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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik |
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Bedürftige
Literatur Inge Lohmark ist Lehrerin am "Charles-Darwin-Gymnasium" in einem nicht näher genannten Ort in Vorpommern - scheinbar eine Region zwischen Wildostphantasien und deutschem Mezzogiorno. Lohmark gibt als Klassenlehrerin Biologie und Sport in der neunten Klasse - für nur noch zwölf Schüler - fünf Jungen, sieben Mädchen. Es gibt keine Kinder mehr; erst recht keine Gymnasium-Tauglichen. Es ist die letzte neunte Klasse dieser Schule, die in einigen Jahren geschlossen werden soll. Nachmittags beherbergt das Gebäude heute schon die Volkshochschule (was von Teilen des Kollegiums nicht gern gesehen ist). Inge Lohmark ist seit dreißigeinhalb Jahren Lehrerin und vom alten Schlag. Wenn sie "Setzen" sagt, setzen sich die Schüler; die Sportstunde beginnt sie mit einem zünftigen "Stillgestanden". Ihr Unterricht ist kreidelastig und frontal. Sie kennt keine zärtliche Nachgiebigkeit, denn es lohnt sich nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper. Nach wenigen Seiten erkennt man, wie der Name der Schule etwas mit dem Weltbild von Inge Lohmark zu tun haben soll (erste Skepsis). Auf den Seiten 20/21 findet sich der Sitzplan ihrer Klasse. Jeder Schüler bekommt dort die entsprechenden Lohmark-Attribute; der Leser braucht sie sich nicht mühselig aus dem Text heraussuchen (zweite Skepsis). Judith mit ihrer skrupellosen Oberweite, Saskias zwanghafte Fellpflege. Laura ist unauffällig wie Unkraut (später im Buch gibt es eine düster-zustimmende Vision auf die Flora auf der Lauer, die sich schon bald wieder alles zurückholen wird; eine originelle Interpretation der "blühenden Landschaften"). Tabea hat einen krummen Rücken vom linkshändigen Schreiben und Ellen ist ein dumpfes Duldungstier. Der Nervbolzen heißt natürlich Kevin. Dessen stiernackiger Widersacher ist Paul, immerhin widerstandsfähig. Annika hat ein langweiliges Gesicht und Tom ist noch ganz benommen von der nächtlichen Pollution. Schließlich erfährt man noch, dass ein Grottenolm schöner sei. Spätere Ergänzungen folgen. Schließlich musste noch gesagt werden, dass Tom dumm wie ein Konsumbrot ist. Ein Gewinner der Bezirksspartakiade Inge Lohmark erscheint als eine verknöcherte, verbitterte Frau. Sie mag weder die notorischen Versager noch die die Emsigkeit von Pferdeschwanzpferdchen, ihrer Musterschülerin. Sie stellt Fragen im Unterricht und wenn sich viele melden, schränkt sie nachträglich die Antwortmöglichkeiten ein und beobachtet mit diebischem Vergnügen, wie dann die Meldefinger heruntergehen. Sie genießt die fragenden Blicke aus dem Fenster, wenn ein unangekündigter Test den Schülern schweißnasse Hände verursacht. Sie denkt mit Wehmut und Melancholie an ihre schönen Momente in der DDR zurück (Jugendweihe!) und rekapituliert ihre Erfolge im damaligen Sportunterricht (sogar einen Gewinner der Bezirksspartakiade). Natürlich war sie auch bei der Stasi (andere hatten auch unterschrieben; dritte Skepsis). Ihr Mann Wolfgang, der mit großer Akribie Strauße züchtet und mit seinen Kenntnissen hierüber regelmäßig zum Held der Regionalbeilage avanciert, bleibt im gesamten Roman ein Phantom. Naja, sie war nicht seine ganz große Liebe gewesen. Liebe, ein scheinbar wasserdichtes Alibi für kranke Symbiosen. Und Wolfgang mochte, wie er ihr noch vor der Hochzeit sagte, Frauen aus der zweiten Reihe. Jetzt sprach man nur noch selten miteinander und das fiel gar nicht auf, wenn man sich tagelang nicht sah. Irgendwann erfährt man einmal, dass sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann nebst Abtreibung hatte. Den Alltagstratsch gestaltet sie mit ihrem Nachbarn; hier kann sie ganz nach Belieben das Gespräch beenden. Die Tochter Claudia ist schon vor Jahren in den USA geblieben und hat plötzlich - mit 35 - geheiratet. Sie hatte eine Mail geschickt; Inge Lohmark sieht keine Veranlassung zu antworten. Im Lehrerkollegium begegnet sie dem ostalgischen Thiele und dessen krude Sozialismus-Verklärung mit der gleichen Verachtung wie die affektierte Gutmenschen-Kumpelhaftigkeit ihrer Antipodin, Frau Schwenneke, die ihren Schülern ab der 11. Klasse gestattet, sie zu duzen. Beim Mittagessen gelingt es Lohmark mit nur einer privaten Frage Schwenneke zu erschüttern. Meinhard, der Referendar, ist ein tapsender Sanguiniker mit einem Mutterkörper. Er fällt krankheitsbedingt häufiger aus. Geleitet wird das siechende Gymnasium von Kattner, dessen Idealismus natürlich sofort als primitive Realitätsflucht gedeutet wird und der mit monatlichen Ansprachen, die Durchhalteparolen ähneln, Schüler und Lehrer fast physisch quält. Lohmark seziert vor ihrem inneren Auge all diese Phrasen und vorgestanzten Weltbilder. Und mit ihr die Autorin, die einen personalen Erzähler "vorgeschaltet" hat, damit dann noch die Distanzierung offiziell gelingen kann. Natürlich lässt auch sie kein Klischee aus und bedient sich üppig am Phrasentrog. Die Mendel-Karte ist ein Kessel Buntes, Kattners Streitschlichtungen werden mit Friede, Freude, Mutterkuchen kommentiert und - ganz klar - der Letzte macht das Licht aus. Die kurzfristige ungeteilte Aufmerksamkeit der Schüler erringt Lohmark durch das Diktum, dass Männer eigentlich nur Nicht-Frauen seien und mit der ausführlichen Schilderung wie Bullen ihren Samen für Zuchtzwecke hergeben müssen. (Aus der Skepsis wird Ärger.) Zwischen Sarrazin und Mr. Spock "Der Hals der Giraffe" ist ein ermüdendes, ein fades Buch. Wenn der Leser nicht die Lektüre nicht irgendwann abbricht, entwickelt er vielleicht mit der Zeit eine gewisse Hornhaut und erträgt damit halbwegs unversehrt den Rest des Buches. Das wird mit etwas schlechtem Willen als Intention des Romans ausgelegt werden können. Die andere Möglichkeit besteht darin, sich an den zuweilen windschiefen Metaphern weit unter seinem Niveau zu ergötzen und durch die grotesken Überzeichnungen dieses Misanthropismus am Ende sogar eine Katharsis zu erlangen. Nicht auszudenken, wenn diese Lehrerin an einer großstädtischen Schule mit hohem Migrantenanteil unterrichten würde: Ihr archaischer Vulgär-Darwinismus hätte womöglich sarrazineske Ausmaße erreicht. Schon hört man die Entgegnungen: Ja, die Figur sei furchtbar und die Verhältnisse ebenso. Aber dies sei alles absichtsvoll geschehen: Die endlosen Vorträge über alle möglichen biologischen Themen (auf den geraden Seiten im Buch oben links der Name des Kapitels und auf den ungeraden Seiten oben rechts ein thematisches Schlagwort), die Vorhersehbarkeit der Reaktionen der Protagonistin, die Klage über die hoffnungslose Jugend, die Verschwörungstheorie einer Indoktrination des Systems durch so etwas wie die Schulpflicht. Und eine Empörung über das Weltbild Lohmarks dürfte einen Vortrag über Fiktionalität und/oder die Kunst der Übertreibung in der Literatur provozieren. Schließlich dämmert als ultimative Verteidigungsstrategie am Horizont bereits die Kategorie "Satire". Und es bleibt auch alles hübsch ordentlich in der deutschen Provinz, die (sicherlich zum Ergötzen der Kritik) zum Revier umfassender Denunziation freigegeben wird. Als Lohmark mit dem Schulbus fahren muss, weil ihr Auto defekt ist, bekommt sie schon mehr mit, als