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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Bücher & Themen
Artikel online seit 30.01.14

Ein melancholisches Feuerwerk

Wir alle waren Kinder von Atlantis-Überlebenden,
und das legt fest,
was wir sein können: Unzugehörig an fremden Ufern gestrandet,
sind wir frei von Heimat. »Sein oder Nichtsein« ist da – ob mit
Shakespeare oder Camus – vor allem eine metaphysische Frage.
Über Andreas Steffens »Ontoanthropologie« auf den Spuren des Unverfügbaren

Von Timotheus Schneidegger

 

Das Buch erweckte einige Skepsis. So blieb es nach dem ersten Durchblättern erstmal lange auf dem Rezensionsstapel liegen. Es ist ein schlichtes Paperback aus dem Digitaldruck, der Autor Andreas Steffens nach Wikipedias Maßstäben »irrelevant« und der Titel »Ontoanthropologie« scheint mit neologistischer Kraftmeierei über all das hinwegtäuschen zu sollen. »Na super«, so der herunterpriorisierende Gedanke, »hat ein Galerist und Philosophie-Privatdozent mal aufgeschrieben, was ihm zum Sein und zum Menschen so alles eingefallen ist...«

Eine gewisse vorsortierende Ignoranz ist leider notwendig, seit der Onlinedigitaldruck es nun wirklich jedem Irren ermöglicht, seine gemachten Gedanken, die selten genug die eigenen sind, zwischen Buchdeckel (und mir dann womöglich noch in den Briefkasten) zu stecken. Zum Glück ist auch im Besprechungswesen der Tatbestand der Überschreitung der Notwehr in den meisten Fällen straffrei.

Denn anders als die Zivilversager, die sich in ihren eitlen Begleittexten rühmen, tabuisierte Wahrheiten hervorzukehren oder gleich die Philosophie neu erfunden zu haben und dafür vom Betrieb marginalisiert worden zu sein, verfolgt Andreas Steffens ein sachliches Programm. Dies auf eine honorige Weise, die ohne überkompensierendes Großtun auskommt und zugleich seine Subjektivität nicht verschweigt.

Es sei empfohlen, zunächst zur Selbstdarstellung am Ende des Buchs vorzublättern, die nämlich mehr über Anspruch und Antrieb verrät als das Vorwort in Fragmenten (und der Klappentext sowieso). Steffens verfolgt seit etwa fünf Jahren ein Projekt, das sich mit den Stichworten seiner Buchtitel umreißen lässt (Weltaufmerksamkeit, Anthropoästhetik und nun eben Ontoanthropologie). Deren sloterdijkscher Schweißerstil kommt nicht von ungefähr, da Steffens eine ähnliche akademisch-philosophische Sozialisierung hinter sich hat wie der Karlsruher Kunstakademierektor: Sie arbeiten sich mit und an Bloch, Heidegger, Blumenberg und den Poststrukturalisten ab.

Welt-Menschen-Lehre

Wer deren Stichworte kennt und seinen Camus philosophisch gelesen hat, findet sich bei Steffens schnell zurecht. Auch sein Leitthema lautet, dass die Welt uns nicht genug ist, aber die einzige ist, die wir haben bzw. – und das ist Steffens neuer Dreh – : Wir haben sie nicht einmal. Die Welt ist der Inbegriff des »Unverfügbaren« aus dem Untertitel des Buchs.

Dasein ist, wie wir wissen, u.a. durch das In-der-Welt-sein bestimmt. Steffens kehrt das um und negiert es: Weil wir nicht einmal in der Welt sind, können wir nicht sein. Die Welt ist uns nicht heimlich, darum unheimlich und fremd. Mangels Bezug zum Außen gibt es auch kein Innen. Die Fremdheit der Welt ist also auch die Fremdheit des Menschen sich selbst gegenüber, aus der sich nur seine Kontingenz als Gewissheit ergibt.

Wir haben es mit einer Sisyphos-Metaphysik zu tun, allerdings wird Steffens anders als Camus darüber nicht ethisch, jedenfalls nicht völlig. Zwar fragt auch er nach der Möglichkeit des Lebens als nicht-notwendiges Subjekt in einer fremden Welt (und sei es auch nur, um der Metaphysik die lebensweltliche Relevanz zuzuschreiben, ohne die man anscheinend gar nicht erst mit dem Nachdenken anzufangen braucht). Aber vor allem konzentriert sich Steffens auf die Analytik der Nichtselbstverständlichkeit des Daseins und der Fremdheit als Eigenschaften der Welt. Die Fremdheit zwischen Menschen ist da nur die Resonanz der in allen existentiellen Erfahrungen aufscheinenden Fremdheit zwischen Mensch und Welt.

