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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


»Könige des Plunders«

Andrzej Stasiuks elegischer Roman
»Hinter der Blechwand«

Von Gregor Keuschnig

 

Ich konnte mich wirklich nicht erinnern, wann ich ihn zum ersten Mal getroffen habe. Er war wie der Geist dieser Stadt. Er verkörperte sie: grau, unscheinbar, fast durchsichtig. Der erstgeborene Sohn der Alltäglichkeit, von Geburt an im Scheitern bewandert. Aber man mußte ihn nur anschauen, den Blick auf ihn heften, um nicht durch ihn hindurchzusehen, und schon war er ein anderer. Wenn jemand ihn wahrnahm, wurde er sichtbar. Er sammelte sich, geriet in Spannung, seine Gegenwart verdichtete sich. Er war überall, sah und wußte alles, den Rest ahnte er.

Die Rede ist von Władek. Er und der Erzähler, Pawel, kaufen und verkaufen hauptsächlich Textilien (Paris - London - New York) auf den Wochen- und Jahrmärkten Osteuropas. Sie sind die (selbsternannten) Könige des Plunders. Dabei müssen sie sich zusehends mit den Anbietern der asiatischen Produkte messen, diesem Ramsch und Tand von erbärmlicher Qualität. Kleidungsstücke, die schon nach kurzer Zeit nur noch als Putzlappen taugen. In den besten Momenten vernimmt man im Hintergrund dieser zum Teil rüden Beschimpfungen des asiatischen Billigkrams ein zwischen Ehrfurcht und Fetischismus changierendes Sentiment zum das Ding, das, trotz aller kommerziellen Attitüden, mehr ist als nur schnödes Handelsobjekt. (Oder ist man jetzt schon auf die Władek'sche Werbung reingefallen?)

Sie tummeln sich mit anderen Händlern, Karusselbesitzern, Marktschreiern, Zuhältern, Kleinkriminellen, Dorf-Mafiosi und den wankelmütigen, preisbewussten Kunden. Auf den Märkten ist es flirrend heiß oder es regnet in Strömen. Unterbrechungen gibt es nur durch den großen Beschwichtiger, dem Winter, wobei sich die Protagonisten bei Temperaturen von null Grad fragen, wann er denn endlich komme. Die besuchten Orte sind nicht die gängigen Metropolen; man "tingelt" durch und nach Nyíregyháza, Máriavalva, Tiszajenes, Zborov, Svidník, Monastyrzynski oder Satu Mare. Aber vor allem Medziborie - eigentlich ein kleines, lächerliches Kaff, aber für Pawel und Władek so etwas wie die heimliche Hauptstadt Osteuropas. (Wobei der fiktive Ort Medziborie offensichtlich keine Spielform von Międzybórz darstellt, sondern, wie die Übersetzerin bemerkt, eine Variante von Medzilaborce sein soll - des Wohnortes von Andy Warhols Eltern).

Andrzej Stasiuk entwirft in dieser "Road-Novel" eine Landschaftstopographie in epischen Bildern und Assoziationen, die ein Land jenseits aller Nationalgrenzen evoziert. Ein großer, elegischer Abgesang auf das "alte" Osteuropa. Ein Osteuropa, das im Interregnum nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu einem einzigen großen (Wirtschafts-)Raum wurde. Grenzen haben keine Bedeutung mehr: Polen, Slowakei, Tschechien, Rumänien (das Land der unbegrenzten Möglichkeiten), Ungarn, die nach Billigkram gierende Ukraine - Pawel und Władek sind mit ihrem Ducato moderne Cowboys des Ostens. Sie müssen vor allem die einzelnen Währungskurse im Kopf haben und blitzschnell umrechnen können; für Profis kein Problem. Und wenn alle Kriterien versagen, greift die Formel 20 kg Schrott = 1 Liter Benzin. Man besucht Importeure und Zwischenhändler mit ihren zum Teil unermesslich großen Lagern, die bei uns noch nicht einmal als Schrotthalden angesehen würden. Aber alles wird irgendwann von irgendwem gebraucht werden – und dafür hebt man es auf. Logisch, dass da neuproduzierte Billigware stört.

Pawel und Władek sind zugleich Symbole für ein Osteuropa, welches bedroht ist von den Dämonen der Globalisierung, die wiederum symbolisiert werden durch Chinesen oder Vietnamesen. Aber die Konnotationen, die hier mitschwingen, gehen tiefer: Das "Chinesische" steht synonym für eine seelenlose Ökonomisierung des Gesellschaftlichen. Mit Wonne und in aller Ausführlichkeit wird die Geschichte erzählt, als ein Vietnamese auf einem Markt von einem Schwein angegriffen, in die Kehle gebissen und getötet wird. Das Motiv wird gegen Ende noch einmal bemüht, als sich Władek am "Grauen", einem kleinen, lokalen Gangsterboss, rächt, in dem er ihn von einer Balustrade hinunterstösst und den dort in elendem Zustand vegetierenden Schweinen buchstäblich zum Fraß vorwirft. Nein, zimperlich geht es in diesem Buch nicht zu und Stasiuks Metaphorik ist gerade an diesen Stellen arg dick aufgetragen.