sie möchte. Sie beobachtet die Fahrschüler (eine ungewöhnliche Bezeichnung für die auf den Schulbus wartenden), die Hierarchien und Gruppenspielchen der Meute mit forensischem Interesse und fürchtet nichts mehr, als doch noch irgendwie in Raufereien ordnend einschreiten zu müssen. Lauter Halbstarke und Spätzünder, somnambule Gespenster, gedächtnislose Wesen, für alle Zeiten verloren. Aber warum aufregen? Der Mensch war ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis. Ein zugegeben recht erstaunliches Tier, das den Planeten für kurze Zeit befallen hatte und schließlich, genau wie ein paar andere wundersame Wesen, wieder verschwinden würde. Fernsehveteranen kommen zuweilen die hochgezogene Augenbraue des Halb-Vulkaniers Commander Spock in den Sinn und vergeben bei diesen ach so zivilisationskritischen Einwürfen großzügig ein "faszinierend". Inge Lohmarks Ideal, die Zucht, diese Erziehung zum Guten des Menschen, ist mit den Mitteln des öffentlichen Dienstes nicht möglich. Vor allem deshalb weil sie gar nicht erwünscht ist. Bedürftige Literatur Es bleibt offen, warum die Genrebezeichnung "Bildungsroman" gewählt wurde. Wird in den biologistischen Vorträgen der Leser gebildet (unterstützt durch hübsche Zeichnungen, damit die Autorin nicht so viel zu beschreiben hat)? Oder wird hier - ganz klassisch - ein "Bildungsprozess" von Inge Lohmark aufgezeigt? Ist das am Ende schüchterne Interesse für die Schülerin Erika (sie holt sie sogar einmal von ihrem entlegenen Bauernhof ab, als der Schulbus einen Unfall hat) Indiz für einen Abfall "vom Glauben an Gott Darwin" wie ihn der "Klappentext" unterstellt? Sollte dies intendiert sein, scheitert Schalansky auf ganzer Linie. Denn die Figur zeigt keine markante Entwicklung, auch wenn sie am Ende ph(r)asenweise von ihren eigenen Reden überrascht wird. Als sie während einer Schulstunde - es geht um den Hals der Giraffe und deren Entstehen in der Evolution - von Kattner herausgerufen, mit den Aggressionen der Mitschüler Ellen gegenüber konfrontiert (man hatte sie vollkommen verschüchtert und malträtiert auf dem Jungenklo gefunden) und eine Verletzung der Aufsichtspflicht mit "Konsequenzen" angedroht bekommt, entsinnt man sich der Passage zu Beginn, als Ellen schon jetzt überflüssig wie eine alte Jungfer und als Opfer auf Lebenszeit kategorisiert wurde. Sollte eine Empathie für die gequälte Schülerin entstanden sein, bleibt sie gut verborgen; kaum mehr als bloße Behauptung. Lohmark kehrt in die Klasse zurück und setzt ihren Vortrag über die Giraffe fort. Dann schaut sie Mädchen beim Ballspielen zu, entsinnt sich an ihre Tochter, die eines Tages mitten im Unterricht weinend auf sie, Lehrerin und Mutter, zukam. Dabei erinnert sie sich mehr an den Zwiespalt zwischen (parteilicher) Mutter und (sich neutral zu gebender) Lehrerin als um die Nöte Claudias. Am Ende steht sie am Zaun und schaute. Was bleibt? Dem sozialdemokratisierten Mittelschicht-Bildungsbürger des 21. Jahrhunderts wird das angenehme Gefühl geboten, auf der richtigen Seite zu stehen. Statt die tieftraurige und verletzte Persönlichkeit einer Inge Lohmark hinter diesem Panzer aus Sarkasmen und Zynismen zu suchen, statt sich der Protagonistin zu nähern und ihre Geschichte zu erzählen begnügt sich Judith Schalansky fast immer mit dem Zeigen der rauen Oberfläche und Denunziationen. Derart wenig Interesse an einer Figur, einem Thema, einer Landschaft, einer Geschichte erzeugt am Ende nur dürftige, ja bedürftige Literatur. Gregor Keuschnig
Die
kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. |
Judith
Schalansky |
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