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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Substitution unbewältigter Trauerarbeit?

Über Christa Wolfs Autotherapeutikum
»Stadt der Engel«

Von Peter V. Brinkemper

Christa Wolfs »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud« ist ein pseudo-epischer Bluff. Eine Sommerlektüre voller spätlinker Weltwut und Politikmüdigkeit. Ein ozeanisch aufgepepptes, restromantisches Muschelbiedermeier. Ein nachträglich ausgeschriebenes, nach eigener Erklärung in manchen Personen und Situationen fiktionalisiertes Reisetagebuch in Ich-Form. Bestenfalls vergleichbar mit Thomas Manns Tagebuchliteratur und dem Roman zum Roman, »Die Entstehung des Doktor Faustus«. Entstanden anlässlich eines Aufenthaltes der Autorin als Getty-Stipendiatin im Land des ehemals auftragsbeschaffenden Großen Gegners USA 1992/93, in einem Land kurz nach der Zeit der DDR, das zwischen Bush Senior und Clinton immer wieder Krisen und Züge kriegerischer Entgleisung zeigt, mitten im medial verblödeten Wohlstand, It’s the economy, stupid. Es ist für Christa Wolf die Zeit der Enttäuschung und der kulturpolitischen Spießrutenläufe durch das West-Feuilleton, anlässlich der Erzählung »Was bleibt« (1990), in der ihre offene Stasi-Überwachung seit 1976 zum Thema wird. Dazu kommt die Enttarnung Wolfs 1993 als, wenn auch harmlose Inoffizielle Mitarbeiterin Margarete1959 bis 1962 in den Stasi-Akten. Das zerrissen inszenierte Ich in »Stadt der Engel« erhält zunächst kein episches Relief, das über einen privatistischen, vor-politischen und vor-poetologischen Schmerz hinauswüchse. Es herrscht eine anhängliche Trauer vor: über sich selbst und den plötzlich wie aus Himmelshöhen oder vom Erdboden verschwundenen Mauervolksstaat. Dieses Ich nimmt in Amerika Asyl, Auszeit und Urlaub von sich selbst. Die Feier dieses Buches als Roman auf dem Klappentext ist fraglich, herausgekommen ist ein romanhaftes und essayhaftes, nur leicht poetisches Betroffenheits-Tagebuch, ein Medienhype des vorläufig in die Berliner Pappelallee umgezogenen Verlages, der bereits, Frankfurt am Main untreu, auf den versammelten  Berlinischen Weltgeist auf dem Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden schielt.

Wolfs Verdienst: Die Unteilbarkeit des Himmels
Das Ich und seine Identität bleiben in Wolfs neuem Werk so unbestimmt naturalistisch und zugleich traumhaft-traumatisch wie jener der Wirklichkeit abgeschaute Witz am Anfang, in die USA mit dem noch gültigen Pass der
»GDR« einzureisen.

»Are you sure this country does exist? – Yes, I am, antwortete ich knapp, das weiß ich noch, obwohl die korrekte Antwort >>no<< gewesen wäre«.

Vieles in diesem »Roman« ist Substitution unbewältigter Trauerarbeit, vielleicht auch polit-poetische Halsstarrigkeit oder Unfähigkeit, das Danach zu begreifen, ohne das Davor zu vergessen. Die Nachwehen der in rasantem Tempo aufgelösten DDR sitzen tief im Herzen einer psychokonspirativ staatspatriotischen Autorin, die seit ihrem verdienstvollen Debüt in den 60ern, bei aller Nachdenklichkeit und Reserve im und gegen das System in Ostdeutschland, immer auch Züge einer idealisierenden Musterschülerin hatte, die zwischen Parteidisziplin, Spitzengesprächen, Lektoratstätigkeit und Leiden im Dienste des eigenen Schriftstellertums die unmögliche realexistierende linke Balance suchte, zwischen dichterischem Anspruch, individueller Biographie und sozialer Wirklichkeit. Christa Wolf hatte und hat ihre Leserinnen und Leser in Ost und West, zu Recht, zumal in der Projektion des »geteilten Himmels«, dem zwischen liebenden Individuen personalisierten Dialog- und Konkurrenzspiel von Kapitalismus und Kommunismus, zwischen vorgeblicher strategischer Selbstbehauptung und gemeinsamer Selbstverwirklichung. Wie viel davon im Alltag der DDR bis zum Mauerfall de facto möglich war, konnte nur der konkrete Vergleich zwischen Privilegierten, auch ins Ausland reisenden Sportlern, Politikern, Künstlern, Wissenschaftlern, Intellektuellen und den ganz normalen Insassen des speziell-deutschen Sozialismus erweisen.

