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Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 06.06.13

Im freien Fall

Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa
sieht das Ende der Kultur gekommen.

Von Patrick Wichmann

 

 

Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ist ein umtriebiger Mann: Sein literarisches Schaffen umfasst mittlerweile nicht nur zahlreiche Romane und Erzählungen, für die er mit vielerlei Auszeichnungen geehrt wurde, auch politisch war er in den letzten Jahrzehnten überaus aktiv. Dazu hat er sich den Ruf eines ausgezeichneten Essayisten erworben, der in seinen Publikationen kritisch den Zustand unserer Gesellschaft reflektiert. Kurzum: Vargas Llosa darf getrost als einer der maßgebliche engagierten Intellektuellen unserer Zeit bezeichnet werden. Umso größeres Gewicht muss seinen Worten beigemessen werden, wenn er in seiner jüngsten Veröffentlichung »Alles Boulevard« den drohenden Untergang der Kultur prophezeit.

Was ist nur aus der Hochkultur geworden? Unsere Theater kämpfen um das finanzielle Überleben, der Literaturbetrieb hat Trivialroman und Lebenshilfe als Flaggschiffe auserkoren und in der Filmindustrie hat technischer Bombast längst Handlung und Botschaft abgelöst. Die Kritik am Verfall der Kultur ist alles andere als neu, schon die Antike hat das Ende des ‚Goldenen Zeitalters‘ beklagt. Nun könnte daraus manch einer folgern, wenn es die Kulturkritik schon immer gegeben habe, sei sie ja wohl gänzlich überflüssig und nicht mehr als das ewig Rückwärtsgewandte, ein immer existierendes Lamentieren nach den guten alten Zeiten, doch – mitnichten! Gerade sie trägt nach wie vor zur gesellschaftlichen Introspektion bei und sucht die vorhandenen Probleme zu analysieren und lösen.

Trivialisierung

Mario Vargas Llosa widmet sich in seinem Essay der »Kultur des Spektakels«, der »civilización del espectáculo«, wie das Buch im spanischsprachigen Original heißt. Er beklagt die Boulevardisierung, die unser gesamtes gesellschaftliches Leben ergriffen habe. So habe die Gedankenlosigkeit zur »Königin und Herrscherin über das postmoderne Leben« werden können. Nun zähle nicht mehr der Inhalt einer Sache, sondern lediglich das Aufsehen, das sie erregt. Diese Entwicklung sei Hand in Hand gegangen mit der schwindenden Unterscheidung zwischen ‚Wert‘ und ‚Preis‘. Und tatsächlich: Macht heutzutage nicht erst der Preis die gesellschaftsbezogene Qualität einer Sache aus? Sind es nicht mittlerweile überteuerte Marken, Trends, Moden denen wir bereitwillig huldigen? – Unabhängig von dem wahren Wert einer Sache unterscheiden wir rein nach Kriterien wie Bekanntheit und Prestigeträchtigkeit. Wertvoll ist nur noch, was auch teuer ist oder zumindest den Anschein erweckt, es gewesen  zu sein. Ebenso wie sich diese Begriffe verwaschen haben, verhalte es sich auch mit dem Begriffspaar ‚Kultur‘ und ‚Unterhaltung‘: Nur was unterhält, wird heute als Kulturgut anerkannt. »Literatur light, Kino light, Kunst light, sie geben dem Leser oder Betrachter das behagliche Gefühl, er sei gebildet, revolutionär, modern und marschiere an der Spitze des Trends, das alles mit einem Minimum an intellektuellem Aufwand.« Wodurch zugleich alles in den Genuss kommen kann, ein Kulturgut zu sein: Rave-Partys, Kochkunst, Talkshows à la Oprah Winfrey, Sport.

Dieser Umstand habe letztlich zu einer Banalisierung des Kulturbetriebs geführt. An die Stelle des Intellektuellen sei daher in der öffentlichen Wahrnehmung der Star getreten: eine schon skurrile Figur, die ihre Präsenz unabhängig von Talent und Fähigkeit allein der medialen Inszenierung verdankt. So bleibe auch den Intellektuellen nur die Chance, über den Weg eines Bündnisses mit dem Boulevard zu Aufmerksamkeit zu gelangen – allerdings eben nur um die Preisgabe des inhaltlichen Gewichts. »In der Kultur des Spektakels interessiert der Intellektuelle nur, wenn er das Spiel des Tages mitspielt und den Narren gibt.« Nur wer seicht schreibe, male, inszeniere habe die Chance auf Aufmerksamkeit. Diese Entwicklung wiederum habe sich in alle Ebenen unserer Gesellschaft eingeschlichen: Von dem Politiker, der seine Bekanntheit auf Kosten der Substanz steigere, bis hin zum Künstler, der sich, statt Experimente zu wagen, in ewiger Kopie wiederhole und dabei zwecks Aufmerksamkeit die gezielte Provokation suche.

