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Ein Leben zwischen Dichtung & Wahrheit

Zum 100. Todesjahr des Vielgelesenen 2012 ist eine neue Karl-May-Biografie von Prof. Dr. Helmut Schmiedt,
»Karl May oder Die Macht der Phantasie«, erschienen.

Von Jürgen Seul


 

Wolfenbüttel, 5.10.2011, 20:00 Uhr

Eine illustre Schar interessierter Zuhörer hat sich in der Buchhandlung Steuber versammelt. Die aufgestellten Stuhlreihen sind vollständig besetzt. Die Erwartung und Freude der Anwesenden ist spürbar. Viele von ihnen kennen sich und sie kennen vor allem die Hauptperson des heutigen Abends, den Koblenzer Germanistikprofessor Dr. Helmut Schmiedt, der den Zuhörern seine aktuelle Biografie Karl May oder Die Macht der Phantasie vorstellen wird.

Schmiedt ist stellvertretender Vorsitzender der wissenschaftlichen Karl-May-Gesellschaft e.V. (KMG), einer der größten deutschen Literaturgesellschaften, die sich seit ihrer Gründung 1969 der Erforschung von Leben, Werk und Wirkung Karl Mays verschrieben hat. Die heutige Lesung ist der inoffizielle Auftakt des 21. Kongresses der KMG, der für vier Tage in der Lessing-Stadt abgehalten wird.

Helmut Schmiedt nimmt an seinem Lesepult Platz und wird von einer Buchhandlungsmitarbeiterin kurz vorgestellt.

Er hätte, so beginnt der Autor seine Lesung, niemals gedacht, dass ihn das Thema Karl May noch einmal nach Wolfenbüttel führen würde, wo er acht Jahre zuvor aus beruflichen Gründen wegen Gotthold Ephraim Lessing schon einmal gewesen sei. Interessant sei in diesem Zusammenhang jedoch, dass gerade Lessing neben Schiller zu den Lieblingsschriftstellern Karl Mays gezählt habe. Diese Nähe Mays zu Lessing zeige sich z.B. auch in der Nähe von Mays Altersnovelle Schamah zu Lessings Nathan der Weise. Unübersehbar sei, dass Mays Denken von Lessings Toleranzidee beeinflusst gewesen sei. Was nun seine persönliche Nähe zu Karl May betrifft, so kommt Schmiedt auf seine Einstiegslektüre als Jugendlicher zu sprechen: Unter Geiern. Dabei schmunzelt er und meint in die Runde:

»Ich weiß, dass mancher von Ihnen jetzt sagen wird, dass Karl May doch nie ein Buch mit diesem Titel geschrieben hat. Das ist natürlich richtig. Unter Geiern ist ein Titel, den der Karl-May-Verlag einem Buch mit den beiden Einzelerzählungen Der Sohn des Bärenjägers und Der Geist des Llano Estacado gegeben hat.«

Die Editionspraxis des Karl-May-Verlages ist zwar eines der Hauptthemen im Kapitel Karl Mays Nachleben von Schmiedts Karl-May-Biografie, doch an diesem Abend beschränkt der Autor aus Zeitgründen die Vorlesepassagen auf die Kapitel über die soziale und familiäre Herkunft Karl Mays, dessen popstarhafte Selbstvermarktung in Verbindung mit der Old-Shatterhand-Legende sowie andere Kuriositäten aus der Wirkungsgeschichte des Schriftstellers nach seinem Tod.

Helmut Schmiedt trägt nun die ausgesuchten Buchpassagen mit der ihm eigenen ruhigen und angenehmen Routine eines Experten vor, der schon von Berufswegen den öffentlichen Vortrag beherrscht und der sein Thema in und auswändig kennt, ohne dabei die eigene jugendliche Faszination verloren zu haben.

 

Die Idee zum Buch

 

Die Idee zu dieser Karl-May-Biografie ist nicht vom Autor selber ausgegangen, sondern wurde vom renommierten Münchner Verlag C.H. Beck an ihn herangetragen.