Wer philosophisch nicht völlig unmusikalisch ist, kennt solche Momente, in denen die Welt ihre Selbstverständlichkeit verliert, und fragt, was Steffens daraus macht. Seine Ontoanthropologie will blumenbergsche Anthropologie und heideggersche Ontologie verbinden, die zwei Zugänge zum selben Rätsel seien, nämlich dem der Verflochtenheit von Mensch und Welt. Ihr sei nur auf Umwegen nachzuspüren. Die gewohnten Zugänge, der direkte Zugriff und das humanistische Definieren verstelle sie.

Persönlich genommen

Die subjektiven Motivationen, von denen die Selbstdarstellung explizit spricht und die im Buch immer wieder durchscheinen, erinnern noch einmal daran, warum der Weltschmerz der Romantik und das (Ver-)Zweifeln an der Welt der Postmoderne zugehört. Wer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Welt und ins Denken kam, hat deren Ungewissheit am eigenen Leib gespürt. So auch der 1957 in Wuppertal geborene Steffens, der ebendort 1980 die »Galerie Epikur« gründete, sich 1995 in Kassel habilitierte und seither als Privatdozent die Schwerpunkte Kulturtheorie und Ästhetik pflegt.

Aus der Wahrnehmungslehre kommend, bringt er dem Sein als solchem zwangsläufig Skepsis entgegen und zieht auch in der Ontologie das Artefakt vor. Kunst hilft, schreibt Steffens, damit leben zu können, dass Mensch und Welt nicht für einander gemacht sind. Einzig in der »Kulturontologie« sei es möglich, verfüg- und kennbare Eigen-Welten zu schaffen.

Auch jenseits dessen ist dem Menschen, der sich und seinesgleichen mangels Welt fremd ist, alles erlaubt. Etwa das, was Camus in »Der Mensch in der Revolte« politischen Zynismus nannte und was Steffens als »Anthropolitik« beschreibt. Der brutalen absoluten Bestimmung des Menschen durch den Menschen bis hin zu seiner millionfachen Vernichtung hat Steffens 1999 ein eigenes Buch gewidmet. Sie ist ebenso das Motiv seiner Ontoanthropologie wie die mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängenden Massenvertreibungen, durch die Menschen leibhaftig erfuhren, was Steffens als Gattungsschicksal ausmacht. Mit Hannah Arendt und besonders Jean Améry zeigt er, wie der Einzelne seinesgleichen so gleichgültig ist wie der Mensch überhaupt der Welt, wie er seiner Heimat beraubt zum Fremden und schließlich zum Opfer gemacht wird.

Mit Fug findet Steffens es befremdlich, wie wenig die im 20. Jahrhundert millionenfach gemachte Erfahrung von Zusammenbruch und Transformation Eingang ins kulturelle Bewusstsein Deutschlands gefunden hat. So konstatiert er das Versagen des Denkens vor der Ungewissheit und Fremdheit der Welt, solange sie nur verfügbar (und einfach zu gebrauchen) ist. »Denn nichts ist so entrückt wie erlangtes Eigentum.« (S. 34)

Tatsächlich besteht das Leben nur aus Übergängen und dem Versuch ihrer Bewältigung, mehr noch: Mit Herder (und Heidegger) erklärt Steffens die Paradiesvertriebenen zu Übergangswesen in Welt und Geschichte, was ihre nomadenhafte Unruhe erklärt und ihre Fremdheit, die auch sich selbst gegenüber unaufhebbar ist.

Absurdologie

Ontoanthropologie ist die Disziplin des Absurden schlechthin: Der Mensch kommt umso besser in der Welt zurecht, je weniger er vom wahren Verhältnis zwischen sich und ihr ahnt. Schon Heidegger wunderte sich in der Einleitung von »Sein und Zeit« über die erfolgreiche Eroberung der Welt bei völliger Ignoranz gegenüber ihren Grundfragen. Steffens bringt dieses Missverhältnis auf die Pointe der Weltentzogenheit durch Welteingebundenheit (S. 143).

