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Ein Mann mit Ecken und Kanten

Der neue Comic des Amerikaners David Mazzucchellis »Asterios Polyp« mag erzähltechnisch ein sperriges Monstrum sein. Kunstästhetisch jedoch ist es ein umwerfendes Kleinod in der vom Graphic-Novel-Wahn gleichgeschalteten Comicwelt.



Von Thomas Hummitzsch

Kein literarisches Genre wächst in einem solchen Maß, wie derzeit die Comicliteratur. Unter dem Schlagwort der Graphic Novel werfen die Verlage ein Sprechblasenband nach dem anderen auf den Markt. Darunter sind viele hochkarätige Werke, aber auch nicht wenig Enttäuschendes. Insgesamt aber erfährt die sequenzielle Literatur ein reges Interesse. Dies führt jedoch zugleich zu einer Standardisierung der Zeichenstile und der Text-Bild-Choreografien, die Experimentierlust – vor allem der Mut zur Lücke bei den Verlagen – lässt nach. Schließlich müssen in Zeiten der wachsenden Konkurrenz im Comic-Sektor zusätzliche Leser gewonnen werden. Dies gelingt nun mal besser mit Comicbänden, die auch dem Neuling ohne große Anstrengung zugänglich sind.

Umso erfreulicher ist es, dass das neue Werk von David Mazzucchelli „Asterios Polyp“ nun auf Deutsch erschienen ist, denn es ist in seinem ästhetischen Anspruch alles andere als seichte Kost. Die in Pastellfarben ausgeführten Zeichnungen, die in ihrer Mischung aus 80er-Jahre-Ästhetik und abstraktem Kubismus ein neues visuelles Erlebnis schaffen, heben sich anspruchsvoll ab von dem harmlos-wilden Einheits-Schwarz-Weiß, das eine Vielzahl der aktuellen Comicbände prägt. Bereits das Cover des fast 350 Seiten starken Text-Bild-Romans macht diesen Anspruch deutlich. Übereinander gelegte scherenschnittartige Lettern auf unterschiedlichem Farbgrund, links eine seltsame Figur, die eher an Enki Bilals Zukunftswesen als an eine Realfigur erinnern lässt. Die Fachwelt zeigte sich von dem, was sich hinter diesem Cover verbirgt, jedoch begeistert. Jeweils drei Harvey- und drei Eisner-Awards in den USA sowie den Sonderpreis der Jury bei Europas wichtigstem Comicsalon in Angoulême sprechen für sich.

Der Titel gebende Protagonist Asterios Polyp ist die Hauptfigur von Mazzucchellis erstem, selbst verfasstem Comic-Roman. Seine Ideen und seine Kreativität als Architekt sind hoch angesehen, allerdings werden sie niemals umgesetzt. Hochintelligent scheint er als Dozent jedem Thema gewachsen zu sein, und zugleich erzeugen all seine Ausführungen kaum Verständnis. Zahlreiche Affären und jüngere Geliebte säumen seinen Lebensweg, doch zum tief empfundenen Glück war er nie in der Lage. Seiner Intelligenz fällt die Empathie, seinem Reden das Verstehen, seiner Virilität die Liebe zum Opfer. Asterios Polyp ist ein komischer Kauz.

Mazzucchelli entreißt diesem Kauz zu Beginn seines visuellen Romans sein Leben. An dessen 50. Geburtstag fällt Asterios Polyps gesamte Existenz einem Wohnungsbrand zum Opfer. Doch statt dem Verlorenen hinterherzutrauern, nimmt der egozentrische Dozent den nächsten Bus in eine ungewisse Zukunft. Ein Zufall treibt den überaus klugen, aber wenig empathischen Professor in das offene Haus eines grundsympathischen KfZ-Mechanikers. Er findet dort etwas, das man Familie nennen kann. Konfrontiert mit diesem unverhofften Glück blickt Asterios Polyp auf sein Leben und insbesondere auf seine gescheiterte Ehe mit der deutlich jüngeren Künstlerin Hana Sonnenschein zurück.

Die Ehe hielt nur aufgrund der Anziehungskraft der Gegensätze zwischen der Künstlerin und dem Dozenten einige Zeit. Die unüberbrückbare Differenz beider wird schon in den Namen deutlich. Sonnenschein gegen Nesseltier, Sonnenschein gegen Krake, Sonnenschein gegen Geschwulst… Folgt man den Wortbedeutungen von Polyp, bekommt man dieses Paar einfach nicht in ein positives Verhältnis gedreht. Und dies beweist sich dann auch in ihrer Liaison, welche von einem Übermenschen namens Asterios Polyp dominiert wird. Erst als Hana erste Aufträge erhält und dort reüssiert, wo ihr Mann stets scheiterte – in der Praxis – dreht sich das Beziehungsgeflecht. Der blendende Stern des Asterios Polyp beginnt zu sinken und mit ihm die zum Scheitern verurteilte Beziehung.

