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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 26.01.14

Ins Heu gehen

Literatur braucht keine Abstammungsnachweise,
sondern Entdeckertum. Über die vermeintliche
Eindimensionalität der deutschen Gegenwartsliteratur.

Von Gregor Keuschnig

 

In der vergangenen Woche gab es im Feuilleton der ZEIT ein Stürmchen im Latte-macchiato-Glas. Florian Kessler, freier Autor und Journalist, beklagt, dass sich die deutsche (sic!) Gegenwartsliteratur fast nur aus Akademikerhaushalten rekrutiert, was naturgemäss Auswirkungen auf die Literatur selbst habe. Dies gelte sowohl für die Schreibenden wie für das Rezeptions-, Preis- und Funktionärswesen des Betriebs. Salopp gesagt: Akademikersöhne und –töchter schreiben wie Akademikerväter und –mütter dies schon immer gewollt haben. Alles andere, abseitige, proletarische (dieses Wort fehlt, wird aber suggeriert) habe keine Chance. Um seinen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, versucht er es mit einer guten Portion Selbstironie. Zum einen beschreibt er durchaus humorig, wie er selber in den Betrieb eingedrungen ist (die Brille!), zum anderen »outet« er sich (!) selber als Professorensohn (ich habe dieses »oder auch ich« tatsächlich zwei Mal überlesen). Selbstbezichtigung zur rechten Zeit ist ja aus diversen Revolutionen bekannt, kostet aber heute noch nicht einmal mehr den Kopf.

Kessler findet in Enno Stahl in der taz einen Fürsprecher. Stahl ist seit Jahren Pfahl im Fleisch der Literaturkritik (naja, jenseits der bürgerlichen Zeitungen). Unlängst ist seine Aufsatzsammlung »Diskurspogo« erschienen. Sein Programm lässt sich – mit seinen eigenen Worten – ungefähr so zusammenfassen: »Die idealistisch-romantische Perspektive auf künstlerische Elaborate, die – speziell im Feuilleton – unverändert auf die werk­immanente Methode pocht, impliziert ein konkurrierendes Wertungsdispositiv, eines, das meiner Meinung nach im Zeichen der gravierenden Umgestaltungsprozesse der west­lich-kapitalistischen Gesellschaftsformation ausgedient hat«. Kurz – und womöglich nicht dialektisch ausgewogen: Literatur muss politisch sein, alles andere ist kapitalistischer Mist.

Kessler und Stahl geht es um die Literatur, nicht um die Protagonisten selber. Ich werde immer skeptisch, wenn mir Leute versichern, dass es ihnen »um die Sache« gehe. Das erinnert ein bisschen an übervorsichtige Eltern, die einem mit ihrem Paternalismus vor der bösen Welt glauben beschützen zu müssen. Das Wohl des Kindes, das sie im Blick zu haben vorgeben, ist nichts anderes als die möglichst lange Fortsetzung von Einfluss und Macht. Hier scheint es ähnlich. Die Sorge um das Wohl der Literatur entspringt entweder dem Wunsch, den eigenen Einfluss zu zementieren oder es geht darum, die Strukturen in seinem Sinn zu verändern. Hier geht es darum, die Literatur zu politisieren. Literatur habe, so der Gedanke, einer bestimmten, »richtigen« Idee zu dienen. Bedingung dafür wäre, dass man selber in Besitz dieser »richtigen« Idee ist. Das wird wohlwollend vorausgesetzt.

Der Gedanke, dass Literatur politischen oder sozialen Zielen zu dienen oder mindestens didaktisch zu begleiten habe, ist nicht neu. Die Lager, die diese Idee befürworten und diejenigen, die sie ablehnen, stehen sich seit mindestens 200 Jahren unversöhnlich gegenüber. Goethe meinte, die literarische Potenz eines Autors würde unter politischem Engagement leiden. Andere Autoren, insbesondere der Moderne, gründeten ihren Ruf darauf. Immer wieder gab es politisch-revolutionäre Autoren – von faschistisch bis stalinistisch. In Osteuropa kursierte länger der heute belächelte sozialistische Realismus (die Straflager für die Abweichler war dann weniger belächelnswert). Aber auch heute noch klopft das Feuilleton belletristische Bücher auf (unan)genehme soziale oder politische Gesinnung(en) ab. Wer nicht im »richtigen« politischen Mainstream mitschwimmt erhält mindestens das Etikett »umstritten«, das ihn zumeist ein Leben lang stigmatisiert aber Ordnung auf dem Rezensentenschreibtisch schafft. Es gibt hiervon nur zwei Ausnahmen: Entweder ist die Vernetzung des Schreibenden extraordinär (dann kann beispielsweise auch noch ein Plagiat als intertextuelles Kunstwerk deklariert werden). Oder das inkriminierte Stück Literatur hat ein extrem großes Skandalpotential.