Der Kontingenz des Daseins ist die Bedingungslosigkeit des Selbsterhaltungstriebs an die Seite gestellt. Mit Blick auf Giacomo Leopardi und Heinrich von Kleist schreibt Steffens vom Urverdacht des Selbstmörders, das In-der-(dieser)-Welt-sein sei ein Nichtigsein, weil diese Welt nicht das eigentliche Leben ermöglicht und den Menschen ausschließt. Die Erfahrung solcher »Lebensexterritorialität« machte Kleist auch unmöglich für Goethe, der von Kleists ästhetisierter Weltlosigkeit bedroht sah, »was er sich selbst in mühsamer Lebensarbeit an Weltfähigkeit hatte verschaffen können.« (S. 74)

Wir kommen in die Geschichte wie in die Welt und können in der Unübersichtlichkeit nur feststellen, dass wir mit dem leben müssen, was schon vor uns da war und nach uns sein wird. Steffens empfiehlt die Genealogie als Grundlagenwissenschaft der je eigenen Natalität. Zugleich schürt er berechtigte Zweifel, ob mit der Klärung der Frage, woher wir kommen, etwas gewonnen wäre.

Den Menschen hat es nie gegeben

»Defizitär ist das menschliche Weltverhältnis als Folge der Zerstörung des Weltverhältnisses eines protomenschlichen Wesens, das in diesem Verlust zum Menschen wurde.« (S. 93)

Nein, das ist nicht Deutschlands nächster Erich von Däniken und der Satz ist ganz und gar nicht durchgeknallt. Vielmehr belässt es Steffens nicht bloß (wie etwa Camus) dabei, das Verhältnis von Welt und Mensch als grundsätzlich absurd aufzuweisen; er wagt eine Hypothese für den Grund der Weltvergessenheit, die über Heideggers »blame the predecessor« (=Sokrates und Descartes haben es verbockt.) hinausgeht.

Die Menschwerdung sei nämlich misslungen. Wir sind historische Wesen, empfinden uns aber nicht als solche. Ursprung und Entwicklung des Einzelnen wie der Gattung überhaupt sind unbegreiflich oder vom gegenwärtigen Standpunkt aus verzerrt. Die Geschichte lehrt mehr über die Selbstverfehlungen als über das Wesen des Menschen; sie macht zugleich in ihren Bedingungen kaum durchdacht den Großteil dessen aus, was im Menschen als Welt wirksam ist.

Die Weltlosigkeit ist die Urkatastrophe, die die Menschwerdung abgebrochen hat und sich in der Geschichte seither fortsetzt. Verloren ging damit nicht das Paradies, sondern seine Möglichkeit, also die des Verhältnisses eines Menschen, den es nicht mehr geben kann, zu einer ihm gemäßen Welt.

Als Bild für die Anthropologie, die unter solchen Bedingungen nur »Enigmatologie« sein kann, wählt Steffens die Kindheit. Sie ist Bedingung für das spätere »Vermögen des Verstehens«, diesem aber ebenso unzugänglich wie unvergänglich. »Wir müssen sein, was unsere Kindheit für uns vorgesehen hat.« (S. 89) Im Erwachsenwerden wiederholt sich der »Verlust eines auf ein anderes Sein hin angelegten Urzustandes, dessen Verwirklichung unterblieb« (S. 90).

Eine durch Kulturleistungen pazifizierte Umwelt meldet ihr ursprüngliches Verhältnis zum Menschen, der ihm entkommen ist, immer wieder durch Biologie und Tiefenpsychologie an, die jedem eigen und unverfügbar sind. »Unsere Krankheiten belehren uns über uns, indem sie uns offenbaren, wie die Welt ist, in der wir leben. Nur wer diese Einsicht nicht ausschlägt, kann gesunden.« (S. 187)

Selbstbehauptung des Menschen

Daneben vollzieht sich jedes Leben bedingt durch Geschichte und Gesellschaft, die gleichfalls unverfügbar sind. In sie verstrickt arbeitet fast jeder Mensch in allergrößter Selbstverständlichkeit (und das ist Unverstandenheit) mit an einer Welt, in der es ihn, den es nicht geben muss, auch weiterhin geben kann. »Widerstand gegen die Welt und ihre Erweiterung sind die obligatorischen Grundleistungen jedes Menschseins.« (S. 118) Denn »[w]as wir brauchen, ist nicht das, was wir vorfinden.« (ebd.) Allerdings heben nicht erst seit dem Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts »die Mittel der modernen Zivilisation eben die ‚Bewohnbarkeit der Welt‘ auf, zu deren Herstellung sie erfunden wurden« (S. 121). Ein Denken, dessen Weltbezug vor allem darin besteht, die unwahrscheinliche eigene Existenz gegen das Bedrohungspotential der Welt zu behaupten, findet in Carl Schmitt und Erich Rothacker seine Meister aus Deutschland.

