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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik |
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Als
würde Sisyphos einen Tamagotchi bergen Irgendwann, ziemlich früh, kommt einem das Bild von Dürers Kupferstich des hl. Hieronymus im Gehäus in den Sinn. Zumal wenn man später erfährt, dass die Abkürzung "hl." auch "höllisch" heißen könnte. Hier erzählt also die hl. (= höllische) Timea am Küchentisch – vielleicht einen Schneelöwen vor ihren Füßen (dem sie freilich keinen Dorn aus der Tatze gezogen hat, es sei denn man hat das irgendwo überlesen), Schrödingers Katze als "pet-sitting"-Gegenstand vis-à-vis und dem Weltatlas in 17 Bänden mit geographischen, politischen, historischen, tektonischen, geologischen, hydrologischen, meteorologischen, zoologischen, botanischen, statischen und dynamischen Karten aller Orte und aller Epochen im Regal. Timea ist Kryptogeographin. Ihrem Verständnis nach eine Naturwissenschaftlerin. Aber Kryptogeographen sind auch Brüder (oder Schwestern) der Schriftstellerei. Sie finden versteckte, verschlüsselte, verschüttete Dinge und formen diese merkwürdigen Singularitäten zu Universen und Multiversen. Und natürlich schreiben sie nicht einfach nur ein Buch – ihr Ziel ist DAS Buch - die Erfüllung des Auftrags und damit das Ende aller Unannehmlichkeiten. Dabei muss DAS Buch wie von selbst entstehen, unintentional; es darf nicht geplant werden. Es gibt keinen Sinn, keinen Plan, keinen Zweck, und schon gar nicht ist der Weg ein Ziel, wie die Binsenlüge suggeriert. Der Weg ist der Weg, das ist alles. Und wie so oft ist das Einfache das Schwierige.
Von den "Wahrheitchen"
Eine mögliche Deutung: Es handelt sich um das Eingeständnis der Vergeblichkeit des Wahrheitsanspruchs der Naturwissenschaften zu Gunsten des Literarischen. Die Objektivität sei, so liest die Erzählerin aus dem Taschenatlas des Kartographen Wigand, hässlich und gelogen. Das Streben danach habe dazu geführt, dass Phantasie und Demut keine Tugenden mehr seien. Vehement ist die Absage an die Verfechter der "Realität" (eine Fischreuse, die sie zuerst selber geknüpft hatten und in die sie sich dann freiwillig hineinwanden, bis sie nicht mehr mit den Flossen wackeln konnten). Hinweg mit dem Allerweltssatz "Das ist NUR eine Geschichte". Die Dichtung als neue Instanz. Den Kryptogeographen gehört die Zukunft – sie sind nicht an Raum und Zeit gebunden, springen flink durch die Jahrhunderte, ignorieren geschichtliche Zusammenhänge und setzen Kausalitäten spielend außer Gefecht. Und all das ohne erhobenen Zeigefinger oder moralinsaure Grundhaltung. Rossels Buch ist eine surreale Provokation oder, besser, Parodie auf unseren zeitgenössischen Wissenschaftsglauben wie weiland Cervantes mit seinem Don Quichote die sich an Ritterromanen delektierende Gesellschaft aufspießte. Timea ist mehr als nur eine Erzählerin – sie scheint mindestens zeitweise von der Autorin wenn nicht Besitz ergriffen, so doch eine kleine Stelle auf dem Küchenbänkchen neben ihr zu beanspruchen. Auch sie oszilliert gelegentlich zwischen Existenz und Nichts; hier ist die Parallele zu Schrödinger. Und einmal beschweren sich die Figuren sogar bei ihrer Autorin. Wer jetzt glaubt, dies sei ein wirres Durcheinandertal, irrt. Gekonnt gelingt es Rossel beispielsweise, die unterschiedlichen Temperamente ihrer Figuren