Mazzucchelli übersetzt die Unterschiedlichkeit seines Personals genial in Bilder. Geraten seine Protagonisten in Konflikt, tauchen sie ein in eine strenge Form- und Farbwelt, deren Kodierung eine Trennung des weiblichen und männlichen Prinzips in rote Schraffierung und blaue Geometrie vorsieht. Dieses Prinzip der atmosphärischen Zeichnung zieht sich durch den gesamten Comic, so dass bspw. die Nähe suchende Hana in weichen Linien ausgeführt ist, während sich der kantige und unnahbare Asterios im Laufe der Beziehung immer stärker in eine Gliederpuppe aus geometrischen Formen verwandelt. Dabei nähert sich Mazzucchellis Hauptfigur zugleich seinem zur Geburt verstorbenen Zwillingsbruder an, der – anfangs nur als Strichmännchen angedeutet und mit fortschreitender Erzählung konkrete Gestalt annehmend – das Leben des verkopften Architekten wie ein Schatten begleitet. Dieser Schatten symbolisiert das immerwährende Schuldgefühl Asterios Polyps, als „Auserwählter“ die Geburt überlebt zu haben.

David Mazzucchelli findet in der Sprechblasengestaltung noch weitere ikonische Übertragungen der unterschiedlichen Gefühls- und Stimmungslagen seiner Figuren, für die er individuelle Sprechblasenformen und Schrifttypen oder aber atmosphärische „Sprechblasentänze“ entworfen hat. Die Blasen werden so selbst zum Element der psychosozialen Zuschreibung im Bild, die Formalien des Comics werden zum gestalterischen Bilderrätsel. Mazzucchelli gelingt es auf erfrischende Art, im Zusammenspiel von Text und Bild, Farb- und Formgebung neue Bedeutungsebenen zu eröffnen, die entdeckt werden wollen, um seiner Erzählung Tiefe zu geben. Dabei gerät die Erzählung zuweilen aus dem Ruder, das begeisterte Experimentieren mit Formen und Farben gewinnt die Überhand.

Nur so ist es zu erklären, dass Asterios Polyps Rückblick auf das eigene Leben und das Scheitern an der eigenen Beziehungsunfähigkeit in befremdlicher Sachlichkeit erfolgt. Dieser komische Kauz von Architekt will dem Leser weder sympathisch noch unsympathisch werden. Mazzucchelli lässt in seinem anspruchsvollen Stil, der künstlerische Augenweide und kreatives Feuerwerk zugleich ist, den Leser bis zum Schluss nicht an seine Hauptfigur heran. Asterios Polyp bleibt dem Leser als Mensch fremd.

Das kann enttäuschen, muss es aber nicht, wenn man den Comic als das behandelt, was er sein will – ein Genre-Comic. Ein Werk, welches mit den Grenzen des Möglichen im Bereich der comicalen Kunst spielt und experimentiert, Genregrenzen durchbricht und zu dem zurückkehrt, was Comic einstmals ausmachte: der Interdisziplinarität. Das kennt man von Mazzucchelli bereits aus seiner Adaption von Paul Austers „Stadt aus Glas“. Auch hier sind die Zeichnungen eher technisch gehalten und lassen wenig Gefühl entstehen, weil das Experimentieren mit den Grenzen des im Comic Umsetzbaren sowie die notwendigen Grenzüberschreitungen im Vordergrund standen. So erinnert David Mazzucchellis experimentierfreudiger Stil an die Arbeiten weniger bekannter, aber umso aufregenderer Comicautoren wie Saul Steinberg oder Benoît Peeters.

Comic-Neulinge setzt sein Werk allerdings einer harten Probe aus, als Initiationscomic ist „Asterios Polyp“ denkbar ungeeignet. Comicliebhaber hingegen werden von diesem anspruchsvollen Band kaum genug bekommen, denn sie begegnen lange vermissten Spielereien auf der Ur-Ebene des Comics – irgendwo in der endlosen Welt zwischen Text und Bild.
 

David Mazzucchelli
Asterios Polyp
Aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger
Eichborn-Verlag 2011
344 Seiten
29,95 Euro
ISBN: 9783821861302

 


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