»Dort hat man sich ausgedacht, im Hinblick auf das Jahr 2012 auch eine May-Biografie ins Programm zu nehmen. Ohne die Initiative des Verlags wäre ich nicht darauf gekommen, eine Biografie zu schreiben, da ich mich sonst immer mehr mit dem Werk als mit der Person May beschäftigt habe,« meinte Schmiedt kürzlich in einem Interview mit dem Magazin Karl May & Co.

Er hat die Aufgabe gerne angenommen und sei darauf ausgewesen, »in pointierter Form ein möglichst komplexes und überzeugendes Bild der Persönlichkeit Karl Mays zu entwickeln, das all ihren verschiedenen und widersprüchlichen Facetten gerecht wird und auch das literarische Werk ausführlich einbezieht.«

 

Im finsteren Ardistan

 

Karl May gehört sicherlich zu den sonderbarsten Erscheinungen der deutschen Literatur, was sich auch in Schmiedts Biografie wiederspiegelt. Dies zeigt sich bereits in der Einleitung, die auf die Eigentümlichkeiten von Mays 1910 erschienenen Autobiografie Mein Leben und Streben hinweist, in der vom Märchen von Sitara, einem Stern, die Rede ist, der aus zwei großen Teilen, dem grausamen Ardistan und dem paradiesischen Dschinnistan bestehe. Und er, Karl May, sei sinnbildlich in Ardistan geboren, und habe sich im Laufe seines Lebens auf den Weg nach Dschinnistan gemacht. Schmiedt sieht in dieser autobiografischen Darstellung eine Anlehnung Mays an die ein Jahrhundert vorher veröffentlichte Selbstdarstellung des Weimarer Goethe-Klassikers Dichtung und Wahrheit.

Karl Mays Ardistan ist die Realität des erzgebirgischen Ernstthal, in das der Sohn eines Webers am 25. Februar 1842 hineingeboren wird. May entstammt einem Modellkosmos des sozialen Elends, das von Hunger und Krankheiten geprägt ist. Schmiedt weist in diesem Zusammenhang auf Mays Strategie einer Schwarz-Weiß-Malerei hin, die u.a. den Vater als Tyrannen und die Mutter als überirdische Persönlichkeit skizziert. Überhaupt zeige Karl May bei seinen Schilderungen fast durchgängig einen Hang zum Extremen. Hierzu gehört auch der Versuch eines Ausbruchs aus dem sozialen Elend.

Helmut Schmiedt liest eine entsprechende Passage vor, in der es heißt:

„Ende 1855/Anfang 1865 will May heimlich das Elternhaus verlassen haben, um nach Spanien zu wandern und dort bei einem der edlen Räuber, von denen er in den Romanen der Leihbibliothek gelesen hatte, Hilfe für die notleidende Familie zu erbitten; der Ausflug soll einen Tag gedauert und bei Verwandten in der Nähe von Zwickau geendet haben. Mag der Wirklichkeitsgehalt dieser Episode auch fraglich sein, so verweist sie doch auf ein Verhalten, das künftig immer wieder zutage tritt: Erstmals überwuchert die Phantasie den Realitätsbezug mit handfesten Konsequenzen für das Alltagsleben; May antwortet auf eine de facto vorhandene Misere mit dem Versuch, zu ihrer Lösung die Tröstungen der Phantasiewelt heranzuziehen.“

 

Vom Seminaristen zum Zuchthäusler

 

Im Folgenden schildert Schmiedts Buch Karl Mays Versuch, mit Hilfe einer Ausbildung zum Volksschullehrer seinem Ardistan zu entfliehen. Das evangelische Seminar in Waldenburg wird ab 1856 seine Wahlheimstätte; ein Ort, der keine romantischen Phantasien aufkommen lässt, sondern kasernenhafte Einengung und Disziplinierung ausübt.