mit einem adäquaten Erzählrhythmus zu synchronisieren. So wird die Geschichte des bedächtigen, fast autistisch in seinem Beruf agierenden Seefahrers und Entdeckers, dem Kartographen Wigand Behaim (man beachte den Nachnamen Behaim), in einem anderem Duktus erzählt als die spektakulär-phantastischen Metamorphosen der Sibylle Blauwelsch (übrigens hat man durchgängig alle Passagen, die Sibylle betreffen, in marienkäferrot[e] Buchstaben gesetzt). Während Wigands fast magische Kindheit und Jugend (so zeigen sich auf seinem Körper vorübergehend seltsame kartographische Gebilde) mit großer Filigranität erzählt wird, poltert es, wenn es um den großmaulig-liebenswerten Großvater geht. Passend dessen Ende: er wird vor einer Sibirienreise mit seinem Enkel von einer Horde Wildschweine ins Jenseits befördert. Per Bodybag durch Raum und Zeit Fasziniert folgt man den Sibylle-Kapiteln und ihren Verwandlungen vom mittelamerikanischen (männlichen) Guerilla Segundo Quinto über die jungfräuliche Agronomin und Kamelzuchtbeauftragte Samia in irgendeinem märchenhaft-dekadenten Wüstenemirat (oder –kalifat), weiter zum Sherpa-Leben als Senge, der einen obsessiv-besessenen Regisseur begleitet, der für seinen Film unbedingt den Schneelöwen sucht und mit einem Filmteam im Himalaya ziellos herumreist. Aus dem Schneelöwen wird schnell Moby Dick und schließlich der Yeti assoziiert, so dass der Filmmensch wie eine Mischung aus Werner Herzog, Kapitän Ahab und Reinhold Messner erscheint. Wie enttäuschend für alle dann dieser profane Moment, als der Schneelöwe in einem Käfig entdeckt wird. Die (vorerst) letzte Verwandlung führt zur schwarzen Flüchtlingin mit Migrationsvordergrund Sibylle Blauwelsch, die unter merkwürdigen Umständen Zahnärztin in der Schweiz wird (zwar ohne Qualifikation, aber mit Erfolg). All das geschieht im "Bodybag" mit klemmendem Reißverschluss als Raum-Zeit-Maschine. Man kann sich gar nicht sattlesen an diesem Füllhorn von Geschichten, Weisheiten und Skurrilitäten, die immer auch mit einer gehörigen Portion Augenzwinkern daherkommen. Die einzige Enttäuschung ist dann die Liebesgeschichte zwischen Wigand und Sibylle – diejenige, die sich gewaschen haben sollte. Dabei fängt es so gut an: Die beiden konstruierten die Welt am Strand und Wigands sehnlichster Wunsch geht in Erfüllung. Sie legten Wigands Karte auf den Strand und beschwerten sie mit Steinen. Die Arbeit dauerte die ganze Nacht, und als der Morgen graute, die Wellenleise und behutsam am Land leckten, war es vollbracht: Der Strand lag leer und aufgeräumt, in perfekter Ordnung nach Wigands Karte. Endlich zeigt die Karte nicht in abstrakter Form die Gebiete, sondern umgekehrt und Wigand weinte bei dem Anblick des Erschaffenen: Die Welt hatte die Karte flächen- längen-, winkeltreu kopiert im Massstab 1000:1. Aber auch diese Karte wird - wie alle anderen - durch die Zeit überholt und irgendwann unbrauchbar. Aber bei diesem kurzen Moment der Erhabenheit, diesem furchtlosen Glück, wäre man gerne länger verblieben. Es ist ja nicht so, dass Rossel einer Feier des Augenblicks nicht gewachsen wäre: In den Sibylle-Metamorphosen ahnt man es in den Glücksmomenten als Samia unter all den (so scheinbar nutzlosen) Rennkamelen und einmal heisst es Mehr Glück war nicht. Da schien jemand sein Arkadien gefunden zu haben. Aber nach sieben Jahren überschlugen sich die Ereignisse; es gab