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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Selbstvergessen in der Endlosschleife

Benjamin Steins neuer Roman
»Replay«
bietet einen
Ausblick in die nahe Zukunft der Kommunikationstechnik

Von Lothar Struck

Die Programmatik von Benjamin Steins Roman "Replay" wird bereits am vorangestellten Motto deutlich: "Ich war immer davon überzeugt, dass eine transparente Gesellschaft auch eine totalitäre Gesellschaft ist", wird Francois Baroin, der französische Regierungssprecher, zitiert. Ein Ausspruch nicht etwa aus einer bestimmten Erfahrung im Rückblick gesprochen, sondern ein Kommentar über die Veröffentlichung der US-Diplomatendepeschen auf der (sogenannten) Enthüllungsplattform WikiLeaks, wiedergegeben in einem "Spiegel"-Artikel vom Dezember 2010. Stein hatte diesen Satz in seinem Weblog "Turmsegler" sofort notiert und verschlagwortet. Die Gefahr dieser offensiven Festlegung im Buch ist nicht unerheblich, zumal "Transparenz" (wie auch immer definiert) zur neuen politische Ideologie des beginnenden 21. Jahrhunderts zu werden scheint. Und die Humorlosigkeit der Transparenz-Adepten ist Legion.

Die Handlung des Romans ist schnell umrissen. Softwarespezialist (Codierknecht) Rosen bewirbt sich bei der "United Communications Corporation". Dessen Chef, der chilenische Neuobiologe Juan Matana (die Assoziation zu Humberto Maturana ist gewollt, wie man spätestens in der Danksagung des Autors feststellt), will ihn unter der Bedingung einstellen, sich innerhalb von zwei Wochen vorzeigbar zu machen. Eine merkwürdige Forderung, stellt doch Rosen bei Matana selber körperliche Deformationen fest (er musste als Kind unter Polio gelitten haben), die von ihm jedoch perfekt camoufliert werden. Rosen versucht es mit neuer Kleidung und einem Spa-Aufenthalt und sein Körper wird so vom Feind [zum] Verbündeten. Und dies, obwohl er mit seinem seit Geburt unbeweglichen rechten Auge mit einem Kainsmal gezeichnet ist und nur zweidimensional sehen kann.

Blinde sehend machen

Er bekommt den Job. Katelyn, ein fitnessbegeisterte[r] Wirbelwind mit blondem Bob und mädchenhaftem Busen mit einer Vorliebe für makrobiotische Mahlzeiten wird seine Freundin. Sie arbeitet für eine Unternehmensberatung, die Matanas Firma betreut. Matana und Rosen spielen einmal die Woche Schach miteinander. Eines Tages spricht Matana Rosens Defekt an und schlägt ihm vor, das ungeliebte blinde Auge durch ein Implantat auszutauschen. Er soll danach endlich dreidimensional sehen können und Matanas Firma kann ein Verfahren erproben, welches Blinde sehend machen kann - so die emphatische Begründung, denn schließlich ist die Welt das, was wir wahrnehmen. Das Risiko Rosens wird durch entsprechende Verträge abgesichert. Umgekehrt muss er in einem umfangreichen Trainingsprogramm maximale körperliche Fitness für die Operation erlangen. Merkwürdig: Ausgerechnet Katelyn, der Rosen noch nichts von diesem Vorhaben erzählt hatte, wird in Matanas Unternehmen eingestellt und zu seiner privaten Trainerin bestimmt. Statt Latte macchiato gibt es nun Wasser, Push-ups und Pilates und die optimale körperliche Konstitution stellt sich ein.

Der Eingriff am Auge gelingt, aber in der Nachbehandlung ist Rosen mehr als er dachte gezwungen, sich unendlichen Testreihen und Beobachtungen zur Verfügung zu stellen. Er sieht sich als Gefangener der Firma, ist ohne Privatsphäre, weil alles, was er tut im Beisein anderer aufgezeichnet und ausgewertet wird. Bis Katelyn auf die Idee kommt, die Neuroimpulse Rosens über einen Apparat, der sich in einer Brille verbirgt, direkt abzurufen und damit die Belastungen für den Patienten zu minimieren. Matana setzt seine besten Köpfe auf die Sache an und erkennt sofort das über die eigentlich gedachte Anwendung hinausgehende Potential eines solchen Gerätes.

