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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Portraitist der Upper Class

Er galt zu seiner Zeit als der teuerste Fotograf von Paris, in seinem Studio herrschte dennoch ein reges Kommen und Gehen. Nun eröffnet ein imposanter Bildband erstmals einen Blick auf bisher unzugängliches Fotomaterial aus dem Studio von Man Ray.



Von Thomas Hummitzsch

 

»Wenn ich mir ein Gesicht photographisch anverwandle, arbeite ich wie die alten Meister. … Man muss die Entfernungen beachten! Dann wird das Portrait auch nicht entstellt. In den meisten Aufnahmen, die von traditionellen Photographen gemacht werden, ist die Nase fast doppelt so groß wie das Ohr. Weil sie näher am Apparat ist. … Man darf ein Modell nie aus weniger als vier Metern Entfernung photographieren.«

Jemand, der »die anderen« seiner Zunft als »traditionelle Photographen« bezeichnet, scheint sich selbst nicht dazuzuzählen. Zweifelsohne hat der große Surrealist und Dadaist Man Ray, dem das Eingangszitat zuzuschreiben ist, eine Sonderstellung in seiner Zunft. Man Ray hob Fotografie auf eine neue Ebene. Seine Portraitaufnahmen aus über fünf Jahrzehnten sind nun in einem prachtvollen Bildband versammelt, der den famosen Schlusspunkt der Sortierung, Zuordnung, Digitalisierung und Archivierung von mehr als 12.000 Negativen darstellt, die Mitte der 1990er Jahre aus dem Studio Man Rays in den Besitz des Pariser Nationalmuseums für Moderne Kunst, Centre Pompidou, übergingen. Die Portraits umfassen knapp zwei Drittel dieses enormen Fundus.

Den Bildern vorangestellt ist eine überaus kluge und tiefgründige Einführung in Man Rays Portraitkunst durch den Fotografiehistoriker Clémens Chéroux sowie ein erklärender Text zur Digitalisierung und Zuordnung der Foto-Negative am Centre Pompidou durch dessen Chefkurator Quentin Bajac. Die von Chéroux und Bajac ausgegebenen Informationen bilden die theoretische Basis für das visuelle Spektakel, welches dann folgt.

Als Kritiker ist mit Superlativen sparsam umzugehen, denn schnell sind sie verbraucht, doch bei den Portraits des US-Amerikaners, der im Paris der 20er Jahre schnell ein zweites Zuhause fand, sind sie angebracht. Man ist geneigt zu sagen, dass es niemanden der euroatlantischen Boheme gab, den Man Ray nicht portraitierte. Der vorliegende Foliant liest sich wie ein Who’s Who des transatlantischen Kunst- und Schreibgewerkes. Eine Auflistung zu beginnen, hieße nicht nur, so schnell nicht wieder aufhören zu können, sondern auch diesen Text der Willkür zu überlassen. In dem hochempfindlichen Bildmaterial, das nun erstmals öffentlich zugängig gemacht wurde, wimmelt es von namhaften Fotografen, Malern, Lyrikerinnen, Romanciers, Journalistinnen, Reportern, Sängerinnen, Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Schauspielern, Galeristen, Kunstsammlern sowie Repräsentanten der Diplomatie und der undurchsichtigen High Society (und all jener, die sich zu dieser zählten). Selbst diese Aufstellung der beruflich-identitären Hintergründe der Abgelichteten ist alles andere als vollständig.

Die Portraits bilden nicht allein das Begehren der Fotografierten, einmal von Man Ray abgelichtet worden zu sein, ab, sondern auch das Beziehungsnetzwerk, in dem sich Man Ray aufhielt. Dieses Netzwerk stellte auch den Ausgangspunkt seines wirtschaftlichen Erfolges dar. Zwischen den intimen und oft spontanen Studioaufnahmen von Personen aus seinem engen Freundeskreis sind immer wieder repräsentative Auftragsfotografien, die die Portraitierten umgeben von ihrem Interieur abbilden. Sie zeigen sie in ihrer natürlichen Umgebung, anschaulich in Szene gesetzt. Zu diesen repräsentativen Inszenierungen kam Man Ray nicht nur durch die Empfehlungen seiner Freunde, er ließ sie sich auch gut entlohnen. Er galt zu seiner Zeit als der »teuerste Fotograf von Paris«.

Ab Mitte der 1920er Jahre erschienen seine Fotografien auch in »Hochglanzmagazinen« wie Vogue, Harper’s Bazaar oder Vanity Fair, so dass Touristen aus Amerika bald bei ihm Schlange standen. Ein Besuch in seinem Atelier wurde zum Pflichtprogramm eines jeden Parisbesuchs.

Nie wieder sollte Man Ray so viele Portraitaufnahmen machen, wie in den Jahren 1921 – 1940 in Paris. Man merkt den Abzügen aus den Jahren in Hollywood an, dass er unter der Situation im gefühlten Exil litt. Er konzentrierte sich in Hollywood aufs Malen. Nach seiner Rückkehr nach Paris flammte die alte Leidenschaft für die Fotografie zwar noch einmal auf, doch wollte sie nicht mehr so brennen, wie noch in den 1920er und 1930er Jahren.