Kultur der Eliten?

Nun mag man Mario Vargas Llosa voreilig vorwerfen, einer elitären und im Elfenbeinturm abgeschotteten Hochkultur das Wort zu sprechen, wie es der Feuilleton teilweise getan hat. So etwa David Hugendick, der in der »Zeit« den Vorwurf erhoben hat, Vargas Llosa würde mit »Plattitüden andauernd Türen« einrennen, »die niemand je verschlossen hat«. Das mag in gewisser Weise sicherlich zutreffen, die kulturelle Entwicklung ist für jeden, den sie interessiert, schließlich offenkundig und leicht einsehbar – was allerdings nichts an der basalen Richtigkeit des Befundes ändert. Zugleich vollzieht Hugendick einen gefährlichen Zirkelschluss: Wenn Vargas Llosa für schwierige, komplexe, anstrengende Literatur plädiert, sich nach Werken der vielschichtigen Virtuosität eines »Ulysses« in der modernen Dichtung sehnt, dann bedeutet dies eben umgekehrt nicht zugleich, dass jede Literatur im Sinne eines Qualitätsmerkmals schwierig sein müsse.

Wer also würde allen Ernstes Vargas Llosas Diagnose des Kulturverfalls bezweifeln wollen? Tatsächlich hat der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, nicht die prognostizierte Individualisierung befördert, sondern gerade im Gegenteil für eine Massenkultur – und Kultur der Vermassung – gesorgt, die den individualistischen Freigeist schon im Keim erstickt: »Die Weltkultur fördert den Einzelnen nicht, sie verblödet ihn, nimmt ihm Klarsicht und freien Willen, so dass er auf die Angebote dieser ‚Kultur‘ konditioniert reagiert, wie Herdenvieh, wie der pawlowsche Hund beim Klang des Futterglöckchens.« Die Teilhabe an der Gesellschaft ist das höchste Gut, die durchschnittliche Lebens-Normalität das neue Ideal. Wodurch der genialische Künstler separiert wird und nur um den Preis der Trivialisierung aktiven Anteil am kulturellen Leben nehmen kann.

Nein, Vargas Llosas Befund als solcher ist (leider) kaum zu widerlegen. Woran sein Essay vielmehr krankt, ist das Problem der Perspektive: Wenn der schleichende Kulturverfall, die Spektakulisierung das zwingende Resultat unserer offenen Gesellschaft ist – deren positive Seiten wie Demokratie und Freiheit der 77-Jährige selbstverständlich einräumt! –, welche Möglichkeit haben wir dann, den Weg zurück zu finden, ohne unsere basalen gesellschaftlichen Errungenschaften zu verraten? Auf diese Frage hat leider auch Vargas Llosa keine Antwort parat, dabei wären grade hier konstruktive Vorschläge gefragt. Zwar bespiegelt er präzise die fatalen Mechanismen unserer Unterhaltungsindustrie, muss jedoch durch ihre Kopplung an das gesellschaftliche und politische System zwangsläufig an einer Lösung scheitern. Eine Re-Kultivierung um den Preis der Freiheit kann keine Alternative sein. So präsentiert der Écrivain engagé Vargas Llosa zwar eine exakte Krankheitsdiagnose, kann jedoch das passende Heilmittel nicht mitliefern. Sollte er Recht behalten, bleiben wir so zum Scheitern verdammt, werden weiterhin »blind, wie Automaten unserer eigenen Auflösung entgegenschreiten«. Das Ende unserer Kultur und die vollständige Trivialisierung sind jedenfalls bis dato glücklicherweise noch nicht eingetreten – eben das verdanken wir maßgeblich engagierten Intellektuellen wie Mario Vargas Llosa. Noch haben wir es nicht geschafft, uns zu Tode zu amüsieren. Wohlgemerkt: noch nicht.
 

Foto: Arild Vågen
Buchmesse Göteborg, September 2011

Mario Vargas Llosa
Alles Boulevard
Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst.
Übersetzt aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
227 Seiten, 22,95 EUR
9783518423745

Weitere Titel:

Mario Vargas Llosa
Die jungen Hunde - Erzählung
Neu übersetzt von Susanne Lange.
Mit Fotografien von Xavier Miserachs
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