Der Aufenthalt endet in einem Desaster, da der junge May des Diebstahls von sechs Kerzen beschuldigt wird. Er wird von der Anstalt verwiesen. Das Unglück lässt sich zum Glück korrigieren, da dem man die Fortsetzung der Lehrerausbildung in Plauen zulässt.

„In die Plauener Zeit fällt ein“, so Schmiedt, „aus heutiger Sicht nahezu komisch anmutendes, für die Betroffenen aber extrem peinliches Ereignis, das die Forschung unter dem Stichwort ‚Onanie-Affäre’ rubriziert.“

Das  Buch führt dem heutigen Leser die Absurdität der damals vorherrschenden moralischen, wie medizinischen Auffassung vor Augen.

Im September 1861 besteht May die mehrtägige Abschlussprüfung. Die daran anschließende bürgerliche Berufslaufbahn als Lehrer an einer Armenschule in Glauchau endet letztlich in einer persönlichen Katastrophe, da May des Diebstahls einer Taschenuhr beschuldigt wird. Die Verurteilung zu einer sechswöchigen Gefängnisstrafe, verbüßt vom 8. September bis 20. Oktober 1862, ist die Folge. Noch schlimmer als die Gefängnisstrafe wirkt die Streichung aus der Liste der Schulamtskandidaten, was einem Berufsverbot gleichkommt.

Schmiedt geht den Gründen für Mays Scheitern im bürgerlichen Beruf nach und erläutert dem Leser die verschiedenen Faktoren. Dabei gelangt er zu dem Schluss:

„Ganz offensichtlich passen die Person Karl May und das Leben in fest vorgegebenen, streng ritualisierten Regeln und Routinen, das sich mit seiner Ausbildung und Berufstätigkeit verbinden müsste, objektiv nicht zueinander. Damit fügt sich May auf seine Weise in eine lange Reihe deutscher Schriftsteller ein, denen es ähnlich erging, und Thomas Mann – der aus eigener Erfahrung wusste, wovon er sprach – erkennt in diesem Zusammenhang sogar ein Grundgesetz: „Ein Dichter ist, kurz gesagt, ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter [...] Kumpel.“

Was nun folgt, enthüllt die schöpferische Begabung dieses „Kumpels“ aus Ernstthal:

„Karl May setzt dem perspektivlosen Dasein, in das ihn die Entlassung aus dem Schuldienst gestürzt hat, Episoden eines Schelmenromans entgegen, der kurzerhand in die Lebenspraxis übertragen wird,“ schreibt Schmiedt und leitet zu den Hochstapeleien und Diebstählen in Mays Vita über. Der gescheiterte und vorbestrafte Ex-Lehrer schlüpft in die verschiedensten Rollen als Arzt oder Polizist, um sich Geld oder Pelzwaren aushändigen zu lassen, er stiehlt auch einmal ein Pferd oder steckt sich einfach nur Billardbälle ein. Zwei mehrjährige Inhaftierungen im Arbeitshaus Schloss Osterstein bei Zwickau und im berüchtigten Zuchthaus Waldheim sind die Folge.

Das Buch schildert diese prägende Lebensphase des späteren Erfolgsschriftstellers, die immerhin von 1862 bis 1874 währte, recht kurz. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass der Autor nun einmal Germanist und kein Jurist ist. Der Karl-May-Forscherkollege Strafrechtsprofessor Dr. Claus Roxin hätte diese „juristischen“ Abschnitte vermutlich umfangreicher gestaltet. Wie auch immer: Die Informationen sind gut und pointiert vorgetragen, weshalb in der dargestellten Kürze durchaus auch die von den meisten Lesern einer Biografie gewünschte Würze zu finden ist.

 

Resozialisierung als Schriftsteller

 

Als Karl May am 2. Mai 1874 aus dem Zuchthaus Waldheim wieder in die Freiheit entlassen wird, scheinen die weiteren Lebensperspektiven von den äußeren Faktoren her betrachtet eigentlich düster. Und doch gelingt ihm eine spektakuläre Wende, eine umfassende Resozialisierung wie aus dem Lehrbuch.

