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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 03.04.13

»Etwas Universelles«

Die Gedichte des Kito Lorenc

Von Lothar Struck




 

Es ist ein wuchtiges aber auch gleichzeitig offenes Vorwort von Peter Handke zu seiner Auswahl aus den Gedichten des 1938 geborenen sorbischen Dichters Kito Lorenc. Natürlich mag Handkes Enklaven- und Slawen-Affinität eine Rolle gespielt zu haben. Bilden doch die Sorben eine kleine Minderheit in der Lausitz, die schon zu DDR-Zeiten im Rahmen der Partei-Ideologie anerkannt wurde (was vor den üblichen Bevormundungen und Zwängen nicht schützte). Handke beschreibt, wie der junge Christoph Lorenz zum Sorben wurde, sich Kito Lorenc nannte, die sorbische Sprache lernte. Eine bewusste Entscheidung für das Slawentum, für die Minorität, für das Anders-Sein. Lorenc' Großvater Jakub Lorenc-Zaleški (Zaleški für "Hinterwäldler"), 1874-1939, ist nicht nur ein sorbischer "Volksheld", sondern auch "ein Schriftsteller, und was für einer", wie Handke in Bezug auf "Die Insel der Vergessenen" emphatisch ausruft. Wer nur annährend mit der Biographie von Peter Handke vertraut ist, vermag die offenen wie versteckten, die offensichtlichen wie erwünschten Parallelen zu seinem Leben bzw. dem seiner Ahnen feststellen.

Aber es ist natürlich mehr. Fast schwärmerisch erzählt, nein: frohlockt Handke von den Momenten in diesen Gedichten, "wo das spezielle Geschichtswissen übergegangen ist in etwas Universelles, die Ahnung". Und tatsächlich finden sich solche Momente, zuweilen ganz gut verborgen. Zumeist dann, wenn im weitesten Sinn vom Verlust der Heimat gesprochen werden kann, was in den Gedichten der 1960er Jahre bis hinein in die Gegenwart vorkommt. Da wird das Holzhaus meiner Kindheit gegen das neue Steinhaus ge- vielleicht sogar verrückt mit dem deutlichen  

nie
kann ich mich in einem Steinhaus
wohlfühlen seitdem.

Dabei wird das Steinhaus zur Allegorie für eine andere Gesellschafts- und Lebensordnung:

[…]

Und aus den neuen Steinhäusern an der Straße seh ich
lauter kleine Jungen und Mädchen treten. Die Mutter
winkt noch, aber sie blicken
sich nicht einmal um, fassen
sich an den Händen und laufen
unter dem Wind zur Schule
  

Einher geht dies mit der Umgestaltung der Landschaft also auch der Heimat. Da ist von  Leuten die Rede,
 
die gehen
gegen den Wind zur Arbeit
und kommen nicht mehr zurück

und

[…]

sie gehen nach Äxten und Sägen
und ziehen von Wald zu Wald
und fällen Wald für Wald, denn
unter den Wäldern liegt Kohle und
sie haben wohl recht.

Eine solche Kritik an den seltsamen Zugvögel[n], den Menschen, war also 1973 möglich. "Aber wenn ihr weint" endet:

aber wenn ihr weint, dann
weint im Regen – da
fallen die Tränen nicht so auf.

Lorenc weint "im Regen", beklagt die blinde Ignoranz der Natur gegenüber. Es ist eine Natur, die den Menschen aufnimmt und formt - das Gegenteil ist immer der Fall. Die Thematik war ja nicht beschränkt auf die DDR – Umsiedlungen, Raubbau und Naturzerstörungen gab und gibt es auch in der Bundesrepublik. Geschickt, wie die Antipoden unmittelbar gegeneinander gestellt werden: die Schönheit der Landschaft und die fast gleichzeitig einhergehende Zerstörung. Exemplarisch in der Hymne auf Lorenc' Heimatfluß Struga in einem Gedichtband von 1967. Zunächst die