In der Mitte des Buches springt die Handlung vom Jahr 2011 fünfzehn Jahre in die Zukunft. Ich-Erzähler und Fußfetischist Rosen, der schon zu Beginn leicht kafkaesk entstellt mit einem sich unter der Bettdecke zeigenden Huf statt eines Fußes erwachte (er steht daraufhin erst gar nicht auf) und auf das Geschehene zurückblickt ist inzwischen Minister und wohnt in einer luxuriösen Glasvilla in San Felice (eine versteckte Hommage an Margaret Millar?). Das "UniCom" wurde immer weiter entwickelt und ist nun ein Hybrid aus Smartphone (nur ohne Telefon), Navigationsgerät, Erinnerungsrekorder und subtilem Überwachungsinstrument, welches in die Schläfe implantiert wird. Ein blaues Leuchten identifiziert den solchermaßen veredelte[n] Träger des Apparates, der in der Lage ist, die Neuroimpulse des Individuums zu decodieren. Diese werden unmerkbar aufgezeichnet, auf einem externen Server gespeichert und ausgewertet, wobei die heutigen Algorithmusbashings im Vergleich zu den Möglichkeiten des "UniCom" wie Kindergeburtstage erscheinen. Der Benutzer ist ständig "online", das Gerät ist nicht abschaltbar. Man ruft Nachrichten ab, bucht Reisen, checkt E-Mails und ist eingeklinkt in den nicht versiegenden Strom weltweiter Kommunikation. Die SIM-Karte und damit die Gewaltenteilung zwischen Mobilfunkanbieter und Gerätehersteller ist abgeschafft. GPS zu Gunsten eines "High Definition Positioning System" ersetzt, welches in den immer dichter geknüpften mobilen Datennetze[n], von WiFi-Hotspots und anderen Sendeanlagen bis auf den Meter genaue Ortungen ermöglicht. Selbst das Aufwachen am Morgen wird vom Gerät gesteuert - es sucht und erkennt die Phase, in der der Schlaf am leichtesten und das Erwachen am angenehmsten ist. Private und äußerst intime Daten fallen an; über die Verwendung erfährt man nichts. Die Gedanken sind zwar noch frei, aber nicht mehr ohne Kontrolle.

Gestrige "Anonyme"

Immer mehr wird das kostenlose Gerät Voraussetzung für die Partizipation am Gemeinwesen und bildet das Fundament der Gesellschaft. Skeptiker gelten als Fortschrittsverweigerer. "Last Order Amish" nennt Rosen diese "Anonymen", die, Beweislast umkehrend, scheinbar etwas zu verbergen haben. Die Zugänge der Welt für die Anonymen werden selbst bei alltäglichen Dingen wie dem Einkaufen immer schwieriger - ohne "UniCom" beispielsweise keine Autoversicherung und auch keine Kreditwürdigkeit mehr. Später sind Autos ohne das Implantat gar nicht  mehr funktionsfähig. Und es gibt kaum einen Taxifahrer oder Busfahrer, der einen "Anonymen" mitnehmen möchte.

Die vermeintlichen Vorteile des Apparates zeigen sich insbesondere im Erinnerungsgarten, der die schönsten abgespeicherten Erlebnisse immer abrufbar macht (und auch die Möglichkeit beinhaltet, diese Erinnerungen zu retouchieren). Stein zeigt diese Verlockungen anhand der erotischen Abenteuer Rosens mit Katelyn und der kurzen Dreieraffäre mit der Asiatin Lian. Die schönste Szene ruft er immer wieder ab (sie wird auf dem Buchcover fast brueghelhaft nachgebildet): Die drei liegen nackt auf der Wiese, er in der Mitte und er braucht scheinbar nur die Hände auszustrecken. Aber genau dann würde sich das schöne Bild als das erweisen, was es ist: eine Wiedergabe, ein "Replay".

Rosen schwelgt in seiner Vergangenheit bei fast jeder Gelegenheit und beginnt zwischen Realität und Replay nicht mehr unterscheiden zu können. Hatte er zur Sicherheit als eine Art Wasserzeichen in jeden seiner Erinnerungsfilme Pans Huf eingebaut, so verwischen sich nun Realität und Fiktion. Ist sein Huf wirklich echt? Lebt er oder wird er gelebt? Ein Dilemma, dass Stein sehr anschaulich in "seinem Roman "Die Leinwand" von 2009 anhand der Verwendung des Motives des "Literaturskandals" um Binjamin Wilkomirski paraphrasierte.