May hatte bereits während seiner Inhaftierungen sein literarisches Talent entdeckt und über die Eltern Kontakt zu Verlegern, wie den Dresdner Kolportageverleger Heinrich Gotthold Münchmeyer, aufgebaut. Entscheidend ist jedoch der innere Wandel; die – wie es Helmut Schmiedt nennt – „Entmischung“ von kreativem Talent und Alltagsanforderungen, wie es May vor allem in der Zeit als krimineller Hochstapler noch nicht vermocht hatte:

„May hebt die Gleichsetzung von Leben und Roman, von Alltagsdasein und literarischer Produktivität auf, er trennt die bürgerliche Existenz vom Reich der ausufernden Inszenierungen und verwandelt sich zum Schriftsteller im wörtlichen Sinne. Person und Geschriebenes treten auseinander; die Phantasie wird von nun an vorrangig zugunsten literarischer Erzeugnisse genutzt und steuert nicht mehr die Abläufe des empirischen Lebens. Das Geheimnis der erfolgreichen Resozialisierung Karl Mays besteht letztlich aus der praktischen Umsetzung einer recht banalen Erkenntnis: dass ein zum Schriftsteller prädestinierter Mensch gut daran tut, seine literarischen Kompetenzen nicht im profanen Alltag, sondern schreibend unter Beweis zu stellen,“ beschreibt die Biografie.

Dieser Beweis fällt in den kommenden Jahrzehnten überaus erfolgreich aus. Münchmeyer stellt ihn als Redakteur mehrerer Familienzeitschriften ein und andere Verlage nehmen gerne Mays erste Novellen zur Veröffentlichung an. Auch von einem Apachenhäuptling Winnetou ist in dieser Zeit schon die Rede. Er erscheint 1875 in der Erzählung Old Firehand, in der des Deutschen liebster Indianer allerdings mehr skalpiert als einem lieb sein mag. Von der Schilderung eines edlen Winnetous ist Karl May zu diesem Zeitpunkt noch ein gehöriges Stück entfernt.

Helmut Schmiedt schildert einfühlsam die Verstrickung des aufstrebenden Schriftstellers in die Mühle eines Kolportagerverlagsbetriebes. Dort ist man sehr an einer Einheiratung des begabten Mitarbeiters in den Verlegerclan interessiert. In jenen Tagen taucht jedoch Emma Pollmer auf, ein junges Mädchen aus seiner Heimatstadt, die 1880 Karl Mays erste Ehefrau werden und von der er eines späteren Tages nur noch als Dämon sprechen wird.

 

Der literarische Aufstieg

 

In den 1880er Jahren explodiert Mays literarische Produktivität geradezu. Er ist nun kein fest angestellter Redakteur mehr, sondern freier Schriftsteller.

Es sind vor allem drei Publikationsorte, die Karl Mays unerschöpflich scheinende Phantasieprodukte publizieren; die katholische Familienzeitschrift „Deutsche Hausschatz“ in Regensburg, der Münchmeyer-Verlag und die Jugendzeitschrift „Der gute Kamerad“ von Wilhelm Spemann in Stuttgart. Allen drei liefert Karl May zum Teil umfangreiche Abenteuererzählungen, die in so gut wie allen Teilen der Welt spielen, vorrangig allerdings im Wilden Westen Nordamerikas und im Orient.

Zu den denkwürdigsten ersten Zeilen eines Karl-May-Romans, wie in der Literatur überhaupt gehört sicherlich der Auftakt von Giölgeda padiśhanün, später bekannt als Durch die Wüste, Durchs wilde Kurdistan, Von Bagdad nach Stambul usw.: 

 

Und es ist wirklich wahr, Sihdi, daß Du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?

 

Es ist Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, der treue Diener und Freund Kara Ben Nemsis, der diese Worte spricht und den Ruhm seines Schöpfers mitbegründet. Von Januar 1881 an veröffentlicht Karl May u.a. die Reiseerlebnisse dieser beiden Helden im „Deutschen Hausschatz“. Die Zusammenarbeit währt bis 1897 und dann noch einmal 1907/08.

