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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik |
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»Morgen
sind wir Menschen!«
Jordan Iwantschews Roman »Die Farben des Grauens« zeichnet ein beängstigend
realistisches Schreckensbild vom Zerfall gesellschaftlicher Ordnung. Von Michael Hein Das Zukunftsszenario muss Mitte der 1990er Jahre aus Sicht eines Balkanlandes ziemlich plausibel gewirkt haben: Statt zur Einigung Europas unter dem Dach der Europäischen Union kommt es bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer neuerlichen Spaltung des Kontinents in Ost und West. Das ehemalige Jugoslawien befindet sich weiterhin im Bürgerkrieg. Die Mehrzahl der anderen postsozialistischen Länder scheitert an der politischen und wirtschaftlichen Transformation und wird von korrupten ex-kommunistischen Eliten zugrunde gerichtet. Die staatlichen Institutionen brechen zusammen, es kommt zu Hungerunruhen. Der Westen schottet sich gegenüber den zunehmenden Flüchtlingsströmen mehr und mehr ab, bis schließlich schier unüberwindbare Grenzanlagen, die stark an den »Eisernen Vorhang« erinnern, den Kontinent teilen. Während Westeuropa so seinen Wohlstand schützt, werden die Bewohner des unmittelbaren Grenzgebiets auf der Ostseite dafür bezahlt, Flüchtlinge zu töten, damit sich niemand aus den »demokratischen Rechtsstaaten« selbst die Finger schmutzig machen muss. Wem die Flucht trotzdem gelingt, der wird immerhin auf der anderen Seite aufgenommen. Aber selbst das weiß man im Osten nicht so genau – verlässliche Informationen gibt es dort schon lange nicht mehr. Dieses dystopische Bild zeichnet der hierzulande bisher völlig unbekannte bulgarische Schriftsteller Jordan Iwantschew (geb. 1949). Sein 1995 erschienener Roman »Die Farben des Grauens« liegt nun endlich auch in deutscher Übersetzung vor. Schauplatz der im Jahr 2002 spielenden Handlung ist Bulgarien, auch wenn es einen gleichnamigen Staat zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gibt. Sämtliche gesellschaftlichen Institutionen sind zerfallen, eine Volkswirtschaft existiert nicht, ebenso wenig eine funktionierende Infrastruktur. Wer konnte, ist längst geflohen, solange dies noch möglich war. Die verbliebenen Einwohner leben in einem mittlerweile wahrhaft hobbesianischen Naturzustand, einem Krieg aller gegen alle. »Regeln existierten nicht mehr, außer der einen: überleben, um über die Grenze zu gelangen.« Dies versuchen auch die drei Hauptfiguren des Romans: der ehemalige Philosophie-Professor Veselinov, sein siebenjähriger Sohn Christo und der befreundete Ex-Fußballprofi Nedev. Auf ihrem Weg aus der ehemaligen Hauptstadt Sofia in Richtung griechischer Grenze begegnen sie Menschen und Menschengruppen mit den verschiedensten Überlebenskonzepten. Die einen leben autark in einer ehemaligen Datschensiedlung von eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Sie bleiben von Raubzügen nur deshalb weitgehend verschont, weil ihr Dorf auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Anderswo, in einer Kleinstadt, treffen die drei Protagonisten auf ein semi-totalitäres Lokalregime, das auf Basis knappster Ressourcen die Lebensführung der Bewohner streng reglementiert, Neuankömmlinge als Arbeitskräfte gefangen nimmt, und versucht, auch die umliegenden Dörfer gewaltsam zu kontrollieren. In den Bergen und Wäldern treffen Veselinov, Christo und Nedev auf marodierende Banden, in Erdhütten hausende Gemeinschaften oder einen in einer Wanderbaude lebenden Greis, der der festen Überzeugung ist, in der Zeit der Partisanen zu leben. Und schließlich stoßen die drei auch auf eine umherstreifende, verwilderte, ja geradezu vertierlichte Gruppe ehemaliger Heimkinder. Wer in dieser Umwelt überleben will, ist gezwungen zu töten, um nicht selbst getötet zu werden. Dem kleinen Christo, der nie etwas anderes kennen gelernt hat, erscheint dieses Prinzip völlig selbstverständlich: »Papa, du hast getötet, damit die uns nicht töten. Ist so nicht das Leben?« All dies schildert Jordan Iwantschew mit beängstigender Überzeugungskraft. Präzise beschreibt er eine gleichsam »asoziale Gesellschaft«, der jede Menschlichkeit abhanden gekommen scheint. Glücklicherweise ist es nach 1989 in Europa nicht zu einer solchen Entwicklung gekommen. Es erscheint auch kaum denkbar, dass die EU eines Tages zu einer solchen skrupellosen Reichtumsverteidigungsgemeinschaft gegenüber europäischen Nichtmitgliedsstaaten degenerieren könnte. Vielleicht sind wir einer solchen Entwicklung anderenorts aber schon viel näher als wir glauben. Blickt man hinter die Grenzen des Kontinents, so werden zahlreiche Parallelen zwischen Iwantschews Dystopie und der Realität Europas augenfällig: Die EU schützt ihren heutigen Wohlstand durch rigide Einreise-, Arbeits- und Asylbestimmungen. Mit verschiedenen Mechanismen wie der umfassenden Subventionierung unserer Agrarwirtschaft wird eine ernstzunehmende ökonomische Konkurrenz ärmerer Staaten verhindert. Die »Entwicklungszusammenarbeit« erreicht bei weitem nicht ihre offiziellen Ansprüche, und große Teile der in diesem Bereich investierten Staatsgelder fließen sogar direkt oder indirekt an die eigene Wirtschaft zurück. Nicht zuletzt hat die EU seit Jahren kein Problem damit, mit benachbarten Diktaturen wie dem (früheren) Libyen Gaddafis Abkommen zu schließen, um die Flüchtlingsströme aus Afrika wirksam einzudämmen. Die eigenen Menschenrechtsstandards werden dabei ignoriert und der Einsatz von Gewalt geschickt nach außen verlagert.
So gesehen, halten uns Iwantschews »Farben des Grauens« in gewisser Weise einen
Spiegel vor und machen das Buch über seinen unmittelbaren Kontext der
postsozialistischen Transformation hinaus ausgesprochen lesenswert. In einer
Höhle im Grenzgebiet, in der viele Flüchtlinge ihre letzte Rast verbringen,
bevor sie den Grenzübertritt wagen, finden die drei Romanhelden eine Inschrift
anderer Schicksalsgenossen, die wohl auch die Hoffnung und Verzweiflung vieler
»Boatpeople« zum Ausdruck bringt: »Morgen sind wir Menschen!« |
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