Man Ray war im Gegensatz zu vielen anderen Fotografen seiner Zeit vielmehr Künstler als Dokumentarfotograf. Sein Element war nicht die Straßenfotografie wie etwa bei Eugene Atget oder André Kertesz, sondern die künstlerisch-surrealistische Inszenierung. Seine Portraits unterscheiden sich fundamental von denen eines August Sander. Suchte Sander den typischen Wesenszug, fand Man Ray seine Befriedigung im Hervorheben des Besonderen. Man Ray war ein Spieler, liebte das Experiment – dies wird auch beim Betrachten seiner Portraits deutlich. Er arrangierte Licht und Schatten, variierte mit Perspektiven und spielte nicht zuletzt mit dem Mittel der Abstraktion. Und dennoch wirken die meisten seiner Portraits sehr klassisch, über denen ein Schimmer des Besonderen liegt.

Man Ray habe das Medium der Photographie über die lediglich das Reale imitierende Funktion hinausgeführt, sagte der Gründervater des Surrealismus André Breton über den Amerikaner. Dies mag nicht immer seine Absicht gewesen sein, aber zumindest hatte Man Ray stets den Mut, auch unkonventionelle Wege zu gehen. Die Geschichte der Aufnahme der italienischen Mäzenatin Luisa Casati ist ein gutes Beispiel dafür. Als Man Ray in ihrem Zimmer die Aufnahmen machen wollte, brannten die Sicherungen durch, so dass er bei natürlichem Licht fotografieren musste. Dies erforderte eine relativ lange Belichtungszeit, seine Aufnahmen waren verwackelt. Die Italienerin wollte sie dennoch sehen – und verliebte sich in ein Bild mit drei Augenpaaren. »Eine surrealistische Version der Medusa«, beschrieb Man Ray die Aufnahme später selbst. Casati war von dieser mystischen Fotografie ganz entzückt und frohlockte, dass ihm ein Portrait ihrer Seele gelungen sei.

Dem Bildband fehlen jedoch die vielen surrealistischen Spielereien, für die der Fotograf bekannt ist. Insbesondere seine bekanntesten Aufnahmen von Kiki, seiner Pariser Geliebten, sind nicht im Band enthalten. Auf Le violon d’Ingres von 1924, Noire et Blanche von 1926 oder Larmes von 1932 – allesamt Bildikonen des Surrealismus -  muss man verzichten. Angesichts des reichhaltigen Fundus, den der Band bietet, ist das jedoch zu verschmerzen.

Man Rays Portraits sind jedoch keineswegs nur Zufallsprodukte. Sie sind das Resultat spontan-reflektierter Geistesblitze eines Fotografen, der sein Handwerk wie kaum ein anderer anzuwenden und mit dem Wesen der abzulichtenden Person in Einklang zu bringen wusste. Seine Aufnahmen sind daher nicht nur einmalig, sondern prägen auch unser bildhistorisches Gedächtnis – bis heute. Etwa die Fotografie André Bretons, dessen Antlitz selbst zum surrealen Experimentierfeld geriet. Die Portraits von Jean Cocteau zeigen einen ebenso spielerischen wie tiefgründigen Geist. In Marcel Duchamp entdeckte Man Ray früh das enfant terrible, in Dora Maar und Meret Oppenheim die erotische Anziehungskraft der Muse. Bei Sergej Eisenstein, Ezra Pound und Thomas Mann fragt man sich, ob es überhaupt jemals ein anderes Portrait gegeben hat als jenes von Man Ray. Ähnliches ließe sich von dem surrealen Doppelporträt des in Auschwitz umgebrachten rumänischen Schriftstellers Benjamin Fondane sagen. Auch der selbstbewusste Pablo Picasso, der uns aus Man Rays Aufnahme entgegenblickt, hat in unserem kollektiven Gedächtnis einen festen Platz.

Die Portraits erzählen aber auch von skurrilen Geschichten. Etwa die der französischen Abenteurerin Élisabeth Sauvy-Tisseyre, die aufgestützt auf einen Buddha-Kopf abgebildet ist, den sie auf einer Asien-Reise in Angkor gestohlen und damit einen Eklat ausgelöst hatte. Oder die Aufnahme von Ernest Hemingway mit Filzhut, der keineswegs ein modisches Accessoire jener Zeit darstellt, sondern den Kopfverband verdecken sollte, der ihm angelegt werden musste. Schuld war eine simple Verwechslung der Kette des Toilettenkastens mit der Schnur des Klappfensters, welches krachend auf Hemingways Schädel rauschte. Diese und andere bildbiografischen Details hat ein zehnköpfiges Team des Centre Pompidou nachrecherchiert. Sie stehen neben den Abzügen der Foto-Negative und komplettieren diesen prachtvollen, etwa 500 Portraitaufnahmen umfassenden, enzyklopädischen Bildband.

Die beeindruckenden Portraits, die hier versammelt sind, fügen sich in einer Art seitenübergreifendem Mosaik zu dem Portrait einer Zeit – welch surrealistische Fügung.
 

















Clément Chéroux (Hrsg.)
Man Ray.
Portraits
Paris – Hollywood – Paris 1921 – 1976
Aus dem Französischen von Matthias Wolf
Schirmer/Mosel 2011
312 Seiten
517 Abbildungen
58,- Euro


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