Es geht auch anders, wenn auch kaum besser, wie der literaturgeschichtlich beflissene Steffens zeigt. Mit der romantischen Umwertung der Natur vom Feindesland zum erhabenen Vollzugsort des Daseins in einer Metaphysik ohne Transzendenz ist es am Menschen, darin für Ordnung und die »Selbststabilisierung seiner Weltausnahmestellung« (S. 123) zu sorgen. Der Wanderer in der Romantik mag dann als Sinnbild eines gelingenden In-der-Welt-seins taugen, wenn der vogelfreie Vertriebene stets mitgedacht wird.

Im Expressionismus sieht Steffens das kurzlebige, aber effektive Projekt, »die Erfahrung der Fremdheit durch Massierung bis zur Unerträglichkeit ästhetisch unübergehbar zu machen« (S. 147). Ihm entnimmt er den Konnex von Fremdheit und Schuld. Hier bleibt Steffens leider etwas wolkig, wenn er von der Mehrdeutigkeit des Opfers und von den gnostischen Residuen im Christentum spricht, das die Weltlosigkeit jahrhundertlang erfolgreich mit Weltverachtung kompensierte. Auch der bei Psychosomatik und Gestalttherapie geborgte Konnex von Krankheit und der »Schuld, zu sein« bzw. der Weltschuld bleibt ohne Lektüre seiner Vorarbeiten, auf die Steffens eifrig verweist, unklar.

Das ist schade, denn darin, den Begriff der Schuld ins Spiel zu bringen, liegt ein gewisser Charme. Der Metaphysik nach 1945 steht es schließlich nicht an, die Barbareien des 20. Jahrhunderts im Sinne des von-Braunschen »Not my department« als Angelegenheit der Historiker auszuklammern.

Keine Fremdheit ohne Heimat

Um darauf zurückzukommen, wie sehr Steffens den Menschen als Mängelwesen beim Wort nimmt: Ist der Prozess der Menschwerdung nur unter-, nicht abgebrochen, besteht die Möglichkeit, wieder an ihn anzuknüpfen und zwar in seiner eigenen Welt der Vernunft. »Der Mensch ist das Wesen, das für die Welt die letzte Verantwortung trägt, und sie tragen kann, weil seine erste Handlung in ihr deren Wesen zwar verfälschte, aber nicht zerstörte.« (S. 102)

Auf jede Vertreibung folgt eine Ankunft und die Freiheit ihrer Wahl: »Als Exil verlorenen Ursprungs erlebt, ist die Welt an jedem ihrer Orte ein potentieller Ursprung für eine mögliche Menschenwelt.« (S. 104)

Heimat als nur noch vorläufig zu besorgende Lebensnotwendigkeit und als Daseinsgefühl eines womöglich noch zu schaffenden Weltvertrauens ist »kein beliebiger Ort, sondern der Ort für dieses Dasein« (S. 159). Heimat wird erst durch ihre Entbehrung in der Fremde erfahren, das hat sie mit der Welt gemeinsam. Erst die durch die Erfahrung der Fremde (der »eigentlichen« Heimat des Menschen) gewonnene Weltfähigkeit macht heimatfähig.

»Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl«, sang Herbert Grönemeyer lange nach der Veröffentlichung seiner Geburtsstadthymne »Bochum« und ein Jahr nach seinem Umzug gen London einigermaßen skeptisch über ein Deutschland, das sich am Ende der Kohl-Ära freute, den Zustrom von »Asylbewerbern« (so hat man damals echt geredet), die wir ontoanthropologisch alle sind, gestoppt zu haben. Steffens jedenfalls ist aller Heimatduselei oder einer sei’s bloß lokalen Patridiotie unverdächtig. Er wagt nur, dem Leser in Aussicht zu stellen, dass es sich lohnen könnte, die Unheimlichkeit der Welt zu durchmessen, indem es nämlich erst dadurch möglich ist, in ihr ein Zuhause schaffen zu können.

Eine solche Hoffnung zu machen ist einigermaßen fahrlässig. Denn die Welt ist nicht fremd, weil über sie zu wenig bekannt ist, sondern weil sie in keiner Hinsicht irgendetwas mit uns gemeinsam hat und sich nicht um uns schert.

Die Welt als Fremde denken

In seiner Rationalitätskritik, für die er reihenweise Gewährsleute (allen voran Michel Serres) zitieren kann, rät Steffens zum Verzicht auf eine postmetaphysische Philosophie, deren Weltvergessenheit zum Weltverlust aller wurde. Aufgabe und Inhalt der Philosophie wäre es, gegen die Weltfremde anzudenken, deren Symptom sie vor ihrer Verwissenschaftlichung war. Grund zur Hoffnung besteht allerdings nicht, schreibt Steffens doch selber, die Zufälligkeit von Mensch und Welt sei eine beharrlich geleugnete metaphysischen Banalität.