Parallel hierzu gelingt es Münchmeyer, seinen früheren Redakteur zur Abfassung von fünf voluminösen Fortsetzungsromanen zu überreden. Sie erscheinen meist pseudonym und tragen Titel wie Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft. Das gewaltig ausschweifende Werk erstreckt sich über 109 Hefte und erreicht 2612 großformatige Seiten. In ähnlicher Weise produziert May die vier anderen Werke dieser Art.

Im „Guten Kameraden“, hier erscheint ab Januar 1887 die erste Erzählung Der Sohn des Bärenjägers, publiziert Karl May ausgesprochene Jugenderzählungen, die zum Sujet- und Figurenkosmos seiner Hausschatzerzählungen gehören, sich in mehreren Punkten jedoch von diesen unterscheiden. So schreibt May die Kamerad-Erzählungen nicht in der Ich-Form und feilt zum anderen besonders an den pädagogischen Aspekten für die Leserschaft, die vor allem aus der männlichen Gymnasialjugend besteht.

In dieser Lebens- und Arbeitsphase deutet sich schon an, was in den 90er Jahren eine verblüffende Steigerung erfahren wird: Schmiedt zeigt auf, dass die zeitgenössische Leserschaft des „Hausschatz“ und des „Kameraden“ Karl Mays vermeintliche Reiseerinnerungen als vorzügliche und zuverlässige authentische Erzählungen eines Vielreisenden wahrnimmt. Unterstützt wird diese Suggestion noch durch Mays geschickten Schachzug, reale Personen und Ereignisse in seine Romane einzubauen. Schmiedt zeigt auf, dass der Schriftsteller zudem religions- und kulturgeschichtliche Abhandlungen, Reiseberichte, Landkarten, Wörterbücher, Zeitungsartikel und vor allem Konversationslexika heranzieht, ebenso einschlägige Schilderungen der älteren Abenteuerliteratur. „May nutzt die diversen Quellen dabei auf die unterschiedlichste Art: Mal übernimmt er Passagen des Vorgefundenen wörtlich, mal paraphrasiert er, mal geht es um Kleinigkeiten, mal um größere Sachverhalte.“

 

Die „Old Shatterhand-Legende“

 

Karl Mays Fähigkeit der authentischen Schilderung führt zu einer bizarren Entwicklung, in deren Verlauf May schließlich öffentlich behauptet, „er schreibe nicht nur auf der Basis tatsächlich durchgeführter Reisen, sondern sei im buchstäblichen Sinne identisch mit dem Ich seiner abenteuerlichen Erzählungen und schildere reale Vorkommnisse und tatsächlich erbrachter Leistungen.“

 

Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi behauptet Karl May in privaten Briefen und öffentlichen Vorträgen. Er lässt Kostümfotos von sich in Trapperkleidung und arabischer Tracht anfertigen, die er an Verehrer versendet; er nennt sein 1895 im Dresdener Villenvorort Radebeul errichtetes Wohnhaus Villa „Shatterhand“ und lässt auch in seinem Werk keinen Zweifel mehr aufkommen, dass die Reiseerzählungen tatsächlich Erlebtes ihres Verfassers wiedergeben.

Schmiedt geht den persönlichen und zeitgenössischen Gründen für die scheinbar übertriebene und im Grunde lächerliche Selbstinszenierung Karl Mays nach. Er zeigt ein vergleichbares Verhalten bei anderen Künstlern wie Franz von Lenbach aber auch bei Kaiser Wilhelm I. auf, was letztlich dem Wunsch entsprechen würde „demonstrativ zur Schau gestelltes Wissen und Können bezüglich aller möglichen Themen und Sachverhalte“ nach außen hin dokumentieren zu wollen.