Mit der Zeit rückt dieser Władek immer mehr in das Zentrum dieses durchaus dem Abschweifen nicht abgeneigten Romans. Er bleibt dabei unnahbar, denn Pawel, der Erzähler, sein Fahrer und Gehilfe, der zuweilen Mühe hat, dessen Stimmungen nachzuvollziehen, betrachtet ihn mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht. Władek ist Kettenraucher, Vieltrinker, ein großer Improvisationskünstler, gewitzter Anekdotenerzähler und von einer Sturheit, die allen Hoffnungslosen eigen ist. Er ist gewinnend bei Kunden (wie er seine Ware anpreist!), ein Denkmal des Frühkapitalismus und Unternehmertums - und gleichzeitig sprunghaft und anstrengend, zuweilen jähzornig und schreckt dabei mit einer renitenten Furchtlosigkeit weder vor verbaler noch physischer Gewalt auch gegenüber scheinbar übermächtigen Gegnern nicht zurück. Władek ist ein Prototyp jener aussterbenden Spezies von Händlern, die ihre Kunden noch ehrlich beschummeln und gegen jede Ungerechtigkeit unmittelbar zu Felde ziehen.

Diese chaotische Welt wird mit großer Melancholie, die zuweilen durchaus in Resignation umschlägt, erzählt. Ich liebte die Resignation heißt es einmal fast programmatisch. Und als die Geschäfte immer schlechter gehen und man sich schließlich auf Menschenschmuggel einlässt, haben die beiden die Aura der Krämerromantik längst verloren. Dennoch folgt man den Helden willig und gebannt, wenn sie Pakistani "hinter der Blechwand" ihres Autos transportieren (daher rührt der seltsame deutsche Titel). Diese Pakistani bleiben - abermals stark metaphorisch - unsichtbar und weitgehend unhörbar. In der Zukunft läge das Geschäft mit Menschen, hören sie. Aber das wollen sie nicht. Und fast wäre auch noch alles schiefgegangen.

Schließlich trennen sich die Wege der beiden aber Pawel versucht, von anderen mehr über diesen Władek zu erfahren, mit dem er all die Jahre durch das große Osteuropa gefahren ist. Da gab es diesen groß angelegten Kaffeeschmuggel noch zu Zeiten des "Schusters" in Rumänien (gemeint ist Nicolae Ceausescu) und schließlich fährt Pawel mit dem Boss im alten Ducato (auch er längst zu einem Sinnbild für das dem Untergang geweihte heimeligen Osteuropas geworden), mit seinem altmodischen analogen Sound des Kassettenrekorders (den wird es nie mehr geben), durch diesen Halbkontinent - bis nach Istanbul.

Denn dort lebt Władek inzwischen mit seiner Rummelplatzliebe, der Kassiererin Eva und tatsächlich treffen sie ihn mit einiger Verspätung (man ist unterschiedlicher Meinung ob es 12 oder 16 Stunden sind) und unzähligen Runden im Kreisverkehr am Taksimplatz in Istanbul. Zusammen mit der schwangeren Eva und vollgestopften Plastiktüten machen sie sich wieder auf den Weg. Da ist der von mehreren Ebenen hierher auflaufende Roman auch schon zu Ende und die Übersetzerin macht noch ein paar sparsame Anmerkungen, unter anderem die, dass der Roman im Original "Taksim" heißt.

Der Leser wird Gratwanderungen und Stimmungsschwankungen unterworfen. Mal lacht man schallend auf, mal ist man schockiert. Mal nervt diese kleinmachende Großkotzerei der Händler, mal ist man amüsiert. Manchmal schüttet der Regen dermaßen stark, dass man ihn zu spüren scheint. Oder man hustet fast vom Kohlenrauch in der kalten Luft im Winterquartier Pawels. Und dann wiederum gibt sich der Erzähler fast bukolisch der Landschaft hin - die schönsten und eindringlichsten Stellen, die lange nachhallen. Gleichzeitig verhütet dieses muntere und virtuos arrangierte Wechselspiel der Orte, Perspektiven und Stimmungen weitgehend das Auftreten der manchmal bedrohlich nahekommenden Osteuropa-Klischees. Fast nebenbei ist "Hinter der Blechwand" ein Zeitdokument einer Ära, die sich nur noch für einige wenige Momente parallel zum allumfassende[n] europäische[n] Frieden von Brüssel und dessen Auswirkungen stemmen kann. Gekonnt balanciert Andrzej Stasiuk zwischen zivilisationskritisch angehauchter Sentimentalität, einer ewig-gleichen Tristesse und unbändiger Lebenslust seiner Protagonisten. Und man bildet sich ein, nach dieser Lektüre ein klein wenig klüger zu sein. Gregor Keuschnig

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

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Andrzej Stasiuk
Hinter der Blechwand
Roman
Aus dem Polnischen
von Renate Schmidgall
Suhrkamp
Gebunden, 349 Seiten
22,90 €
ISBN: 978-3-518-42254-0


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