einen Unfall in der Zucht und just in dem Moment, als sie und der Bibliothekar Levi von Ashkelon sich innig küssten und der Falkner Assad in Liebe zu ihr sogar den Fehler beging, einen Falken oben zu lassen, riss die Zeit. Und auch die Geschichte mit Sibylle und Wigand geht rasch und unerwartet zu Ende. Abermals hat die Liebe keine Gelegenheit. Es ergreift Sibylle jene Unruhe, die eine erneute Metamorphose ankündigt. Genaues weiß man noch nicht, da verunglückt der Kartograph überraschend auf den Gleisen am Bahnhof der Kleinstadt, von der aus er die ganze Welt hatte kartieren wollen tödlich; am 21. Oktober 2006 ist das, von nun an der "Wigand-Day" (bitte in den Kalendern entsprechend vormerken und dem Gedächtnistag des irischen Stadtstreichers hinzufügen). Welche Furcht vor dem "Verweile doch, du bist so schön". Aber: wessen Furcht? Die der Autorin? Oder der Figuren, die ihre Ruhe nur im Tod finden können? Kommt vielleicht daher Wigands (und der Erzählerin) Gedanke, der Tod sei eine Gabe und die Alternative der "übelriechenden" Unsterblichkeit gar nicht erstrebenswert? Wenn die Zukunft schon Geschichte ist Tatsächlich klingt der Bericht der heiligen Ursula, die als Untote durch die Zeit rast, im Jahr 2034 endlich heiratet und dann feststellt, dass nach 2034 das Jahr 2033 anbrach, nicht glücklich. Wie auch, denn auf Sonntage folgten Samstage, auf neunzehn Uhr achtzehn Uhr. Zuerst war es Abend, dann Mittag, dann Morgen. Wie lebt man damit? Bordeauxrote Melancholie schwappte in trägen Sirupwellen über mich. Die heilige Ursula, vom vierten Jahrhundert an über tausend Jahre lang nur unter der Haut gealtert alterte jetzt sichtbar. Da aber die anderen in den Jahren vorwärtslebten, nahmen sie mein Altern als Verjüngung wahr, während sie, die doch eigentlich alterten, in meinen Augen ebenfalls jünger wurden. Und da schiebt Rossel noch die tollkühn-überdrehte Geschichte um das Verhältnis zwischen Hunnenkönig Attila und der heiligen Ursula ein. Etwas, das von den Lebensdaten her gar nicht möglich ist, plötzlich aber wie eine alte, neu-entdeckte Saga daherkommt (Timea erspart in diesem Fall dem Leser das vorwitzige Nachschlagen, in dem sie die vermeintliche Unmöglichkeit selber erwähnt). Hier gibt es kein Schwelgen auf eine verlorene Zeit. Hier ist die Zukunft schon Geschichte und eine von vielen Möglichkeiten. Die Karten der Zeit sind die Erzählungen; hier vermag man Phantasien "abzubilden". Daher heißen die Kapitel auch Kalenderblätter. So schreibt uns Timea aus Aarhammer im Herbst 2012 in Erwartung der nahen Apokalypse (der Mayakalender!) und blickt auf Wigands Tod 2006 zurück. Das dabei gefundene ungeheuerliche Geheimnis des Kartographen hat auch mit der Zeit zu tun, wird hier aber nicht verraten. Aber nicht nur die Linearität der Zeit wird aufgehoben. Da entsteigt ein amöbenhafter, winziger Homunculus einem Atlas. Es gibt eine locker-legere Kurzgeschichte der griechischen Göttermythologie (inklusive Atlas mit Bandscheibenschaden) und endlich erfährt der Leser, wie die Plejaden die Technisierung der Landwirtschaft forciert haben. Man bewundert Schnee in der Libyschen Wüste. Mit einem Vierzig-Tonnen-Camion trifft der Raumzeitkompaß in einem riesigen Paket bei Wigand ein. Die Suche nach dem Objekt in der riesigen Verpackung wird zum epische[n] Nachmittag und ist derart, als würde Sisyphos einen Tamagotchi bergen. Oder