Als bezeichnend für diese Weltvergessenheit nennt er das Gerede um die Ökologie: Die Selbstverständlichkeit, den »Verbrauch« der Welt zu beschränken, verstellt den gleichzeitigen Verbrauch des Menschen durch die Welt. Wer nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt, kann das unmittelbar nachvollziehen, und ebenso jeder, der sich »vom Leben gezeichnet« fühlt: »Die universellen Erfahrungen menschlichen Lebens sind Erfahrungen des Überwältigtwerdens: Geburt, Leiblichkeit, Herkunft, Krankheit, Liebe, Tod.« (S. 37)

So plädiert Steffens für eine Philosophie, die weniger mit dem wissenschaftstheoretischen Lorbeerkranz aus Plastik angibt und sich auf die Spuren des literarisch längst vorhandenen Bewusstsein unseres prinzipiellen Ausgeliefertseins begibt.

Es hat seinen Reiz, wenn Steffens mit Antonin Artaud dem Atlantis-Mythos den Vorzug vor dem Sündenfall als anthropologische Chiffre gibt. Demnach liegt in einer den frühen Menschen mit sich und der Welt entzweienden Urkatastrophe der Grund für das fundamentalontologische Elend, aus dem sich alles weitere ergibt. Und natürlich kann man sie im Dunkel einer vorhistorischen Urzeit versenken, wie der Analytiker die Ursachen von Neurosen hinter dem Ereignishorizont der frühkindlichen Amnesie verortet. Aber das eine ist dann doch so unbefriedigend wie das andere.

Am Ende widmet sich Steffens dem Menschheitsversuch, Selbsterkenntnis auf dem größtmöglichen Umweg der Raumfahrt zu gewinnen. Vom sterneguckenden Thales bis zum glücklich »heimgekehrten« Neil Armstrong sei es nie um Sonne, Mond und Sterne, sondern immer nur um die Erde als »die Welt« gegangen. Doch die Raumfahrt zeige auch, wie das technische Vermögen, mit dem die Selbstentfremdung behoben werden soll, diese nur vergrößert.

Melancholisches Feuerwerk

Aller Belesenheit und aller Stilistik zum Trotz lässt Steffens es an Stringenz und Konsequenz fehlen, sodass am Ende das schale Gefühl bleibt, einem metaphysisch-aphoristischen Feuerwerk beigewohnt zu haben. Die Kapitel stehen unverbunden wie Einzelvorträge hintereinander, die in unterschiedlichen zeitlichen Abständen verfasst worden sind. Dem Leser, der mit Steffens’ Vorarbeiten vertraut ist, mag das anders gehen, in jedem Fall ist die »Ontoanthropologie« zum Einstieg ungeeignet.

Als Kost- und Stilprobe wäre sie zu empfehlen. Die mitunter aphoristische Dichte ganzer Absätze entfaltet eine suggestive Kraft (»Die Welt ist die Erfindung des Wesens, das sie entbehrt.«, S.144f.), die Steffens viel zu oft aber ungenutzt im Raum verpuffen lässt. Feuerwerk eben.

Nicht nur deshalb hätte ein strengeres bzw. überhaupt ein Lektorat dem Buch gut getan, um mal diesen ollen Kritikerspruch zu bemühen. Es hätte dem ganzen die nötige Form verschafft und wohl auch manchen inhaltlichen und formalen Lapsus korrigiert. Kant hat 1798 seine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« und nicht »Absicht« (S. 192) geschrieben und die »Klassifikation der Geisteskrankheiten« stehen dort in den Paragraphen 45 bis 52 und nicht 42 bis 50, wie Steffens schreibt. Autokorrektur und Zeichenersetzung haben die Anführungszeichen durch französische ersetzt – und zwar in einem Typoskript, in dem statt eines Apostrophen offensichtlich das schließende einfache Anführungszeichen verwendet worden ist. Dies die kompliziert klingende Erklärung für störende Fehler wie diesen: »...die Wahrheit von Camus‹ Diktum, wer Philosoph sein wolle, müsse Romane schreiben...« (sic!; S. 141)

Das Buch macht nicht unbedingt klüger. Aber es wird allen eine stille Freude bereiten, die »weltfremdes« Denken als das einzig angebrachte verstehen und noch ein Herz für Metaphysik und ihre bedächtige Melancholie haben (die Steffens ausführlich als das würdigt, was Künstler und Philosophen vor ihren lebenstüchtigen Mitmenschen auszeichnet).
 

Andreas Steffens
Ontoanthropologie
Vom Unverfügbaren und seinen Spuren
NordPark Verlag
284 Seiten
20,00 €
978-3-935421-55-3

 


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