[…]

Molchspur im Grundschlamm.
Kindheit, Molch, bunter Stein überspült –
heb ihn ans Licht, wie er bleicht.
Struga – ich bin durchflossen, ruhlos
dein heller Strom in der offenen
Ader der Landschaft

Da gibt es dann den Forellensprung und die Schwärme der Fische bevor es dann mahnend heißt:

Ach, schweigen können wir nicht,
grell im Licht, wir rasen über die Brücke,
zurück gegen den Zugwind
blicken wir furchtlos: Was
brach zusammen – die Struga, da
fließt sie, ein Abwasser trüb.
Blind brennt uns die Augen Spülicht
der Kohlenwäsche. Das neue Bett – klaffend
Hieb von rostiger Klinge
durchs Brachland

Aber es gibt eine vage Hoffnung:

[…]

Da – die Station. Aus dem Zug schnellend
Sprung der sorbischen Tänzerin,
Jugend und Schönheit – was
brach zusammen, so sprich, dreh
dich um, einfach: Die Struga
in uns eine Saite, wie tönt sie. Ich geh
sie zu stimmen, heut
geh ich zur Quelle.
["Die Struga"]

"Zur Quelle" – zur Natur? Zu den Geschichten, den Erzählungen der Sorben, die sich Lorenc an- und zugeeignet hatte und pflegte?

Auch in den 80ern klingt das Einbrechen des sogenannten Fortschritts in Leben der Leute an ("Ein Morgen meiner Liebsten"): 

[…]

Schlägt ein Elektriker die Krallen seiner Steigeisen
     in den aufrauschenden Telefonbaum

Aber sofort wird versucht, die Gegenwelt zu beschwören:

Und ein Dichter trepaniert ein Zwerghuhnei
     behutsam um das Krähen dreier Vierzeiler gereimt

[…]

Im Gedicht "Dorfbegräbnis" (ebenfalls in den 80er Jahren erstmals publiziert) spielt Lorenc schon mit dem Titel. Denn tatsächlich wird da niemand im Dorf begraben, sondern das Dorf selber. Es gibt Trauerfrauen und ein greiser Vater schreit lästernd, aber

An den Föhrenrinden fror
der Trompetenschall zu Bernstein

Schließlich

Trug der Bagger zart in seinem Maul
fort die Kirche ihren Hof

[…]

und es

wuchs zu Abraum Aberraum
troff aus fernbeheizter Wabe
Scheibenhonig
von der Platte

Hier zeigt sich auch Lorenc' spöttisch-ironisches Talent; Handke nennt ihn auch einen "Satiriker" (was sich besonders in den "Erinnerungen an den Landfilm" zeigt). Aber es gibt auch das Bukolische, Residuen aus einer anderen Zeit, das Pferd an der Linde ("Lieder aus Slěpe") und in der "Begegnung mit Kifko" entsteht für einen kurzen Augenblick ein Ton der Versöhnung:  

[…]

Einmal noch
stifte ich Frieden euch, vereine
die hadernden Brüder

[…]

"Refugienbürgertum" nannte Marcel Beyer einmal die intellektuelle Mittelschicht der DDR, die wie in Uwe Tellkamps "Turm" ihre Nischen suchte und ihr Arrangement fand. Lorenc kommt mir dagegen fast wie ein nimmermüder, sanfter Exorzist vor, der jenseits aller politischen Systeme oder intellektuellen Entwürfe das Schöne mindestens einmal noch festhalten möchte. Er begibt sich dafür in das Refugium der Natur- und, ja, das muss man sagen, Heimatbeschwörung; ein Rückzug ganz eigener Art, vielleicht eine wirkungsmächtigere Widerständigkeit als das des so sehr geschätzten "Protestes". Von Ferne erinnert das an Wolfgang Hilbig, aber Lorenc ist leiser. "Der Einbaum schwamm gegen den Strom" heißt ein Gedicht, eine wilde Reise, aber der Einbaum schwimmt nicht alleine – am Ende stieg mein Schatten aus – das ist des Dichters Absonderung, Abspaltung (und das ist spätestens dann kein Wunder mehr, dass Handke diesen Schreiber so verehrt).

