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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik |
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Nenne deinen Namen!
Zweiter
Versuch, Navid Kermani zu verstehen Der Traum - die Reise ist ein Kapitel in Jean Pauls Roman Titan überschrieben. Eine Stelle darin ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Jean Paul schreibt: „Alle unsichtbaren Stimmen redeten sie an und fragten: ›Wer ist der Vater der Menschen und ihre Mutter und ihr Bruder und ihre Schwester und ihr Geliebter und ihre Geliebte und ihr Freund?‹ Die Jungfrau hob fest das blaue Auge auf und sagte: ›Gott ists!‹ – Und darauf blickte sie mich aus dem hohen Glanze zärtlich an und sagte: ›Du kennst mich nicht, Albano, denn du lebst noch.‹ – ›Unbekannte Jungfrau,‹ (sagt' ich) ›ich schaue mit den Schmerzen einer Liebe ohne Maß in dein erhabenes Angesicht, ich habe dich gewiß gekannt – nenne deinen Namen.‹ – ›Wenn ich ihn nenne, so erwachst du‹, sagte sie. ›Nenn ihn‹, rief ich. – Sie antwortete, und ich erwachte.“
Jean
Pauls Zeilen lesen sich wie ein Brevier von Navid Kermanis Roman Dein Name,
das als Totenbuch, Tagebuch und Familiensaga konzipiert ist. Es ist ein Buch
über die Frage, was bleibt, wenn sich der Körper in Nichts aufgelöst hat. Über
die Ungewissheit, die an unseren Namen haftet, das Unbekannte, Unverstandene in
jeder Biografie. Ein Buch, in dem nur die Toten zu ihren Namen kommen. Dein Name führt uns diese Sterblichkeit, die Krankheit zum Tode schonungslos vor Augen. Es ist ein Text über das Heilige und das Profane, begonnen am späten Vormittag des 8. Juni 2006, beendet gut fünf Jahre später. Wer das Buch liest, kommt nicht umhin, nach dem Sinn des eigenen Lebens zu fragen. Wer es liest, muss sich grundsätzlich fragen, wie wirklich die Wirklichkeit eigentlich ist, wenn sie erst als Wort wirklich wird: „Der Roman als Mimesis der Wirklichkeit“ schreibt Kermani über Jean Paul und meint sich selbst, meint den, der in dem Buch Navid Kermani genannt wird. Tatsächlich sind viele Motive Jean Pauls in dem Buch wiederzufinden: Der Namentausch der Doppelgänger Siebenkäs und Leibgeber spiegelt sich im Spiel mit dem eigenen Namen als Verfasser und Protagonist wider; Jean Paul selbst hat dieses Spiel übrigens gleichsam mit dem eigenen Namen probiert. Auch das Scheitern einer Ehe, wie es in Dein Name geschildert wird, ist Thema des Siebenkäs; des Weiteren die Verformung des Romans durch Unterbrechungen; schließlich Gott, der Tod, das Ich und der Verfall des Körpers. Nur an die Stelle von Jean Pauls Komik treten Trauer und Melancholie, manchmal Verbitterung, was Kermani wiederum in die Nähe von Thomas Bernhard bringt, der nicht weniger von Jean Paul beeinflusst war (und schrieb er nicht ebenfalls fünf Jahre an Auslöschung, einem Buch, das mit Dein Name zu vergleichen sich lohnen würde). Überhaupt Jean Paul. Zu ihm schreibt Kermani: „Wo ich in anderen Romanen auf eine Leinwand starre, die meinen Blick beengt, stehe ich bei Jean Paul auf einer weiten Ebene, auf der ringsum alles mögliche verstreut liegt, das Höchste und das Niederste, Philosophie und Neunmalkluges, Poetik und Alltagsbeobachtungen, ohne daß die Seiten einer inneren