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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Artikel online seit 19.01.13

Eine Schatztruhe

»Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt«.
Christoph Ransmayrs wunderbarer »Altas eines ängstlichen Mannes«.


Von
Lothar Struck



 

Nur einmal war die kleine Gruppe erlebnishungriger Arktiswanderer um die Inseln des Franz-Joseph-Landes jenen gefürchteten Polarbären auf ihren Ausflügen begegnet. Genauer: einer Bärin mit ihren zwei Jungen. Der Erzähler gerät ins Schwärmen: Was für ein Anblick, als sie gefolgt von ihren Jungen in gemächlichem Lauf hinter einer etwa fünfzig Meter entfernten Eisklippe auftauchte und augenblicklich stehenblieb. Erst allmählich, die Witterung Segment für Segment eines unsichtbaren Kreises mit einer fast graziösen Bewegung ihrer Schnauze prüfend, wandte sie sich uns zu. Wer denkt in diesem Moment an das im Rucksack verstaute Pfefferspray? Wer bringt es fertig, das Jagdgewehr in Anschlag zu bringen, im sicheren Wissen mit dem Tod der Bärin, der ja keineswegs sicher ist, die beiden Jungen ihrem Schicksal auszuliefern?

Noch ist nichts passiert. Der Erzähler erinnert sich seiner Romanschilderungen von Bärenjagden, die bisher nur durch Recherche und Theorie gespeist waren, während langsam die Angst hervorkriecht. Aber bei meinen Nachforschungen war nie davon die Rede gewesen, daß ein Mensch in den Augenblicken seiner Angst auch leicht werden konnte, federleicht, so unglaublich leicht, daß die nächste Brise ihn vor die Pranken und Fangzähne eines Raubtiers wehen oder ihn hochwirbeln konnte wie Laub oder Seidenpapier und so in etwas verwandeln, das bloß aus der Luft gepflückt oder mit einem spielerischen Prankenhieb aus einem richtungslosen, taumelnden Flug geschlagen zu werden brauchte. Ich schwebte.

Es ist dieses Schweben das im Titel von Christoph Ransmayrs Erzählungsband "Atlas eines ängstlichen Mannes" anklingt und in der Begegnung mit der Eisbärin in der Arktis am deutlichsten manifest wird. Ein ähnliches Gefühl beschleicht ihn bei der Betrachtung eines liebestollen Bullen in einer Elefantenherde an der Ostküste Sri Lankas. Es ist die "Stille Nacht" - in mehrfacher Hinsicht: Die tamilischen Separatisten feuerten nicht mehr, in Europa feierte man Weihnachten und hier betrachtete der Erzähler mit anderen, auch Kindern, fasziniert und durchaus respektvoll dieses Daherziehen. Die "Stille" wird herbeibeschworen, schon das Kichern der Kinder ob des pendelnden Penis des Elefanten kann zuviel sein, könnte einen Angriff des Bullen provozieren. Und so holt dann Ransmayr sein rotes Zaubertuch hervor und bannt die Blicke. Ich hatte meinem kindlichen Publikum diesen Zauber bereits vor unserem gemeinsamen Aufbruch zum Elefantensee zu seinem größten Vergnügen wiederholt vorgeführt und wurde jetzt schon für das bloße Zeichen, das Seidentuch noch einmal verschwinden und wieder erscheinen zu lassen, mit plötzlicher Stille belohnt. Und der Liebestolle hob seinen Schädel, und ich war überzeugt, daß er in unsere Richtung sah, daß er unsere Augen, unsere regen- und schweißnassen Gesichter im Dickicht glänzen sah. Aber es geschieht nichts. Das Schweben wird hier nicht ausgesprochen und doch ist es präsent.

In vielen dieser siebzig Geschichten eines Weltreisenden ist dieses Schweben gegenwärtig, manchmal nur wie ein dünner Faden in einem kostbaren Stoff eingewebt. Es ist ein Schweben, dessen sich der Weltenwanderer, oder -schauer, immer wieder vergegenwärtigen muss, etwas, das womöglich erforderlich, ja lebensnotwendig ist, um jene Sensorik zu entwickeln, die den allzu schnellen, stieren, mitleidlosen Blick des gewöhnlichen Durchreisenden überwindet. Angst isst hier nicht die Seele auf, sondern öffnet; nur scheinbar ein Paradoxon.