Aber die schöne Welt ist noch nicht ganz gleichgeschaltet. Zum heftigsten Gegner der "UniCom"-Gesellschaft ist ausgerechnet der einstige Transparenz-Guru Julian Assange geworden, der in den Medien durchaus noch vorkommt. Nach einem Interview mit Assange, das Rosen fast empört, empfängt er eine Video-Nachricht von Matana, in der dieser das Land in Begleitung eines gehörnten Wesens verlässt und Rosen den Ratschlag erteilt abzuschalten. Merkwürdigerweise lässt sich die Nachricht über Matanas Abreise nicht mehr wiederholend abrufen. Wurde sie zensiert? Und besteht etwa die Möglichkeit, dass Matana das größte Geheimnis an Assange verraten haben könnte?

Deutungsbiotop

Um dem potentiellen Leser die Spannung der Lektüre nicht zu nehmen unterbleiben  weitere inhaltliche Hinweise. Obwohl der Roman nur knapp 180 Seiten umfasst, ist er ausgesprochen komplex und ein idealer Deutungsbiotop. Es gibt Zahlenmystik und magisch konnotierte hebräische Kalligraphie auf Bildern von Frauen mit und ohne Achsel- und Schambehaarung. Es gibt eine Antwort darauf, warum Facebook Erfolg hat (es fehlen die Funktionen negativer Rückkopplung) und Blogs eher weniger und man erfährt an einer Anekdote, wie (un)zuverlässig Wikipedia-Artikel sind (sobald Betroffene mitschreiben, wird dies als Vandalismus ausgelegt). En passant werden aktuelle (und kontroverse) neurophysiologische und philosophische Fragen gestreift und man erfährt von einem Salamander-Experiment des späteren Nobelpreisträgers Roger W. Sperry, der in den 1940er Jahren mehreren Salamandern ein Auge entfernte und es um 180 Grad gedreht wieder einsetzte. Der Nerv regenerierte sich zwar, aber die Salamander waren nicht mehr in der Lage, ihre Beute korrekt zu fixieren und wären verhungert, da den Tieren die Eigenschaft fehlte, ihre Beobachtungen zu beobachten und die Differenz zwischen diesen Wahrnehmungen zu reflektieren (z. B. über Sprache). Matana nahm dies als Beleg, dass es so etwas wie eine objektive Wahrnehmung der Wirklichkeit, eine von jeglichem beobachten unabhängige Realität, nicht gibt.

Natürlich finden sich zahlreiche literarische Verweise. Die eindeutigste ist auf "1984" und wird selber angesprochen, wobei Rosen Unterschiede zur "UniCom"-Welt sieht: Es gibt - im Gegensatz zu Orwell - keine Repressionen und kein verbotenes Denken. Wenn wir etwas verbergen, liegt es im Interesse aller. Kein Staat der Welt hat das jemals anders gehalten. Die viel gepriesene "Transparenz" existiert nur als Schein und ist damit exakt das Gegenteil dessen, was sie vorgibt. Sie wird zum gefährlichen Machtinstrument, wenn sie Offenheit nur simuliert, in Wirklichkeit jedoch als Manipulationsvorlage dient - etwa wenn der Blick eines Benutzers und potentiellen Kunden auf ein bestimmtes Produkt im Supermarktregal gesteuert wird.

Tatsächlich wird die Differenz zu Orwells Ozeanien an Neil Postmans Diktum über das Verbot von Büchern deutlich. In Orwells Welt würden, so Postman, Bücher verboten. In Huxleys Welt wäre ein Verbot gar nicht notwendig, weil niemand mehr auf die Idee kommen würde, eines zu lesen. Die "Replay"-Welt, vordergründig auf Freiwilligkeit ausgerichtet, dürfte langfristig erfolgreicher und langlebiger und damit jedoch auch gefährlicher sein als eine offensichtliche Diktatur.

Es gibt einige Exkurse im Roman, die Steins Ambitionen illustrieren. Zum Beispiel über den Unterschied zwischen Begehren und Gier. Oder über die Interdependenz von Macht und Unterwerfung: Macht ist in Wirklichkeit ohnmächtig. Sie schwindet, sobald die Unterwerfung verweigert wird. Wenn Auflehnung zu große Nachteile mit sich bringt, darf man heucheln, d. h. das Gefühl vortäusch[en], das man nicht hat. Entscheidend in der "Replay"-Welt ist, wie man Unterwerfung heucheln kann wenn eine Rundumvernetzung nebst subtiler Gehirnwäsche dies praktisch unmöglich macht.  