Heiner Müller hat das auch stimmig in seiner 4.November 1989-Rede in Berlin ausgedrückt: »Ein Ergebnis bisheriger DDR-Politik ist die Trennung der Künstler von der Bevölkerung durch Privilegien. Wir brauchen Solidarität statt Privilegien.«

Nun kann man den Himmel gar nicht wirklich teilen, trotz aller territorialen Vermachtungen und Bewaffnungen, weder beim Dachdecken, noch in der Stratosphäre noch in der Philosophie, noch in der rasanten globalen Verflechtung heute, es sei denn, man verficht einen paranoiden Monotheismus der eigenen Werte im Angesicht des apokalyptisch dämonisierten Gegners. 

Der Maßstab für Poetik und Roman: »Kassandra«
Christa Wolfs neuster
»Roman« verhält sich zu einem wirklich epischen Werk, wie die Frankfurter Poetik-Vorlesung »Voraussetzungen einer Erzählung« zu der ebenfalls 1983 erschienenen Erzählung »Kassandra«. »Kassandra« ist das durchaus angreifbare, aber in polemisch-poetischer Verve verfasste knappe Meisterwerk und Erfolgsbuch der 80er Jahre, zwischen anklagender Frauenstimme und nüchterner Darstellung der archaischen Rituale militant-korrupter Männerherrlichkeit. Was Christa Wolf in der Figur der Kassandra tatsächlich und für das Publikum spürbar in epischer Form verdichtete, war die weibliche Sicht der von Apoll mit dem Sehen begabten und verfluchten, durch die Griechen vergewaltigten und verelendeten Frau, die vom griechischen Heerführer Agamemnon nach der Vernichtung ihrer Heimat Troja als Kriegsbeute zurück nach Mykene mitgeschleift wird, bevor er und sein Gefolge, angestiftet von seiner Gemahlin Klytaimnestra, wegen seiner ruchlosen Bereitschaft, sogar die gemeinsame Tochter Iphigenie für den Krieg zu opfern, hasserfüllt ermordet wurde. Die Orestie jenseits der klassischen Goetheschen Befriedung als mitgefühlter blutiger Finalakt von »Kassandra“ am »viereckigen« Mykenischen Tor, als tödliche Endstation des »totalen« Siegers im trojanischen Krieg, dem schon die Homerische Ilias, mit ihrem um den heroischen Zorn des halbgöttlichen Cowboy-Söldners Achill kreisenden Heldentheater und olympischen Götterpoker, kein positives Porträt, sondern das Schmachbild eines feigen, hinterhältigen Intriganten gönnte. Der Abstieg einer anerkannten Königstochter, Seherin und Repräsentantin einer friedlichen zivilisierten Kultur in Kleinasien zur fast blinden und doch wieder anders sehenden Gefangenen und Geächteten, in einer Familien-Trutzburg, die vom Machtwillen und der Kriegslust der griechischen Eroberer Agamemnon und Menelaos mit dem spartanischen Helena-Nato-Bündnis-Trick angesteckt war und in der ein Stasi-morpher oder BND- und MAD-konformer Eumelos seine Propaganda- und Spitzelpolitik trieb, - alles dies konnte nicht nur als ein einfaches Modell für die DDR und den Kalten Krieg gelten, sondern für die systemübergreifende Selbsterniedrigung des Menschen durch den Menschen als Apparatschik, der Degradierung vom Subjekt zum Objekt, zur Konsum-, Bett- & Kriegshure (»Achill, das Vieh«), in der frühen Antike und in der Gegenwart der Hochrüstung zwischen West und Ost, einer Ära des Umbruchs und des möglich werdenden Abbaus atomarer Bedrohung durch rockig und literarisch flankierte Abrüstungs- und Friedens-Proteste in der gesamten Welt.