Es wäre falsch, wollte man Ransmayrs Buch als luftig und leicht bezeichnen. Aber gerade in der zuweilen obsessiven Genauigkeit des Erzählens eines Augenblicks, der dann zum Kipp-Moment wird und dann die Erzählung oft boccacciohaft zur Novelle macht (obwohl sie meist nur wenige Seiten lang ist), liegt das Wunderbare dieser Prosa. Hier schreibt kein "Globetrotter" und das längst exzentrisch daherkommende Reisen Anderer, die ihr Erlebtes mit dem Parfüm des Exotischen bestäuben, hat ein Erzähler wie Ransmayr natürlich nicht im Sinn.

Dabei ist der Ort der Erzählung durchaus von Relevanz; er ist nicht nur Kulisse. Die Umkurvung, dieser groteske Tanz eines kleinen Hundes mit einem vom Baum gestürzten Dreifinger-Faultier, welches sich unverhofft und überrascht auf dem Boden wiederfindet und sich noch langsamer bewegt als auf seinem Baum, bekommt erst durch die in wenigen Strichen skizzierte Beschreibung eines arg baufälligen Hauses an der Küste von Costa Rica seine Verortung. Und in Berlin ist es schon ziemlich außergewöhnlich, wenn dort ein Mann in der Schlange für eine Reichstagsführung steht, der barfuß ist – und sich natürlich sofort die Frage stellt, ob "so jemand" überhaupt Einlass bekommen darf. Und auch die Konfrontation mit tonnenschwere[n ]Gefäße[n] aus Sandstein und Granit, Relikte einer versunkenen Kultur, in Verbindung mit den allgegenwärtigen Bomben und Minen aus einem Krieg von vor 40 Jahren ist womöglich nur am laotischen Mekong möglich (und dann wird noch die Lebensgeschichte des Bootsmanns erzählt).

»Geschichten werden erzählt«

In einem kurzen, einseitigen Vorwort bestätigt Christoph Ransmayr, dass er alle in den Erzählungen genannten Orte besucht hat. Es gibt nur eine Ausnahme: Ein Ort, so "gesteht" er, kenne er nur durch die Beschreibungen seiner Frau. Von nun an wird der Leser immer wieder überlegen, welcher Ort dies wohl sein dürfte. Aber noch aus einem anderen Grund ist diese kleine Einleitung interessant: Sie beginnt mit dem Satz Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt. Dies ist eine wohl gesetzte, programmatische Erklärung des Autors. Der einheitliche Beginn der Erzählungen mit einem trotzig-numinosen Ich sah suggeriert sofort das, was die moderne Literaturkritik als "Authentizität" und "Realismus" beschreibt (und zumeist geradezu apodiktisch fordert). Damit wird vordergründig der Ich-Erzähler, der im Verlauf des Buches nicht ernsthaft vom Autor getrennt wird, zum Bezeugenden seines eigenen Erlebnisses. Aber durch den ersten Satz seines Vorworts bricht Ransmayr diese Lesart sofort wieder. Das erste Bild, das Ich sah, ist noch der Wirklichkeit abgeschaut – aber das folgende ist Assoziation, Montage, Traum, also Fiktion. Die Bilder zu Beginn werden zu Impulsgebern für eine Erzählung.

Wie etwa die Wanderung im bolivianischen Hochland. Man sieht diese kleine Gesellschaft förmlich vor sich, keuchend in der dünnen Luft, einem Hang entlang gehend, als plötzlich Jagdflugzeuge am Horizont auftauchen. Kurz vorher hatte sich ein gewisser General García Meza brutal an die Macht geputscht (es ist also im Juli 1980). Die Flugzeuge kamen immer näher, flogen fast auf Augenhöhe vorüber, so dass tatsächlich die behelmten Köpfe der Piloten zu sehen waren. Und plötzlich streckte Tiziana…diesen brüllenden Maschinen ihren Arm entgegen, ballte die Faust und schrie den Jägern wütend 'No pasarán!' zu, ein Schlachtruf der Linken aus dem spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten. Die Gruppe war noch belustigt über diesen Vorgang, als plötzlich aus dem bereits weit entfernt scheinenden Flugverbund eine Maschine ausscherte und auf die Gruppe zukam. Das Unglaubliche geschah: Aus dem Flugzeug wurde auf die Wanderer geschossen. Panik, legt euch hin-Rufe,  und da lag dann der Erzähler auf dem Boden und sah plötzlich wie sich aus einem dürren, fingerhohen Grasbüschel dicht vor meinen Augen ein Käfer hervorkämpfte. Und schon tritt alles in den Hintergrund: die schwere Wanderung, die Empörung, der bedrohliche Angriff, die umherpfeifenden Kugeln: der Flugversuch eines Käfers ist plötzlich der wichtigsten Akt auf dieser Welt. Der Grasfleck wird Zuflucht, zum rettenden Versteck, erscheint als Urwald. Evokation der Kindheit just in dem Moment, wenn das Leben bedroht scheint? Der fast glücklich schwelgende Erzähler musste wieder in die Gegenwart zurückgeholt werden als der Flieger sich wieder entfernt hatte. Was für eine Geschichte.

