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Artikel online seit 13.08.13

Die Labilität der Zivilisation

Jonas Lüscher hat mit »Frühling der Barbaren«
ein beeindruckendes Debüt hingelegt.

Von Patrick Wichmann



 

Die Erfahrung, dass durchaus auch sein kann, was nicht sein darf, musste die Menschheit in ihrer Geschichte schon häufig machen, zuletzt etwa bei der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011. Zwar des enormen Risikos gewahr, bleibt der Ernstfall im Vorfeld solcher Ereignisse doch ein diabolisch-dystopischer Entwurf unmessbaren Ausmaßes, der aufgrund statistischer Unwahrscheinlichkeit marginalisiert wird. Ein enormes und kaum zu überschauendes Gefahrenpotential weist derzeit auch die Situation des Finanzmarktes auf: Was ein totaler Zusammenbruch des Bankensystems für Folgen hätte, kann niemand ermessen – zu fest sind Marktdynamik und Kapitalmechanismen mit unseren Alltag verwoben. Vor diesem Szenario des finanziellen Kollapses hat der junge Schweizer Autor Jonas Lüscher sein Debüt mit dem programmatischen Titel „Frühling der Barbaren“ angesiedelt.

Die internationalisierte Wirtschaft ist Rahmenthema der schmalen Erzählung: Preising, millionenschwerer Erbe eines Familienunternehmens und Insasse einer psychiatrischen Klinik, erzählt einem Mitinsassen aus der Rückschau von einer Tunesienreise, die ursprünglich zur Besichtigung der dortigen Firmen-Produktion dienen sollte. Das Wüstenresort, in dem Preising einkehrt, fungiert nun als Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Dort gastiert zugleich eine Londoner Hochzeitsgesellschaft, zusammengesetzt aus gutsituierten Bankern und Managern, bei denen „Geld keine Rolle spielte – oder die allergrößte“, anhand derer Lüscher schließlich die Brüchigkeit unserer Zivilisation exemplifiziert.

So ist die Novelle in erster Linie kein Buch unmittelbar zur Finanzkrise, sondern beleuchtet vielmehr Fragen der Ethik vor dem Hintergrund des fiktiven englischen Staatsbankrottes. Zunächst zeichnet Lüscher dabei die Situation vor dem Systemkollaps. Hier enthüllt er eine durch Egoismen angetriebene Welt, in der Profitstreben nicht nur längst zum Motor des Lebens geworden ist und Kinderarbeit guten Gewissens als „das kleinere Übel“ verkauft wird, sondern der abgöttische Kapitalismus bereits selbst einen eigenen Daseinsentwurf hervorgebracht hat, wie er sich in der neureichen Hochzeitsgesellschaft und der Dekadenz ihres Auftretens manifestiert. Symbolisch mag hier der Tod der Schwester des Bräutigams stehen: Sie starb infolge eines Feuers – ihre Stendhal-Gesamtausgabe war in Brand geraten. Für (Hoch-)Kultur ist in der globalisierten Welt des Konsums kein Platz mehr vorgesehen.

Der Wendepunkt der Novelle folgt in der Hochzeitsnacht. Quasi über Nacht versinkt England im Staatsbankrott. „Die Auguren verkündeten abwechselnd den totalen Weltenbrand oder nur die große Katharsis.“ Kaum der Kündigung und des Verlustes ihres gesamten Vermögens gewahr, bricht unter den Hochzeitsgästen ein blutrünstiges Chaos aus, bei dem letzten Endes in blankem Aktionismus mit Hunden gefülltes Kamel zubereitet wird, um die Ernährung zu sichern. Kultur, Erziehung, Bildung, Moral- und Wertvorstellungen sind eine äußerst fragile Schicht, kaum mehr als ein dünner Überguss über einen atavistischen Urtrieb.

Jonas Lüscher, der derzeit an der ETH Zürich promoviert, hat seine Geschichte äußerst raffiniert konstruiert: Die Erzählperspektive laviert zwischen dem Bericht Preisings, der Reflektion des Zuhörers und einer auktorialen Ebene, wodurch eine ausgesprochen große ironische Distanz zu den Figuren geschaffen wird. Diese erlaubt dem 36-Jährigen die spitzzüngige Kommentierung des Geschehens, die den auffällig bissig-verspielten Stil der Novelle kennzeichnet. Mit subtiler Komik bereitet Lüscher die Katastrophe, die typisch novellistische ‚unerhörte Begebenheit‘ vor, die schließlich erst gegen Ende des Buches eintritt und so zugleich als düsteres Omen für die Zukunft fungiert.

Im Mittelpunkt steht dabei die Figur Preisings, einerseits stiller Beobachter und Chronist der Ereignisse, andererseits zugleich jedoch auch ein verhinderter Held. Immer wieder vor die Wahl zwischen Aktion und Untätigkeit gestellt, verharrt er im Zustand der Passivität. „Preising, der große Anhänger der aristotelischen Mesoteslehre, der froh war, dass die Mitte keine arithmetische ist, sondern, nun eben ja, von Fall zu Fall entschieden werden musste.“ Durch die unterschiedlichen Erzählperspektiven werden Preisings Argumente à la: „Afrika ist wie gelähmt durch die Hilfsgelder“ als Ausreden eines chronischen Zauderers entlarvt.

„Frühling der Barbaren“ ist ein beeindruckendes Debüt. Jonas Lüscher hat ein doppelbödiges Gesellschaftsportrait vorgelegt, ein geschicktes Spiel mit den menschlichen Affekten – und zugleich einen bitterbösen Blick auf die Gegenwart. Stilistisch grandios seziert er das menschliche Handeln in Extremsituationen, in einem „Fall, dessen Eintreten man bislang für unmöglich gehalten hatte“ – eben wenn eintritt, was nicht sein darf, aber doch sein kann. Geschickt hält er zugleich den inhärenten Wahrheitsanspruch der Erzählung durch Preisings Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik in der Schwebe, sodass unklar bleibt, was Realität und Fiktion ist. Darüber hinaus demonstriert Lüscher ganz wie nebenbei auch die Möglichkeiten, die das derzeit nur selten genutzte Genre der Novelle ihrem Autor bietet.

 

Jonas Lüscher
Frühling der Barbaren
Novelle
Verlag C. H. Beck, München 2013
127 Seiten
14,95 EUR
9783406646942

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