die Frau an der Kinokasse, die das Ticket bezahlt hatte, statt zu kassieren. Und irgendwo hat der Heilige Vater eine Fatwa ausgesprochen. Man erfährt, dass die übersättigten, mangelernährten Schnellmenschen, die sich als Pilger in die Pyrenäen aufmachen, eine gewisse Schmuddeligkeit der Unterkünfte vorzogen, um nachher von Entbehrungen erzählen konnten, ohne fahrlässig zu lügen. Sogar die braven Schweizer mit ihrem Erfindungsreichtum was Krankheiten angeht und ihrem Land mit dem einzig verwertbaren Rohstoff, ihrem Bankgeheimnis, bekommen an zwei Stellen etwas bernhardesk die Leviten gelesen. Und man erfährt wie man lustvoll die räumliche Orientierung verlieren kann. Spiel mit Fragen Am Ende heißt es, dass Kryptogeographen nicht Fragen ermorden wie all die Politiker, Wissenschaftler, Wirtschaftsmenschen, Priester, Soldaten, Mütter, Beamte, Gläubige, Gläubiger - kurz all die Denkfaule[n] und Phantasielose[n]. Nein, Kryptogeographen stellen das Gleichgewicht wieder her, in dem sie den Fragen helfen zu wachsen und sich zu vermehren. Das abenteuerliche Fragen als neue, nein: wieder gefundene Kulturtechnik. Hier (und nur hier) fühlt man sich erinnert an Peter Handkes "Spiel vom Fragen": "Immer auf dem Sprung zur nächsten Frage, ganz woandershin. Und trotzdem nach einer Regel. Die erst zu suchen ist." Es ist unmöglich, die einzelnen Fäden aufzudröseln ohne in größte Gefahr zu geraten, zu verfälschen, ungebührlich zu vereinfachen oder gar anmaßende Letztbegründungen und –interpretationen zu liefern. Dennoch wirkt alles sehr leicht, unangestrengt. Wobei man sich allzu gern dem Strom des Erzählens hingebend die horrende Arbeit übersieht, die in diesem Erzählgarten steckt. Die beste Inhaltsangabe wäre die komplette Wiedergabe des Buches. Eine Feststellung, die Wigand von der idealen Karte trifft. Und so ist es fast zwangsläufig: Das erste Lesen genügt nicht. Man muss sofort noch einmal anfangen um entgangene, besonders trickreich verborgene Zusammenhänge, Anspielungen, Verknüpfungen und Assoziationen zu erkennen. Dabei entdeckt man dann wieder Neues und wundert sich erneut. Obwohl es durchaus falsche Fährten und manches Ornament gibt, gleicht Rossels Buch einem eher muskulösen Körper. Im Vergleich dazu der anabol aufgeputschte Bodybuilder, dessen Posing nur kurz beeindruckt. Von dieser Form der literarischen Kraftmeierei ist die Schweizerin glücklicherweise meilenweit entfernt. "Man nehme Silber und Knoblauch, Erde und Salz" ist artifiziell und ambitioniert, verspielt und streng, burlesk und trocken, polyglott und bodenständig. Da schreibt eine intelligente Autorin mit einem jetzt schon unverwechselbaren Sound. Der große Peter von Matt hat recht: "Es pfeift einem um die Ohren wie ein plötzlicher Passwind". Ursula Timea Rossel schafft es, das Märchenhafte und Skurrile nicht bloß auszustellen und als Effekt zu inszenieren, sondern zu erzählen (statt nur zu fabulieren). Daher ist es richtig, dass die ursprüngliche Intention, es einen "phantastischen Roman" zu nennen, zurückgenommen wurde. Es wäre diesem eindrucksvollen und famosen Buch nicht gerecht geworden. Und wie gerne hätte man dieser Autorin noch einige Phiolen mehr seiner Zeit zur Verfügung gestellt. Lothar Struck
Die kursiv gesetzten
Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. |
Ursula Timea
Rossel |
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