Notwendigkeit zu folgen scheinen, die begreifbarer wäre als die Logik eines jeden Lebens selbst… Jean Paul ist ein Konzert, in dem die Hauptsätze das Orchester, die Nebensätze das Solo sind. Durch einen einzigen Satzteil, um blind eine Seite aufzuschlagen, steht dem Leser eine ganze Generation in geradezu unangenehmer Plastizität vor Augen… Mit Jean Paul folge ich einem Schriftsteller, dem es gelang, als erstem vielleicht, der Simultanität des Erlebens, die nur in ekstatischen Momenten sich auflöst, bis in die Sprachmelodie eine literarische Entsprechung zu geben, die das Gegenteil von Hölderlins Prosa ist… Jean Paul, um die Nebenwirkungen der Chemotherapie zu bekämpfen.“ Nach der Lektüre habe ich mich ein ums andere Mal gefragt, ob es wirklich ein Roman ist, wie der Buchumschlag mir Glauben machen möchte. Möglich wäre es, aber sicher bin ich mir nicht. Es ist vielleicht nur die Theorie eines Romans, in der das Wechselspiel von akademischem und poetischem Sprachduktus neue Perspektiven des Schreibens eröffnen. Schon Schlegel verwies in seinem Gespräch über die Poesie 1800 darauf, dass die Theorie selbst ein Roman sein müsse… Es ist auf jeden Fall die Geschichte verzwickter Beziehungen. Doch welche Beziehung verläuft schon problemlos? Ein Buch über Selbstzweifel. Wer hat keine? Ein Krisen- und Kriegsbuch. Die vergebliche Suche nach Identität. Es ist ein Buch über Hölderlin. Auch. Über das Triviale und Unsterbliche seiner Gedichte und ihre Lektüre in chaotischer Zeit, geschrieben zur Hälfte des Lebens. Ein Schmerzbericht allemal. Ein Bericht über die Welt. Was sie ist und was nicht. Was sie sein könnte, ja. Kein Buch über die Liebe. Eines über Sex. Ein Buch über das Glück? Ein Buch über die Trauer. Über den Abschied vor allem. Der Versuch einer Antwort auf die Frage, was uns Menschen bewegt insofern wir als Menschen agieren.
Ein
Buch über Religionen und über das Religiöse der Literatur. Über den Glauben an
das Wort der Sterblichen und den Verlust der Autorität, die kleinen Gesten, die
die Welt verändern. Ein Buch über die Literatur der Gegenwart? Über die Wörter
und Namen; Namen wie Iran, Afghanistan, Deutschland und was sie dem
Schriftsteller bedeuten. Dein Name ist ein Text, der an vielen Stellen dahinfließt wie… ja wie Bachs French Suites in der Interpretation von Evgeni Koroliov, die im Hintergrund laufen, während ich das hier schreibe, und ein Text, der in einigen Passagen herangaloppiert wie der Bolero. Konsequent in der Zusammenhanglosigkeit, folgt der Text dem Prinzip Zufall und reagiert auf eine Welt, die keine Kontexte mehr kennt, weil alles zu einem einzigen Kontext zusammenschmilzt. Die Mixtur literarischer Gattungen ist die Antwort auf die nicht mehr begreifbare Simultaneität gesellschaftspolitischer Ereignisse und privater Schicksale.
Es
ist ein Text über Gerhard Richters Domfenster und den Großajatollah Milani; ein
Text über die ukrainische Putzfrau, deren Haus in Czernowitz abgebrannt ist als
auch über Spülbürsten und die Weiße Revolution; eines steht neben dem anderen;
ein Text über Chomeini und Werner Herzogs Grizzly Man, dessen Soundtrack
übrigens großartig ist — sowohl Richard Thompsons Titelmelodie als auch
Don Edwards Countrysong Coyotes.