Nicht zu unterschätzen sei in diesem Zusammenhang auch Mays Gespür für Marketing in eigener Sache. Nicht von ungefähr gebe es auch den Begriff vom Popstar Karl May. Entsprechend nennt Helmut Schmidt ein Kapitel seines Buches auch: „Ein Markenartikel namens May“. Allerdings kämen bei May in diesem Zusammenhang zusätzlich irrationale und pathologische Faktoren ins Spiel“.

 

Zwischen Ruhm und Feindschaft

 

Karl Mays literarischer Aufstieg in den 90er Jahre wird vor allem auch durch die Buchausgabe seiner verstreut veröffentlichten Werke in der Reihe seiner Gesammelten Reiseromane gefördert. Es ist der Freiburger Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld, der das richtige geschäftliche Gespür besitzt und ab 1892 mit der Herausgabe beginnt. Der Erfolg ist außerordentlich und macht May zu einem der berühmtesten Schriftsteller seiner Zeit. Und zu einem wohlhabenen Mann. Die Bucheinnahmen ermöglichen ihm 1899/1900 eine große Orientreise und 1908 seine erste Fahrt nach Amerika. 1902 scheitert jedoch seine Ehe mit Emma Pollmer. Die neue Frau an seiner Seite wird Klara Plöhn, die Witwe seines besten Freundes. Schmiedt schildert die Ereignisse der „chronique scandaleuse um Karl, Klara und Emma“, die sich zu „einer penetranten Fortsetzungsgeschichte entwickelt“ und die auch Teil einer Pressekampagne wird, die nach 1900 über Karl May in einer Form und in einem Ausmaß hereinbricht, wie es sie bis dato in der deutschen Literaturgeschichte nicht gegeben hat. Eine Schar unterschiedlichster Kritiker, zumeist Journalisten und Redakteure, werfen Karl May vor, Unsittliches geschrieben zu haben, ein Plagiator zu sein und ansonsten die Jugend mit blutrünstigen Geschichten zu verderben. Andere demontieren höhnisch die „Old Shatterhand-Legende“ oder graben – wie der Sensationsjournalist Rudolf Lebius – seine Vorstrafen aus, um ihn zu erpressen oder – als das nicht gelingt – zu bekämpfen.

Schmiedt zeigt die einzelnen Attacken auf. Er sieht May jedoch nicht als ausschließlich „bedauernswertes Opfer einer hässlichen Kampagne [...], weil er sich energisch zu wehren vermag: mit umfangreichen Gegenmaßnahmen, die dubiose Unternehmungen einschließen.“ Außerdem erblickt der Autor in Mays Verhalten wieder dessen „Neigung, in Schwarz-Weiß-Kategorien zu denken“, was „oft die Möglichkeit zu flexibleren Reaktionen (versperrt).“

Dabei „drängt sich der Eindruck auf, May lege es geradezu darauf an, die Konflikte um seine Person in Bewegung zu halten.“ Das Resultat dieser Haltung ist, dass der Schriftsteller von Gerichtstermin zu Gerichtstermin reist. Die Prozesse zehren außerdem seine Gesundheit auf.       

Trotz dieser privaten Widrigkeiten gelingt May literarisch mit seinem Alterswerk (Ardistan und Dschinnistan, Und Friede auf Erden!, Im Reiche des silbernen Löwen III/IV, Winnetou IV) die Umsetzung eines neuen Konzepts, wozu die Vermittlung jener „Ideale der Humanität und der friedlichen, unter religiösen – aber nicht engstirnig-konfessionellen – Vorzeichen betriebenen Regelung von Konflikten“ gehört, die er „seit einigen Jahren mit großer Vehemenz vertritt.“

Schmiedt geht noch auf zwei „exponierte Ereignisse“ in Mays Leben ein; zum einen den juristischen Triumph über Rudolf Lebius vor dem Landgericht Berlin-Moabit und zum anderen auf den letzten öffentlichen Auftritt des Schriftstellers in Wien am 22. März 1912. Hier hält May im Sofiensaal den viel beachteten Vortrag Empor ins Reich der Edelmenschen.

