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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Investigation du temps détruit


Primo Levis bedeutende Romane »Ist das ein Mensch?« und »Die Atempause« liegen nach fünfzig Jahren nun als Neuausgabe mit einem ausführlichen Kommentar zu Rezeption und Entstehungsgeschichte vor.




Von Peter V. Brinkemper


Primo Levis berühmtes Auschwitz-Passions-Zeugen-Buch, aus dem Jahre 1946/47, und seine Fortsetzung, 1962/63: »Ist das ein Mensch?« und »Die Atempause«, sind in einer neuen, bibliophilen Ausgabe bei Hanser erschienen. Dieser Doppelband mutet wie ein antifaschistisches Brevier an.
Primo Levi, Jg. 1919, wurde in den Wirren um den Sturz von Mussolini 1943 als junger italienischer Widerstandskämpfer verhaftet und in das Lager Carpi-Fossoli verbracht, das 1944 deutsche Truppen einnahmen. Levi gibt, um einer politisch motivierten Hinrichtung zu entgehen, seine jüdische »Rasse« an und wird nach Auschwitz deportiert, in einer Phase, in der das Dritte Reich und seine Industrien massiv Arbeitskräfte bis zum Kriegsende benötigten. Levi war promovierter Chemiker und wird unter dubiosen Umständen als Zwangsarbeiter im Arbeitslager Monowitz, auch Auschwitz III genannt, wechselvoll eingesetzt, wo offiziell ein weiteres Buna-Werk der IG-Farben entstehen sollte. Dieses erste privatwirtschaftlich finanzierte große Arbeitslager war durchaus umstritten, unrentabel und dabei ein makabres Zukunftsmodell privatisierter Kriegsausartungen.
Man darf sich das eigentliche Bauprojekt im Endstadium als eine immer wieder bombardierte, vor sich hin fauchende Werksruine mit dem wahrhaft babylonischen Karbidturm vorstellen, neben der die Häftlinge im Freien auf dem Boden Schutz vor Luftangriffen suchten, während sich die wütenden deutschen Kriegsverlierer in den Bunkern schützten. Hier herrschte eine spätzeitliche Gemengelage aus industriell ineffektiver Ausbeutung, Verschleierung, Vorteilsnahme und Sabotage, bei rapide sinkender Arbeitsleistung, Verelendung, Verseuchung und immer grausamerer Massenvernutzungs- und Massenvernichtungspolitik, die mit dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau konvergiert.
Primo Levi kam durch eine Reihe von irrwitzigen Zufällen mit einem seelisch und physisch versehrten Leben davon. Er wurde hellsichtiger, kühl-ironisch sezierender Zeuge der alltäglichen, jedes Recht und jede Gerechtigkeit verhöhnenden Mechanismen der absurden deutschen staatsterroristischen Todesmaschinerie, die die Menschen um ihre Würde und ihren Verstand brachte und die Täter in gefühllose Beseitiger, die Opfer in auszumerzende »Gespenster« mit eintätowierten Häftlingsnummern verwandelte. Levis Lager-Erzählungen sind keine resignativen Trauerbotschaften, sondern grimmig-widerborstige Streifzüge voller Protest und Auflehnung gegen die geschlossene Todeswelt, die zunächst die Solidarität des Menschlichen und dann die Menschen liquidiert.
In ihrem stets ausformulierten politischen Widerstand erweist sich Levis Darstellung als eine ungeheuerliche Mischung: mitleidslos authentischer Bericht und einfühlsam ankämpfende Schilderung, schmerzlich-neugierige Bloßlegung von organisiertem Wahnsinn, Propaganda, Unterdrückung, Zwietracht, Grauen und Elend, ein Plädoyer voll von linksintellektuellem Galgenhumor und lebensrettendem italienischen Leichtsinn gegenüber dumpfer Herrenrassen-Ideologie und ihren Schergen, verbunden mit einer immer wieder überraschend distanzierten und luziden Einordnung totalitärer Denkmuster in die dunklen Wurzeln der abendländischen Kulturgeschichte. Wenn es einen furchtlosen Idealismus gibt, der nur eine Angst kennt, vor dem Verlust des eigenen Ideals, dann hier. Levi erlebt und schreibt nicht mit der hinnehmenden Geste des gesenkten Blicks, sondern mit dem meuternden Wagemut einer zukünftigen Menschlichkeit, um den Tätern der kafkaesken Strafkolonie in ihre verblendeten Augen zu schaun und um die Trivial-Diabolik des Reitpeitschen-Faschismus der duckmäuserischen Verschwiegenheits-Aura zu entkleiden. Das ist nah an Kogons Nüchternheit und weit weg von Spielbergs Schindler-Sentimentalität. Levi hat selbst immer wieder betont: »Ist das ein Mensch?« sei als Erfahrung, Erinnerung und Text wie »ein herumstreunendes Tier«, das unzähmbar, in zahlreichen Versionen und Fassungen, für Rundfunk und Theater, und im Gesamtwerk, Spuren hinterlassen habe. Und so entnimmt man dem Anhang die Erläuterung des nicht-linearen Erstellungsprozesses, - in der spannungsvollen Orientierung an den beiden großen Erzählpolen, der leidensvoll verwirrenden Erinnerung und der konterkarierenden Schreibweise voll plastischer Einsicht und Übersicht. Die Texte destillieren Kompositionen zwischen experimenteller Passion, paradoxer Reportage und aufklärender Entmystifizierung, eine Investigation du temps détruit, die sich nicht an die rein tagebuchförmige Folge und Nähe isolierter Episoden hält, sondern ein Mosaik traumatisch durcheinander geworfener und doch immer wieder aufschlussreich miteinander verbundener Situationen und Zeiten bietet, um phänomenologisch immer weitere Tiefenschichten des Menschseins und der vernichtenden Versklavung von Opfer und Täter zu erschließen. Alleine die traumwandlerische, an Fellini und Pasolini erinnernde Sicherheit, mit der Levi seine tantalidischen Szenen schmiedet und im Anhang die kulturellen, religiösen und politischen Bedingungen des Antisemitismus und der Judenvernichtung in dem von den Nazis beherrschten Europa erläutert und die fatale Suggestion des teutonischen Nicht-Wissen-Wollens und blinden Vollstreckens von Rechtsbrechung »Diesseits von Gut und Böse« beleuchtet, empfiehlt sich als Pflichtlektüre für unsere heutige Übergangsepoche, in der das Gedenken an den Holocaust scheinbar immer historistischere und unbeholfenere Züge annimmt, während der Neonazismus im krisenanfälligen Europa brutale Gestalt annimmt, zwischen rassistischer Duldung, politischer Fahrlässigkeit und bisweilen staatstragender Rolle.  

 














Primo Levi
Ist das ein Mensch? -
Die Atempause

Übersetzt von Barbara Picht, Robert Picht, Heinz Riedt
Hanser Verlag
Fester Einband, 624 Seiten
Mit Lesebändchen
27.90 € (D) / 37.90 sFR (CH) / 28.70 € (A)
ISBN 978-3-446-23744-5

Leseprobe

Primo Levi
Gespräche und Interviews
Aus dem Italienischen von Joachim Meinert, herausgegeben von Marco Belpoliti
288 Seiten
Hanser Verlag
19.90 € (D) / 27.90 sFR (CH) / 20.50 € (A)
ISBN 978-3-446-19788-6


 


 


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