Hat man dieses nur selten veränderte Prinzip der Erzählungen verstanden, erübrigt sich fast das detektivische Destillieren von historischen Bezügen, die in einzelnen Geschichten hervorlugen, um etwas über den Zeitpunkt der Reise zu erfahren. Ansätze dazu gibt es durchaus. So ist der Erzähler im Juni 2001 in Nepal, als König Birendra und ein Großteil seiner Familie ermordet wurden und zwei Wochen später sogar in der immer noch schockierten Hauptstadt Kathmandu (das eigentliche "Ereignis" ist dann aber etwas anderes). Länger zurück liegen die Eindrücke aus Neu Delhi aus den Tagen vor der geplanten Hinrichtung der Mörder von Indira Gandhi (im Januar 1989). Und zur Zeit des Ruzkoi-Putsches 1993 war er in Moskau und bekam den balsamierten Leichnam Lenins in einer Art Exklusivführung zu sehen.

Faszination und Furcht

Aber es gibt nicht nur die politischen und sozialen Instabilitäten, die immer wieder eingearbeitet werden. So ist Ransmayr gebannt, Zeichen versunkener Kulturen zu finden und zu deuten. Wie die Moais der Osterinseln mit ihren Obsidianaugen. Oder dreitausend Jahre alte Grabhügel in der marokkanischen Sahara, errichtet von einem Wüstenvolk, dessen Name die Zeiten nicht überdauert hatte. Und eine Mischung zwischen Faszination und Furcht bemerkt man auch wenn von Naturkatastrophen und deren Unausweichlichkeit erzählt wird. So ist er im Süden Sri Lankas unterwegs und sieht die Spuren des Tsunami von 2005. Hier zeigt sich, dass Ransmayr keine Reportagen schreibt, sondern Erzählungen, weil er immer wieder einen, manchmal auch zwei Schritte weitergeht. Er lässt er sich auf Genaueste erzählen, wie der Tsunami zunächst das Wasser zum Strand hin bis auf den Grund ausgesaugt hatte und in welcher Arglosigkeit einige Bewohner nun die zappelnden Fische und Meerestiere aufsammelten. Kinder trieben Bälle und Reifen über dieses glänzende, weiche, nie gesehene Land – und dies geschah ohne zu berücksichtigen, dass in rasender Geschwindigkeit etwas Dunkles, eine turmhohe Wasserwand… mit sechshundert Stundenkilometern auf das Land zurückraste. So wie Ransmayr das hier erzählt hat man das noch nie gelesen.

Mindestens einmal war er direkter Beteiligter einer Naturkatastrophe und das ist eine der  schönsten und eindringlichsten Geschichten. Ransmayr ist im Taygetos-Gebirge in Griechenland unterwegs und mit dem Fahrrad an einem schönen Abend auf dem Weg zu einer Taverne. Plötzlich kommt er mit seinem Motorrad ins Schleudern. Als er nachschaut, bemerkt er keinen Defekt, auch die Reifen sind heil geblieben. Er fährt schließlich weiter, allerdings mit einem Gefühl des Unbehagens. Plötzlich wird ihm klar, warum: Die ungebrochene Schwärze des Nachthimmels ist es, die so ungewöhnlich ist. Und dann bemerkt er, dass diese Schwärze nur den Ausfall des Stroms der im Tal befindlichen Stadt Kalamata derart kontrastiert. Ein akribischer Sternengucker ist Ransmayr ja auch (wie sich in mehreren Geschichten zeigt) und so mischt sich die Faszination der schlagartig neuen Sichtmöglichkeiten mit dem Unbehagen der vollständig dunklen Stadt (ein Erlebnis, dass in einigen anderen Erzählungen immer mal wieder einfließt: wie ein Stromausfall im fast wörtlichen Sinne die Dinge anders beleuchtet). Als er dann ankommt, bemerkt er, dass der Fernseher der Taverne mit einem Stromgenerator betrieben wird. Die Leute sitzen davor: Es hat ein Erdbeben gegeben; das Wegrutschen mit dem Motorrad war der Erdstoß, den der Erzähler auf diese Art bemerkt hatte. Das muss also im Jahr 1986 gewesen sein (wieder dieses Festhalten an historischen Bezügen; man sehe es mir nach).