Die »Voraussetzungen« zu »Kassandra« waren und sind ein Ideen-, Arbeits- und Reisetagebuch, voll von poetologischen, kulturhistorischen und gesellschaftlichen Reflexionen, auf der Suche nach einem weiblichen Schreiben, das sich nicht in einer Frauenecke verkroch, sondern auf gesellschaftliches Gehör setzte. Wenn man einen produktiven Vorwurf gegenüber der Christa Wolf der frühen 80er Jahre haben könnte, dann den: Sie hätte die diskursive Rationalität ihrer poetischen Ausführungen und die aufgebrachte Emotionalität ihrer Erzählung zu einem doppelstimmigen, kontrapunktischen Roman zusammenfügen können. In der Literatur und im Leben. Noch als Echo auf diesen Kontext heißt es nun: »Warum aber kam mir der Konflikt des Orest, der Iphigenie menschlich vor, der unserer Atomphysiker aber unmenschlich, fragte ich Peter Gutman«.

Zum Vergleich:
Ein matter Überzieher, aber doch mit einer Geburtsodyssee

Verglichen mit diesem Gedankenmodell von oft brillanter Reflexion und vehementer Erzählung fällt »Stadt der Engel« zunächst eher quengelig und bisweilen mau aus. Der »Overcoat of Dr. Freud« bleibt ein stellenweise unterhaltsamer, doch insgesamt matter Überzieher, ein Zaubermantel mit zarten Zipfeln einer mutmaßlich tieferen Wahrheit, mag sein, für Fans und kulturstasiförmige Kritiker. Wolf begibt sich auf die Spur der deutschen Exilanten in L. A. Selbst immer noch wie angewurzelt stehen geblieben, als vormaliges Subjekt der Vorstellung des einstmals geschlossenen Systems, will sie Passagen über die Erfahrung des Exils exzerpieren, Proben nehmen, einordnen, verstehen lernen, wie in einem von außen gestellten Experiment: »Was es hieß, wurzellos zu sein. Und zu erfahren, dass niemand, kein Einheimischer in ihren Exilländern und erst recht keiner ihrer ehemaligen Landsleute, ermessen konnte, wie die Jahre in dieser Schattenexistenz sie veränderten.« Die Verbindung nach Berlin schrumpft auf das Telefon. Immerhin outet sich Wolf, die den Luxus des kleinen Badezimmers dem großen vorzieht, bald als Star-Trek-Anhängerin, weil die Enterprise die »edlen Werte der Erdenbewohner in die fernsten Galaxien“ trage. Auch vor der Teilnahme an nächtlichen Gesprächen der Stipendiaten, Freunde und Bekannte, die man so kennen lernt, selbst über Entführungen und Schwängerungen durch Außerirdische in Fliegenden Untertassen, scheut sie nicht zurück. Ein Hauch von californischem Nerdism schwebt durch diese Zeilen. Allmählich bewegt sie sich von einem Brother-»Maschinchen« auf erste PC-und Internet-Erfahrungen zu. Sie ist von der brutalen Direktheit der US-Medienbilder, vom Elektrischen Stuhl, über Madonnas Sex-Buch und »Magic« Johnsons umstrittenes Basketball-Comeback trotz HIV-Infektion, schockiert. Schuberts »Winterreise« muss für das durchgängige Entfremdungsgefühl herhalten. In den menschelnden Gesprächen und Betrachtungen gibt es oft nur eine marshmallow-weiche Logik. An der himmlisch temperierten Westküste geht es auch im Clinton-Wahlkampf euphorisch, aber politisch korrekt zu. Man lebt wieder auf, nach dem zweiten Golfkrieg, zwischen Hussein und Bush Senior, man duckt sich bei letzten Raketenschlägen gegen Bagdad, verfolgt die ersten Probleme der demokratischen Regierung: Mit dem Grundsatz »Don’t ask, don’t tell« wird die harte Homophobie in der Armee nur halbherzig bekämpft, es folgt die brachiale Auslöschung der Waco-Sekte in Texas durch das FBI und das Ende des Rodney-King-Prozesses. Brav dümpeln die Intellektuellen aller Nationen vor sich hin, riskieren hier und da mal einen Spruch: »If Clinton doesn’t win, I have to leave my country.