Die Veröffentlichungen der letzten Jahre sind melancholischer, elegischer. "Auf einen Gruss" (publiziert 2002) verabschiedet endgültig die Landschaft der Kindheit - was der Sozialismus nicht schaffte, wird jetzt entfernt: 

[…]

Gerodet die schattende Hecke
wo die Winde schliefen
und Vögel gewohnt.

Wobei unmittelbar das Schweigen ob dieser Zustände behutsam eingebracht wird. Es folgt:

Der trockene Mund, verschlossen
achtet des Worts nicht, für das
keine Hand bürgt.

Und in der dritten Strophe:

Am Wegrand erstickt
der Bach, Regen schwemmt
fort die Krume, es verweht sie
der Sturm. Arme Erde
Nest ohne Lieder nun, ach
Gott befohlen.

In "Uhrzeigersinn" heißt es:

[…]

Aber auch ohnedies
nehme ich deutlich jetzt
das Vorrücken der Zeit wahr
sehe, höre
die Zeiger zustoßen
Sekunde
um
Sekunde

Erinnerungen an den Vater, die Mutter, deren Lächeln, das nie ein Spiegel ihr zeigt. Und plötzlich wird wie im Traum evoziert:

[…]

Mit Scharen schwarzweißer Kater
Streunt das Frühjahr durchs Dorf

[…]

und der Spaziergang durch das Wiedererleben des Frühlings im Dorf endet:

Tagschön, Feldnachbarin!
Wie geht's? Du wirst noch so
lange machen in deinem Garten
bis wieder alles blüht
["Es geht doch"]

Aber: noch so // lange machen - heißt das, nur noch bis im Garten alles blüht? Ist hier schon die Endlichkeit der Nachbarin eingewoben? Oder ist nur die Zeit des Säens und Herrichtens gemeint?

"Vorm Fensterspiegel", eines der 13 Gedichte (von insgesamt 76 ausgewählten), die im Anhang etwas lieblos als "verstreut erschienen oder bisher unveröffentlicht" rubriziert sind (ohne zu sagen, wann sie erschienen und/oder geschrieben wurden), ist schon lebensbilanzierend:

[…]

Der Stummfilm Leben
geistert über die Fotos
an den Wänden
vergessene Bilder

Gesichter
kaum noch erkennbar,
gewandelt bis man sich
falsch erinnert

[…]

Und da schließt sich fast der Kreis zum "Sterbende[n] Häher" (1973 veröffentlicht): 

[…]

Aber ich seh: Wir gehen
vorüber an IHM,
der stirbt im Klee
auf der kleinen Wiese am Wald.

[…]

Den Schnabel öffnet er gegen uns
in lautlosem Schrei – da:
sein Gefieder sträubt sich kindlich, eh er
versinkt in dem schwarzen Gewässer Schmerz
und wir ihm gleichgültig werden.

Nein, eine exakte literaturwissenschaftliche Analyse der Gedichte – das ist nicht die Sache des Idioten, der sich die Verse er-lesen muss, den Rhythmus suchend, oft genug beim ersten Mal scheiternd, neu ansetzend und endlich (endlich?) das für ihn richtige Maß findend. Ich kann nicht anders als mich in eine Landschaft, ein Bild hinein zu phantasieren. Und das ist möglich, weil Kito Lorenc' Gedichte offen sind, mir hier oder da einen Platz anbieten, den ich gerne annehme. Nur davon vermag ich Mitteilung zu machen. Ansonsten sei empfohlen: Lesen.

Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus den Gedichten von Kito Lorenc.

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Kito Lorenc
Gedichte
mit einem Vorwort von Peter Handke
Bibliothek Suhrkamp 1476
128 Seiten
13,95
9783518224762

Leseprobe

 


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