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Artikel online seit 12.12.13

Polyphoner Bürokratenkosmos

Der letzte Roman von David Foster Wallace »Der bleiche König«

Von Gregor Keuschnig




 

Wo Johannes Jakobus Voskuil mit seiner Figur Maarten Koning in »Das Büro« den Büroangestellten der 1950er Jahre beschrieb(?), erzählte(?) oder einfach nur darstellte und vor allem bei den Kritikern auf Wohlgefallen oder sogar Begeisterung stieß für die ein Büro schon immer ein exterritorialer Un-Ort und Brutstätte der grauen Unterdurchschnittlichkeit gilt und die Kafka-, Bartleby/Melville-, Abschaffel/Genazino-, Händler- oder Stromberg-Allegorien nur so aus den Zeilen purzeln, wo also das Vor-Urteil immer eine gute dreiviertel Länge Vorsprung vor der Erfahrung hat und niemals eingeholt werden kann, kommt natürlich auch ein Buch wie »Der bleiche König« von David Foster Wallace mit entsprechenden Vorschusslorbeeren in die Kaminzimmer des deutschen Literaturrichterwesens. Nichts lieber, als die eigenen Ressentiments wenn möglich wortgewaltig und mit der unvermeidlichen Portion Ironie bestätigt zu finden. Bei Wallace kommen noch zwei »Vorzüge« hinzu, die nahezu unschlagbar sind und immer Gewähr für Aufmerksamkeit gebieten: Er ist tot (weiterer Unter-Pluspunkt: Freitod) und er ist bzw. war Amerikaner. Aber dann bleibt der große (Begeisterungs)-Sturm aus. Warum? Darauf wird noch einzugehen sein.  

Zunächst: Wie weiland Andreas Maier, der zur Rezension von Günter Grass' »Die Box« freimütig bekannte, vor diesem noch nie ein Buch von Grass gelesen zu haben, so gestehe ich dies in Bezug auf David Foster Wallace und dem »bleichen König«. Nun bin ich natürlich nicht Andreas Maier und möchte mich auch nicht mit ihm vergleichen, aber es kann schon manchmal ein Vorzug sein, einen Schriftsteller zum ersten Mal zu lesen. Die Fahnen zum »bleichen König« erreichten mich nur durch einen Zufall: ich wurde eingeladen, am »Social Reading« des Verlags teilzunehmen, was mir selbstverständlich unmöglich war, denn ich kann nicht in Gemeinschaft und/oder in vorgefassten Portionen lesen. Trotzdem war der Verlag so freundlich, mir ein Paket mit losen Blättern zu schicken (das Buch lässt immer noch auf sich warten; was bedeutet, dass ich die Textstellen in den Fahnen, die mit schwarzen Quadraten statt Buchstaben versehen sind, nie werde nachlesen können). Die Entscheidung, nicht teilzunehmen, war richtig, denn die Teilnehmer, die schreibenden Leser der Seite waren/sind ausgesprochene Wallace-Experten und –Exegeten und sie lesen dann immer die ganzen anderen Bücher von Wallace sofort mit, entdecken Verknüpfungen und dies oft vor der Beschäftigung mit dem eigentlichen Gegenstand (vulgo: Roman), was kein Vorwurf ist sondern was ich selber kenne, wenn ich beispielsweise Bücher von Peter Handke, Josef Winkler, Rainer Rabowski oder Martin von Arndt lese. 

Also auf ins Getümmel und früh zeigt sich, dass man die wenigen Hinweise des Übersetzers Ulrich Blumenbach zu Beginn dann wider Erwarten doch ganz nützlich findet, obwohl sich ja ein Roman eigentlich ohne solche Hinweise verstehen müsste, aber Wallace hat das Buch nicht zu Ende gebracht, wählte den Freitod und damit handelt es sich um ein unvollendetes Fragment, was man am Ende von Wallaces Freund und Verleger Michael Pietsch eindringlich erklärt bekommt. Pietsch räumt ein, korrigierend eingegriffen zu haben; einige Kapitel, die nicht beendet bzw. verworfen wurden, werden in kleinerer Schrift (warum?) als eine Art Epilog abgedruckt, wobei nicht klar ist, ob es alle unbearbeiteten Kapitel sind oder eine Auswahl des Verlegers.