Karl May stirbt am 30. März 1912 in seiner Radebeuler Villa an den Folgen einer fiebrigen Erkältung.

 

Karl Mays Nachleben

 

In seinem Schlusskapitel widmet sich Helmut Schmiedt vor allem der vielfältigen und bunten Wirkungsgeschichte. Er rekapituliert die Umstände, die zur Gründung des Karl-May-Verlages führten und geht dabei auf die oftmals von der wissenschaftlichen Seite gerügten Bearbeitungspraxis des Verlegers Euchar Albrecht Schmid und seiner Mitarbeiter ein. Er konstatiert:

„Es gibt indes ein schlagendes Argument, mit dem der Karl-May-Verlag seine Strategie rechtfertigen kann: der gigantische Erfolg, der ihr beschieden war.“

Der Verlag habe bis heute etwa 100 Millionen Karl-May-Bücher verkauft.

Schmiedt geht ebenso auf die in den 1960er Jahren erfolgreichen Karl-May-Filme, wie auch Arno Schmidts folgenreiches Buch Sitara und der Weg dorthin und die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft ein.

„In der Summe bestätigt Karl Mays Rezeptionsgeschichte“, so der Autor, „den Extremismus seines Lebens, groteske Komponenten inbegriffen.“

Zu den erwähnten grotesken Komponenten gehöre auch eine kurze Erzählung des Beatles John Lennon unter dem Titel Die berühmten Fünf vom Nuggetberg mit Figuren aus Mays Romankosmos wie Winnetou, Halef und Rih. In Lennons englischem Original kommen diese Figuren jedoch allesamt nicht vor, sondern wurden offenkundig vom deutschen Übersetzer für das deutsche Leser- und Fanpublikum in den Text „geschmuggelt“.

Und so „steht nun der Name John Lennon als der des Autors über dem Text zu einem Schriftsteller, von dem er vermutlich – was einem Engländer zu verzeihen ist – nie etwas gehört hat.“

 

Wolfenbüttel, 5.10.2011, 21:30 Uhr

 

Und damit endet die Lesung aus einem auch die anwesenden May-Kenner überzeugenden Buch.
Aus dem Publikum werden nun noch Fragen gestellt zu Arno Schmidts Bedeutung für die wissenschaftliche Beschäftigung Karl Mays und danach, was es denn mit dem Buch Winnetou IV auf sich habe. Helmut Schmiedt weiß Antwort. Das Fazit der Anwesenden lautet einhellig, dass die neue Karl-May-Biografie durch seine sachliche Tiefe und den brillanten sprachlichen Stil seines Verfassers überzeugt. Positiv fällt vor allem die ruhige „Tonlage“ auf, mit der die Skandale und Skurrilitäten im Leben Karl Mays dem Leser nahegebracht werden. Auch ausufernde wissenschaftliche Erläuterungen, wie man sie von anderen Biografien her oftmals kennt, liegen dem Autor fern.
Karl May oder Die Macht der Phantasie ist eine spannende und unterhaltsame Reise durch das faszinierende Leben eines „einmaligen Schriftstellerlebens“ – wie der Klappentext zutreffend ankündigt. Es „erhellt auch das bewegte Nachleben dieses »Meisters der Illusionen«“, das vorbehaltlos empfohlen werden kann.
 
















Helmut Schmiedt
Karl May
oder Die Macht der Phantasie
Eine Biographie
C.H. Beck Verlag
Gebunden, 368 S.: mit 29 Abbildungen
2011 Verlag C.H.Beck
ISBN 978-3-406-62116-1
Auch als E-Book
22,95 €

Leseprobe



Siehe auch unseren Beitrag:

Foto: Erwin Raupp, 1907
Karl Mays Inferno
Von Jürgen Seul
Artikel lesen
Das denkwürdige Interview von Egon Erwin Kisch mit Karl May am 9. Mai 1910, in der Villa Shatterhand zu Radebeul bei Dresden.

 


 


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