Noch mehr Biographismus

Kessler reicht der gängige Biographismus des Feuilletons nicht aus. Tatsächlich wird der jeweilige literarische Text ja fast nur noch mit bzw. nach der Biographie des Autors abgescannt. Dazu kommen dann einige Äußerungen, die in Interviews oder Vorschau­prospekten abgedruckt werden. Das war’s dann meistens schon mit der »Rezension«. Stahl thematisiert dies ebenfalls und meint, dass die Literatur langweilig sei, »da sie zu großen Teilen von Autorinnen und Autoren verfasst wird, die nichts erlebt und nichts zu erzählen haben«. Aber warum ausgerechnet die dann von ihm genannten Goetz, Roeggla und Jirgl als leuchtende Beispiele angeführt werden, von denen Goetz und Roeggla nie etwas anderes erlebt haben, als mit Texten umzugehen (kein Vorwurf!) und die vom Betrieb seit Jahren mit Preisen überhäuft werden, ist wirklich lustig.

Neulich hatte Joachim Zelters Novelle »Einen Blick werfen« dieses Verfahren (er nennt es »Curricularismus«) wunderbar leicht aber treffend persifliert, aber vermutlich ist sowohl Herrn Kessler als auch Herrn Stahl dieser Text unbekannt. Ich sehe in schon auf den Verlagsseiten unter der Rubik »Einreichung von Manuskripten« einen entsprechenden Disclaimer aufpoppen:

»Bei gleicher Qualität der eingegangenen Manuskripte werden diejenigen von Töchtern oder Söhnen von Arbeitern und Nicht-Akademikern bevorzugt. Entscheidungen zu Gunsten von aus Akademikerfamilien stammenden Schreibenden sind nur in Ausnahmefällen bei Vorliegen schwer wiegender individueller Gründe möglich« (nur unwesentlich gängige Kriterien paraphrasierend).

Dabei hat Kessler durchaus einen Nerv getroffen. Der Betrieb ist sehr hermetisch und sozusagen inzüchtig. Nur in Sonderfällen wird auf den Stallgeruch verzichtet. (Ich weiss, wovon ich rede; die wenigen Ausnahmen gibt es natürlich immer.) Ähnliche Strukturen kann man übrigens in allen anderen möglichen Berufsverbänden, »Betrieben« oder auch Subkulturen entdecken. Die aus dem Boden schießenden Schreibschulen verstärken das Rottendenken der Literaturszene noch. Die Konformität, die Kessler zu Recht beklagt, wird ja gerade dort erzeugt – politische und vor allem ästhetische Konformität. Stillschweigend geht Kessler allerdings davon aus, dass der Literaturnachwuchs ausschließlich aus diesen Trainingslagern kommt, die sich mit dem euphemistischen Begriff »Kreatives Schreiben« (wahlweise in englischer Verklausulierung) schmücken.

In Wirklichkeit geht es nämlich um marktkonformes, den ökonomischen Gesichtspunkten des schnellen Konsums gehorchendes Verfassen von fiktionalen bzw. semi-fiktionalen Texten. In den USA gibt es dies schon seit Jahrzehnten und die deutschen Verlage bedienen sich regelmässig hieraus, in dem sie Erstlinge junger Debutanten aufkaufen und mit lautem Getöse und schnellen Übersetzungen auf den Markt werfen. Entsprechend fällt dann zumeist die Literatur aus: Wohlgeformte, »handwerklich vorbildliche« (Enno Stahl), auf leichte Eingänglichkeit gedrillte Sätze in einfachen Plots, in denen schon Binnen­erzählungen oder Rückblenden als avantgardistisch verkauft werden. Lesefutter, dass zu oft keinen Nachhall geschweige denn ein episches Gefühl beim Leser erzeugt.