Im Lied
lautet eine Strophe:
This is no place for an hombre like I am / In this new world of asphalt and
steel / Then he'd look off some place in the distance / At something only he
could see / He'd say all that's left now of the old days / Those damned old
coyotes and me… Auf der Rückseite des Schutzumschlags hat der Verlag den Satz abgedruckt: „Dein Name ist ein Roman, wie es noch keinen gab.“ Das stimmt natürlich, sagt aber nichts über den Roman aus, weil jedes Buch (mit Ausnahme der Plagiate) einzigartig ist. Denkbar ist jedoch, dass das Buch Impulse sendet, Bücher anders zu schreiben als bislang: Der Roman als Auffangbecken für den Abfall der Zeit, in der er entsteht. In diesem Roman tritt sein Autor als Wärter eines prosaischen Totenhauses in Erscheinung. Das letzte Mal begegnete ich dem, der in diesem Roman den Namen Navid Kermani trägt, als er in der Kölner Judengasse für Minuten inne hielt und die Welt um sich herum einmal mehr völlig vergaß. So sehr war er in die Kurzmitteilungen seines Mobiltelefons vertieft, dass ich ihn eine Zeitlang aus der Nähe beobachtete, es jedoch nicht wagte, ihn in seiner Konzentration und Anspannung, mit der er die Nachrichten las, zu stören. Denn was mehr als meine Spracharmut hätte ich einbringen können in einen kurzen Dialog?
Die
Szene vor dem Kölner Rathaus, in der ich den beobachtete, der den Roman, den ich
lese, verfasste, ohne das Wort zu ergreifen, ohne seinen Namen auszusprechen,
scheint mir in meiner Lektüre seines Buches auf seltsame Weise widergespiegelt,
denn ich muss gestehen, dass mir die Welt, die in Dein Name mal mit
feinem, mal mit grobem Pinsel nachgezeichnet wird, der kosmopolitische Blick auf
unsere labyrinthische Gegenwart, das Panorama der Vergangenheit, das das Buch
entfaltet, auf schwer zu beschreibende Art fremd bleibt. Genau das wiederum
macht seinen Reiz aus.
Ein
Buch über das Fremde in uns selbst. Ein Buch vom Verlust, umständlich, voller
Umwege, nüchtern poetisch und voll kühler Erotik. Ein Buch über den Koran, die
Bibel und das Kreuz. Mir bleibt fremd, dass Meinungsverschiedenheiten über ein
christliches Symbol im 21. Jahrhundert einen Eklat auslösen können (zumal die
Debatte zwischen
Jürgen
Moltmann und Ernst Bloch
vor fast 50 Jahren bereits
geführt wurde). Auch ich glaube, ja. Ich glaube, jeder Religion ist etwas
Folkloristisches, beinahe Lächerliches eigen. Von außen betrachtet unterscheiden
sich eine Fronleichnamsprozession, der Haddsch und ein Schützenfest nur im
organisatorischen Ablauf. Für einen Gläubigen freilich mögen Welten dazwischen
liegen, die es immer wieder zu vermessen gilt. Dein Name ist nicht
zuletzt deshalb ein Buch über weltpolitische Fragen, das Reisen und kleine
menschliche Schwächen. Über Shakira, Schikaras, Schiraz und Sikhs. Über
Himmelstürmer, die ihre Hölle finden, über den Zen-Meister Baso Matsu, über
Mohammad Mossadegh, die Töchter und die Heilige Ursula von Köln. Über elftausend
Jungfrauen, die Unendlichkeit, die uns überall umgibt, über den Kölner Karneval,
Kafka und Neil Young. Über Legenden, Rolf-Dieter Brinkmann, Josef Winkler,
Seyyed Zia. Über Blut, Kot und Grenzerfahrungen. Über die Ewigkeit und die
vielen unaufklärlichen Welten. Über das Nicht-Identische und die Kluft zwischen
dem, der schreibt, und jenem, der beschrieben wird.
„Bald“ heißt es in Jean
Pauls Siebenkäs, „müssen Sie hören, daß ich gestorben bin oder mein Name
verschwunden ist, auf welche Art es auch sei; aber mein Herz bleibt noch für
Sie, für dich ... O daß ich doch die Gegenwart mit ihrer Gebirgkette von
Totenhügeln hinter mir hätte und – die Zukunft jetzo vor mir mit allen ihren
offnen Grabhöhlen, und daß ich heute so an der letzten Höhle stände und dich
noch ansähe und dann selig hinunterstürzte.“ |
Navid Kermani |
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