« Eine romantisch-liberale Übertreibung, born and made in the USA, die Christa Wolfs Verschraubung in ihren alten Problemstaat seltsam leichtsinnig durch die Ideologie universeller Wahl konterkariert. Immerhin schreit ein Francesco anlässlich Paul Flemings Sonett »An sich« (»Nimm dein Verhängnis an, lass alles unbereut.«) über das protestantische Deutschtum in traditionskritischer Manier heraus: »Eure Selbstunterdrückung bringt ja das ganze Unglück hervor!«
Der Leser atmet kurz auf. Andererseits gebe es auch für die anbrechende Ära Clinton wenig echten Enthusiasmus unter den US-Bürgern. Ein wirklich packender epischer Stoff will sich bei soviel medialer und touristischer Nachbereitung nicht einstellen, ist vielleicht auch nicht intendiert. Wolf ist auf ihre Weise bereits im Neuen Second Life angekommen, die Poetik der Fremd- und Selbstbeobachtung hilft ihr dabei. Ähnliches gilt für Wolfs Rolle bei ihrem Projekt der Aufarbeitung des durch ein halbes Jahrhundert zwischen Kapitalismus, Sozialismus, Faschismus und Stalinismus gehenden Briefwechsels zwischen ihrer Freundin Emma und einer ihr zunächst unbekannten Adressatin mit dem Kürzel L. (Lily), die sich als radikale, lebenslustige und leidensfähige Anarchistin in politischen, privaten und philosophischen Angelegenheiten erweist. Immer wieder arbeitet Wolf ihre aktuelle Bedrängnis durch die Veröffentlichung ihrer IM-Stasi-Tätigkeit in Deutschland mühsam am Freudschen Imperativ ab: »Ohne Vergessen könnten wir nicht leben.« Bertolt Brechts Vers über Los Angeles als Äquivalent für die Hölle, die für Shelley in London lag, kommt ihr gelegen. Am Ende reihen sich Szenarien beliebig aneinander und lassen kein touristisches Klischee aus: der Gospel-Gottesdienst in der First African Methodist Episcopal Church, in der Spielhölle von Las Vegas, die Salzwüste, der Universal-Film-Themenpark von Hitchcocks »Psycho« und »Sabotage« (Der Fall von der Freiheitsstatue) bis Spielbergs »Der Weiße Hai« und »E.T.«, das Hearst Castle, eine Inspiration für den von Wolf unterschätzten Welles-Klassiker »Citizen Kane«, die Atombomben-Entwicklung und Erstzündung in Los Alamos, New Mexiko, der Grand Canyon, die Navajo- und Hopi-Indianer. Auch die konfliktreiche Exilgeschichte deutscher Emigranten wird nur oberflächlich angerissen. Nur an einer Stelle verdichtet sich im Small Talk die subjektive Historiographie, beim sicheren Gespür für Brecht und seinen zweiten »Galilei« und Thomas Mann und seinen zwölftönig komponierten »Doktor Faustus« (beide 1947) in Hollywood. Bedenklich bieder und eintönig bleiben die Reminiszenzen an die politische und dichterische Parteidisziplin in der DDR. Schließlich kommt doch Fahrt und Bewegung in den Text, vielleicht auch, weil Christa Wolf aus der umfriedeten Künstler- und Gelehrtenkolonie des CENTER on the road geht.