Oft gelingen eindrucksvolle, dichte und auch gleichzeitig verstörende Stimmungsbilder: Der Vogelforscher auf der chinesischen Mauer (ein Mauerschauer?); der einzelne, vergebliche Gnadenruf aus dem Publikum für einen Stier bei einem Stierkampf in Sevilla; die merkwürdige Geschichte vom schlafenden Mann an einem See und den Insekten; das brutale Überfahren einer Riesenschlange in Mexiko (welche Empathie für das Tier!); der Zikadengesang in Yokohama, der plötzlich den Verkehrslärm überdecken kann; der Ausflug mit dem Sammeltaxi im Jemen; der verendende Waran in Indonesien; der schreiende Irre in Steinhof. Und, und, und.

Pitcairn und Österreich

Jetzt ist es keinesfalls so, dass je abseitiger ein Zielort ist, desto ergreifender die Erzählung ausfällt. Deutlich wird dies an der längsten Geschichte im Buch über einen Besuch auf den Pitcairn-Inseln. In dem Ransmayr sich verpflichtet fühlt, den Leser über die Geschichte der damals 67 Einwohner am Ende der Welt aufzuklären (die Bewohner sind Nachkommen einer Gruppe der Meuterer der "Bounty" und der von ihnen versklavten Frauen) und die Hintergründe zu den Prozessen um die zahlreichen Kindesmissbrauch-Anklagen auf der Insel auszuführen, geraten die Impressionen in den Hintergrund. Tatsächlich wird dann die sich vom verwilderten Tennisplatz von Adamstown losgerisse Ziege zum Symbol für das Leben auf der Insel. Die Peripetie unterbleibt, an ihre Stelle tritt die Metapher. Dabei ist es ansonsten eine Stärke des Ransmayrschen Erzählens, dass sich diese nicht über Gebühr breitmacht, sondern, allenfalls, beim Leser anklopft.

Neunmal ist Österreich, Ransmayrs Heimat, Schauplatz, nein: Gegenstand einer Geschichte. Und mindestens dreimal sind es sehr persönliche, fast intime Momente, die hier erzählt, wieder-holt werden. Da ist der Sekundentod eines alten Mannes an einer Bushaltestelle. Oder das Abdecken des Dachstuhls durch einen Sturm - und die "Schätze" der Kindheit, in der Dachschräge verstaut, sind perdu. Und schließlich der Spazierweg von Ransmayrs (verstorbener) erster Frau. Beeindruckend auch die Geschichte einer Entzauberung der Freude auf einen Festtag, die sich von einer Sekunde auf der anderen ereignet (und nicht nur rekapituliert wird).   

Vereinzelt hört man seltsame Kritiken zu diesem Buch. Da habe man den Autor wohl zu einem neuen Buch "überreden" müssen und alles verfügbare aufgenommen. So nölte Sigrid Löffler in der "Bestenliste"-Rundfunksendung mit leicht gespreizter Langeweile. Was für eine billige Kritikasterei. Das, was Ransmayr auch in den nicht so starken Erzählungen schafft, übertrifft so manches schreibschulgestylte Textlein in Potenz. Diese Herablassung, die sich die Kritik glaubt erlauben zu dürfen, ist noch nicht einmal dekadent. Es geht tiefer: Hier zeigt sich nicht mehr und nicht weniger als die tiefe Kränkung, irgendwann in den Orkus des Nichtigen gespült zu werden – während der Autor und sein Werk bleiben wird.

Richtig ist, dass ein schnelles Lesen dieser Geschichten nicht ratsam ist. Die unterschiedlichen Aromen der Erzählungen entfalten sich bei dosierter Lektüre intensiver. "Atlas eines ängstlichen Mannes" ist ein episches Reisekompendium, voller Esprit, fragil und wuchtig zugleich. Es ist, kurz gesagt, ein großartiges Buch. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

Christoph Ransmayr
Altas eines ängstlichen Mannes
S. FISCHER
464 Seiten, gebunden
24,99
ISBN 978-3-10-062951-7


Leseprobe

Interview mit Christoph Ransmayr


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