "realistischen Entspannungspolitik" sprach er. Brandt verstörte das; war denn seine Entspannungspolitik, sein Lebenswerk, "unrealistisch"? Schmidt wollte – ähnlich wie sein Koalitionspartner FDP – die Sozialausgaben einschränken, weniger Schulden aufnehmen. Aber mit der SPD war das nicht zu machen. Der Doppelbeschluss mobilisierte eine neue bürgerliche Friedensbewegung, die er glaubte beschimpfen zu können und unterschätze. 1980 wählte man noch das kleinere Übel – Strauß musste verhindert werden, weil danach angeblich die Bundesrepublik untergegangen wäre. Die Ratten verließen dann zwei Jahre später das sinkende Schiff und blieben mit CDU/CSU noch weitere 16 Jahre an der Regierung (von 1969-1998 ununterbrochen). Wie 1974 scheiterte 1982 ein SPD-Kanzler vor allem an der Innenpolitik (das sollte 2005 noch einmal passieren). Brandt wollte Schmidt überreden noch einmal zur Bundestagswahl 1983 anzutreten. Aber warum sollte er? Die Troika war längst zerbrochen, nur noch Fassade.

"Ergänzungsverhältnis"

Wehner ging 1983, Brandt blieb SPD-Parteivorsitzender bis 1987 und sogar bis 1992 im Bundestag. Er hatte seit 1974 mit Wehner gebrochen. 1990 nahm er nicht einmal an dessen Beerdigung teil. Und auch das Verhältnis zu Schmidt bekam große Risse, aber der Respekt blieb. Schmidt wurde 1983 Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit"; er blieb bis 1987 im Bundestag. Hofmann zitiert Stimmen, die noch heute sagen, Brandt sei nach dem Rücktritt ein anderer Mensch geworden. Als die SPD nicht mehr in Regierungsverantwortung war, blühte er in anderen Ämtern wie als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale oder in der "Nord-Süd-Kommission", noch einmal neu auf, entwarf Ideen von einem europäischen Deutschland, wollte die Friedensbewegung verstehen (und wurde nicht verstanden; eine anmaßende Petra Kelly verstörte Brandt). Während Helmut Schmidt schrieb, Europa brauche keine Träumer, sondern Handwerker. Wer hat Recht? Für Hofmann ist die Sache klar, aber er hält sich dezent zurück.

Überhaupt: diese Diskretion. Und das bei aller Faktenfülle. Brandts Liebschaften? Schmidts Eskapaden und Krankheiten (häufig sei er bewusstlos im Büro aufgefunden worden, so Hofmann)? Brandts Depressionen und die zu lange Parteiführung? Seine Irrtümer, was die "Enkel", besonders Oskar Lafontaine anging (was dann auch zum Bruch führte, als Lafontaine die Einheit nicht annehmen wollte)? Andeutungen, mehr nicht. Einerseits gut – man braucht keine Blicke durch das Schlüsselloch, um politische Angelegenheiten bewerten zu können. Andererseits ist die Bundesrepublik längst so liberal geworden, dass einem "Enthüllungen" nur allzu menschlich erschienen. Schließlich weiß man heute auch (Hofmann erwähnt das), dass das Misstrauensvotum 1972 gegen Brandt nur scheiterte, weil die Staatssicherheit Stimmen kaufte. Und es hat Deutschland nicht geschadet. Nur einmal durchbricht Hofmann diese Diskretion: Wenn der Schauspieler Matthias Brandt, einer der Söhne von Willy und Rut, mit sich hadert. Er hatte an der Beerdigung seines Vaters teilgenommen, obwohl die Witwe Brigitte Seebacher-Brandt seine Mutter von der Teilnahme ausgeladen hatte. Matthias kann sich bis heute nicht verzeihen, seine Mutter alleine gelassen zu haben.

Und die Freundschaft Brandt / Schmidt? "Ergänzungsverhältnis" hatte Horst-Eberhard Richter sie genannt. "Ein schönes Wort, das einleuchtet", resümiert der Autor. Schmidt und Brandt – der Wehrmachtsoffizier und der Emigrant: "Aus ihrem Miteinander, Nebeneinander, Gegeneinander kristallisierte sich – unter dem Strich – etwas ungewöhnlich Komplementäres heraus, von dem die Bundesrepublik profitierte". Gunter Hofmanns Buch zeigt das auf seine unnachahmliche Weise sehr genau. Lothar Struck

 

Gunter Hofmann
Willy Brandt und Helmut Schmidt
Geschichte einer schwierigen Freundschaft
C.H. Beck
336 Seiten mit 21 Abbildungen
In Leinen
978-3-406-63977-7


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