Die Gretchen-Frage

Natürlich ist Rosens Abwendung von der Religion, die gleich zu Beginn thematisiert wird, für das Verständnis des Romans wichtig, vor allem wenn man weiß, dass Benjamin Stein das orthodoxe Judentum praktiziert. Durch seinen Lehrer im Bar-Mizwa-Unterricht wird dem Protagonisten im Buch alles Religiöse auf Dauer verdorben. Dabei hat dies weniger mit dem Mundgeruch des Lehrers und den borstenartigen Haarbüscheln zu tun, die ihm aus den Ohren sprießen, als mit der Interpretation des Sheol, des Totenreichs, welches auf dem Weg in die künftige Welt nach dem Ableben zu passieren sei. Ein Fehlverhalten auf Erden kann zu Verkrüppelungen oder Verkümmerungen einzelner Körperteile führen. Ein Verschließen vor den göttlichen Wahrheiten bedeutet beispielsweise, dass man sich nur noch mit einem Auge wiederfände, so der Lehrer, der von Rosens Augenproblem offenbar nichts wusste. Der pubertierende Junge ist schockiert und nimmt dies als (willkommenen?) Grund für seine Ablehnung der Religion. Bei strenger Auslegung könnte man zu dem Schluss kommen, Rosen sei bereits im Sheol angekommen. Am Rande interessant die Parallele zwischen dem Autor Benjamin Stein und der Figur Ed Rosen: beide weisen eine Muskellähmung an einem Auge auf.

Aber hier enden die Gemeinsamkeiten auch schon. In der Gretchenfrage nach der Religion zeigt sich der deutlichste Unterschied zwischen den Figuren in "Replay" und Steins Vorgänger-Roman. Kann man aus der "Leinwand" die Religion offensiv als eine Art antiideologisches Refugium in einer scheinbar liberal agierenden, von Naturwissenschaften dominierten Moderne herauslesen, ist dies in "Replay" passiv angelegt: Gerade die fehlende Verortung einer zumindest spirituellen Orientierung führt zu einem radikal positivistischen Menschen- und Gesellschaftsbild - mit den entsprechenden Folgen.

Keine apokalyptische Kulturkritik

Im Gegensatz zu Miriam Meckels apokalyptisch-larmoyantem Elaborat "Next", in dem ein "humanoider" Algorithmus erzählt und mit verschwörerischer Attitüde die "globale Zerstörung des menschlichen Individuums" rekapituliert (eine Neophobie, die seit Kubricks "2001" und seinem HAL 9000 arg plump wirkt) rückt Stein wohltuend unaufgeregt die Verantwortlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt. Statt sich im Spannungsfeld einer alarmistischen Kultur- und/oder Technikkritik (nebst ihrer zumeist peinlichen Melange aus jeglichem Zusammenhang gerissener Endzeit-Zitaten längst verstorbener Schriftsteller und Philosophen und einer plumpen Imitation des ihnen verfügbaren Insider-Jargons) auf der einen und den Glücks-Apologeten der vollständig vernetzten Welt auf der anderen Seite aufzureiben und die vorhersehbaren und ermüdenden Diskurse aufzuwärmen, versucht Stein die subtile Attraktivität dieses "UniCom"-Implantats und seiner Möglichkeiten zu erzählen. Dabei wird mehr konstruktive Kritik am Umgang des Menschen mit Technik transportiert als in so manch wohlfeilem Pamphlet. Stein skizziert, wie aus unserer unmittelbaren Gegenwart die Fetischisierung der Vernetzung perfektioniert wird und dabei sukzessive die Freiwilligkeit der Teilnahme einem (zunächst nur latenten) Gruppendruck weicht. Pro forma bleibt die Gesellschaft zwar dem Individualismus verpflichtet, aber wie viel ist ein solcher Individualismus wert, der Privatheit und Anonymität als per se obskur rubriziert und negativ bewertet? Steins Kunststück besteht darin, dass er sich weitgehend moralischen Urteilens enthält und die Gut-Böse-Dichotomien nicht filetiert auf einem Silbertablett serviert. Dies ist in Anbetracht dessen, dass sein Ich-Erzähler Ed Rosen einer der Protagonisten der schönen, neuen Welt ist, nicht ganz einfach.