Einarmige Banditen - Warum nicht mehr Marx?
Nicht vorzuwerfen ist der Autorin, dass sie daran leidet, dass die DDR als eigenständiger Staat nach 1989, nach dem Jubiläumsbesuch Gorbatschows, dem Zerbröckeln der alten Macht, den Botschafts-Flüchtlingen, den staatskritischen Freiheits-Demonstrationen, dem Mauerfall und den ersten wirklich demokratischen Volkskammerwahlen, nicht weiter existierte. Die DDR war und blieb kein alternatives Reformprojekt oder konföderatives Gebilde neben der Bundesrepublik. Christa Wolfs alte und neue DDR waren nicht von dieser Welt, City of Angels and City of Devils. Die Kontinuität des alten zwillingshaften Systems zwischen sportlicher Konkurrenz, Subversion und Subvention bleibt ein altlinker Schattenwunsch, der heute mit dem allseits hofierten Wirrwar des parakommunistischen und demokratiezerstörenden Turbokapitalismus in China konfrontiert wird. »Doch die Verhältnisse, die sind nicht so.« Oft stöbert die von Wolf inszenierte Erinnerungsarbeit wie verstört in den Zitaten, Quellen und Erinnerungen, verunklart die Chronologie des normalen Tagebuchs und der empfundenen Biographie. Christa Wolf erinnert daran, dass Soldaten auf den Dächern am Berliner Alexanderplatz am Tage ihrer Rede auf der Großen Demonstration vom 4. November 1989 den Schießbefehl (für den Fall, dass die Demonstranten vom Weg abwichen und zum Brandenburger Tor in den Westen durchbrachen) nicht vollzogen und ihre Vorgesetzten zum 9. November vorsorglich die Munition einsammelten. Christa Wolf plädierte in ihrer Rede für einen staatsloyalen Reformkurs und gegen politische Wendehälse und Republikflüchtige: »'Traum'. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg! Sehen aber die Bilder der immer noch Weggehenden, fragen uns: Was tun? Und hören als Echo die Antwort: Was tun!« Dies ist ein letztes äußerstes Plädoyer für den Staat, nicht aber die Menschen, die ihn als einfache Bürger und Mediengestalten  abschafften? Ein atemberaubendes Szenario: Was musste an wirklicher Zivilcourage, einsichtiger Vorsorge und kluger Besonnenheit zusammenkommen, um den durchweg gewaltfreien Erfolg der »Nachholenden Revolution« (Jürgen Habermas) durchzusetzen, die den rasanten institutionellen Ausgleich des Demokratiedefizits in allen osteuropäischen Staaten brachte. Der weitergehende deutsch-deutsche Annäherungs-Prozess war auch durch die um 1989/1990 von unten demokratisierte DDR und die Umsetzung von Bürgerprotest und Bürgerbegehren in erstmalig freie formelle Wahlen ohne Parteidiktatur nicht aufzuhalten. Für die Mehrheit ging es nicht um Reform, sondern um Vereinigung mit der BRD und damit faktisch um die Liquidierung der DDR. Auch heute noch kann man den übereilten ökonomisch orientierten Anschluss der neuen Bundesländer an den Westen zum Zwecke der CDU-Mehrheitsbeschaffung und der europäischen West-Dominanz monieren. Eine Kritik, wie sie nicht nur im Osten, sondern auch im Westen an Kohls schön-schnellem Weg zur Einheit laut wurde und sie auch heute noch gilt, im opportunistischen Merkel-Zeitalter und in der Phase der endlichen Annäherung der Westparteien an die böse Linke als Koalitionspartner.

»Stadt der Engel« ist ein larmoyant-unterhaltsames »Roman«-»Tagebuch« -Pastiche, das die aufgebrochene Geschichtlichkeit der Nach-Bush-Senior-Ära und den postkommunistischen Revisionseifer 1992/3 wunderlich atmet, aber gerade, weil es erst 2010 erscheint, auch einen völlig anderen Ton hätte anschlagen können. Reicht die linke Freizeit-Wellness am Pazifischen Ozean für die dem System kaum entronnene, ungeteilte Himmelsanbeterin und idealistische Kindheitsmusterpoetin? Ist dies die einzig richtige Kur, auch mit Blick auf die überhitzte postsowjetische und (ost-)europäische Situation? Der Literatur um 2000 täte eine neuste Marxsche Bissigkeit gut. Dies, mit Verlaub, als Einwand, angesichts des Pyrrhus-Sieges eines dreisten Bindestrich-Kapitalismus (Raubtier-Heuschrecken-Turbo-Doping-Casino usw.), der sich hastig im Sinne von Good Old Marx von einer Finanz- und Öko-Krise in die nächste stürzt und dabei alle heutigen und ehemaligen Weltmächte und Weltbürger empfindlich schwächt. Christa Wolf, erlöse uns von den einarmigen Banditen, nicht nur in Las Vegas, sondern überall.
 










Christa Wolf
Stadt der Engel
Roman
Suhrkamp
416 Seiten
24,80 €
ISBN: 978-3-518-42050-8

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Glanz & Elend
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