Nur noch Marketingknecht für die üblichen Verdächtigen

Das Feuilleton hat sich allzu bereitwillig auf den Status des Marketingknechts der großen Verlage reduzieren lassen. Redakteure werden mit Rezensionsexemplaren und Fahnen geradezu überhäuft. Wie genau manchmal Sprache sein kann, zeigt sich daran, dass man den Begriff »Leseexemplar« immer seltener findet – zum Lesen kommt man nämlich bei einer derartigen Flut von Neuerscheinungen und sich hieraus ergebenden Verpflichtungen kaum noch. In der Szene wird dies seit langem beklagt. Daher wird der Weg des geringsten Widerstands begangen: Man bespricht die hochglanzbeworbenen Neuerscheinungen der üblichen Verdächtigen. Der »neue« Roman von X ist da (es muss immer ein Roman sein). Vorbesprechung, Interview, Besprechung – kein Feuilleton kann bzw. will es sich leisten, über die Neuerscheinung eines prominenten Autors einfach mal zu schweigen, weil vielleicht schon alles darüber gesagt wurde. Im günstigen Fall gibt es unter den Kollegen einen kleinen geschmacklichen Disput. Ästhetische Punkte spielen kaum eine Rolle (hier liegt einer der Hauptirrtümer von Enno Stahl). Hat man als potentieller Leser alle Rezensionen über den »neuen« von X verfolgt, hat man oft genug keine Lust mehr, den Primärtext zu lesen. Da gibt es nämlich schon das nächste, neue Buch – von Y.

Dieses Hamsterrad spricht Kessler nicht an, obwohl es sehr viel mit seiner suggestiven Forderung nach einer Art Proletarierquote zu tun hat. Marc Reichwein hat es in seiner Replik auf Florian Kessler treffend formuliert:
»Wer als Literaturkritiker wie Florian Kessler die Literatur fördern will, die ihm institutionell fehlt, könnte sie suchen gehen. Die Selfpublishing-Literaturszene wartet.«

In diesem Satz entdecke ich zwei Provokationen. Zum einen die Bezeichnung Kesslers als »Literaturkritiker«. Zum anderen der Verweis auf die Selfpublishing-Szene – für die institutionell verkrustete Feuilletonschickeria eine nahezu blasphemische Brüskierung. Das ist in etwa so als empfehle man dem FC Bayern ein Scouting in der Regionalliga West. Direct-Publishing gilt immer noch mehr oder weniger als Untergang des Abendlandes; Texte mit entsprechendem Tenor platziert man immer noch sehr gerne im Feuilleton (es ist ja auch schick gegen Amazon zu sein). Aber Reichweins Hinweis ist eine Metapher. Neben den auf Bestseller- oder Bestenlisten gedrillten Büchern und dem von einigen Verlagen schlampig auf den Markt geworfenen Schrott gibt es ganz sicher Entdeckungen zu machen.

Aber dies geschieht nicht. Das Feuilleton vernachlässigt sträflich seine Aufgabe, sich auch abseits der ausgetretenen Wege um die Kunst- und Literaturszene zu bemühen. Statt­dessen werden billige Affekte bedient oder die immergleichen Namen repliziert. Der Bildungs- bzw. Kulturauftrag der öffentlich-rechtlichen Medien wird längst nur noch mangelhaft wahrgenommen. Lediglich einige Nischenplätze werden zugestanden. Die Redakteure arbeiten unter Zeit- und Konformitätsdruck; glauben, dem Publikum nicht mehr allzu viel zumuten zu können. Hierin liegt meines Erachtens auch einer der Gründe für den rapiden Bedeutungsverlust des Feuilletons: Es ist einfach langweilig geworden auf die neuesten literarischen Publikationen von vielleicht 30 oder auch 50 Dauercampern des Betriebs zu warten, die dann routiniert »abgehandelt« werden. Es wäre längst angesagt, sich mit der breiten deutschsprachigen literarischen Szene jenseits der großen Namen und außerhalb der so gut geschmierten Netzwerke auseinanderzusetzen. Blogs und Internet­portale könnten hier hilfreich für Kooperationen eingebunden werden. Das ist im Einzel­fall mühsam und womöglich oft ernüchternd. Aber die Nadeln im Heuhaufen gibt es. Man muss sie nur suchen. Und bereit sein, ins Heu zu gehen. Dann ändert sich im übrigen auch der Stallgeruch.

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