Der Roman hat zuweilen durchaus auch persiflierende Elemente. Etwa, wenn von der Kommunikation als dem Erdöl unserer Tage die Rede ist. Ein Allgemeinplatz, der seit Jahrzehnten in allen möglichen Variationen immer wieder bedeutungsschwanger als ultimative Weltformel verkauft wird (erinnert sei beispielsweise an Gordon Gekkos Diktum von der "Information" als "wichtigstem Gebrauchsgegenstand" in Oliver Stones "Wall Street" von 1987). Nur ein Beispiel dafür, wie die zum Teil gut versteckten Verweise und Allegorien einladen, das Buch mehrmals zu lesen und geradezu detektivisch nach immer wieder neuen Aspekten abzusuchen. Aber man kann auch etliche dieser oft nur skizzenhaft vorgenommenen Einschübe als überorchestriert und allzu affektiert ansehen. Hat Stein zu viel gewollt? Dieser Eindruck verfestigte sich immer stärker bei mir während der Lektüre. Warum derart ausführliches über die deutsche Kontrollgymnastik Pilates? Welcher Sinn liegt darin, dass Matana Mittelgambit spielt und die Notation geliefert wird? Warum erscheint dann plötzlich Steve Jobs in einem kleinen Cameo-Auftritt - mit seinem letzten, geheimen Projekt, wie suggeriert werden soll? Warum diese Fährten, die letztlich in die Irre führen? Andererseits: Hat nicht der Autor das Recht derart verschlungene Wege zu gehen, die am Ende nur Kulisse sind, um die Handlung voranzutreiben? Lösen sie fruchtbare Assoziationen aus - oder ist ihre Bedeutungsschwere zu oft zu gewollt?

Interpretationsspielräume

Ich war elektrisiert von diesem "UniCom"-Apparat und seiner Möglichkeiten und  gespannt auf die Erzählung der gesellschaftlichen Folgen. Wie sieht es mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem aus? (Es wird Werbung in die Replays eingearbeitet - eine Perversion sondergleichen, von Stein sehr gekonnt versteckt.) Wie verändern sich soziale Interaktionen, wenn Privatheit verdächtig ist? Welche Auswirkungen hat dies auf eine pluralistisch ausgerichtete Gesellschaft? Bedeuten die 70%, die das Implantat verwenden, dass die Minderheit der Verweigerer - immerhin 30% - derart rüde von den Möglichkeiten der Partizipation abgeschnitten werden darf? Ist ein Staat in einer transparenten Gesellschaft fast gezwungen, gewisse Totalitarismen einzuführen? Wie wäre dem zu begegnen?

Diese Fragen werden nur angerissen; eine Ausmalung der Dystopie erfolgt nicht. Vielleicht, weil es ansonsten wieder ein Thesenroman geworden wäre. So präferiert Stein auch ein offenes Ende, welches abermals Spielräume zur Interpretation lässt. Möglicherweise  ist es abgeschmackt von einem Roman die Lösung solcher Fragen zu verlangen und eigene Wünsche in die Betrachtung einzubringen. Aber insgesamt wird die Dimension des Umbruchs der Gesellschaft durch das "UniCom" allzu privatistisch auf die Erlebniswelt von Rosen fixiert. Da hilft es auch wenig, dass die Hauptfigur die These vertritt, die Corporation habe den Staat vor dem Untergang bewahrt. Womöglich wurde der Untergang nur aufgehalten oder sogar beschleunigt. (Nebenbei gefragt: Will man eigentlich von Julian Assange gerettet werden?) 

"Replay" ist jenseits literarischer Aspekte ein Buch mit beachtlichem Diskussionspotential. Es wird interessant sein zu beobachten, ob diese Diskussionen vielleicht endlich einmal jenseits der üblichen Verdächtigen und Verdächtigungen geführt werden wird. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

 









Benjamin Stein
Replay
Roman
C.H.Beck
176 Seiten, Gebunden
17,95
ISBN 978-3-406-63005-7

Leseprobe


Ein kühnes Paradoxon:
die Dekonstruktion mit den Mitteln der Spiritualität
Lothar Struck über Benjamin Steins grandiosen Roman »Die Leinwand«
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