»Der bleiche König« ist neben vielem anderen auch eine Zeitreise, er spielt Mitte der 1980er Jahre, genauer gesagt 1985, wobei es durchaus Rück- und auch Vorblenden gibt, vor allem in die Kindheit und Jugend einiger Protagonisten, die dann später fast alle (immer nur: fast) Angestellte der US-amerikanischen Bundessteuerbehörde »Internal Revenue Service« werden und exakt um diese IRS dreht sich dieses Buch, speziell um ihre Filiale im Mittleren Westen, in Peoria, Illinois, einer Provinzstadt, die mehr oder weniger von dieser Behörde existiert. Das Personal des Romans ist ausladend und man ist gut beraten, sich eine Liste der Figuren anzulegen, die oft (aber nicht immer) im Laufe des Buches wie in einem Memory-Spiel plötzlich wieder auftauchen und sei es auch nur als Nebendarsteller. Es beginnt mit Claude Sylvanshine, der mit dem Flugzeug nach Peoria reist. Er ist – das wird der Leser später noch bemerken – ein »Faktenseher« mit einem »Teilzeitleben in einer Welt widerspenstiger, schwärender Details«, ein Leidender, der alles aufsaugt wie ein Schwamm bzw. assoziiert und dabei mehr als nur einmal vom Wesentlichen abzukommen droht. Grandios diese Schilderung der überfallartig aufkommenden »Lockvögel, die ins Nichts führen«, etwa das Nachdenken über »die Zahl der Grashalme im Garten vor dem Haus des eigenen Postboten«, das Rekapitulieren über das »metrische Gewicht aller Flusen in allen Hosentaschen aller Menschen in der Sternwarte von Fort Davis, Texas, an jenem Tag des Jahres 1974, an dem eine angekündigte Sonnenfinsternis von Wolken verdeckt wurde« oder das »durchschnittliche Molekulargewicht von Torf«.
Schnitt.
Es gibt es eine Kindergeschichte über den absoluten Altruisten Leo Stecyk, der schon als Schüler mit einer aufdringlichen Gutmütigkeit und mit salbenden Worten den Mitschülern verzeiht, die ihn verprügelt haben, jeden einzelnen besucht und ihm sein Verzeihen noch erklärt und sich dann wundert, wenn von den 322 Einladungen zum Geburtstag nur neun Personen kommen. Viele Kapitel später taucht dieser Leo wieder auf – er ist stellvertretender Personalchef, aber irgendwie auch mehr. In einem im Anhang aufgeführten, von Wallace verworfenen Kapitel, heißt es über Leute wie Stecyk und deren Affinität, in einer solchen Behörde zu arbeiten: »Die pathologisch Netten bilden den einen Grundtyp, der zum IRS gravitiert, weil es so ein trostloser, unbeliebter Job ist – keiner dankt es einem, was das Gefühl der Aufopferung nur intensiviert«.
Schnitt.
Es gibt auch andere Typen, wie etwa David Cusk, der seit seiner Jugendzeit mit seinen »zerrüttende[n] öffentliche[n] Schweißausbrüche[n]« kämpfen muss, Ausbrüche, die vorzugsweise bei allen unpassenden Gelegenheiten auftreten und der, was man nachträglich rekonstruiert, schon mit Claude im Flugzeug saß.
Schnitt.
Die ehemalige Streunerin, die ihre Mutter bei einem brutalen Mord verliert, findet ebenfalls eine Anstellung und als deren Memorykarte von Wallace wieder aufgedeckt wird, sucht man das Gegenstück erst einmal hastig einige hundert Seiten zurück.

So laufen die scheinbar zu Beginn so disparaten Ereignisse und Schilderungen alle bei der IRS in Peoria zusammen, aber auch das geschieht nicht wohl geordnet und paritätisch und manche Figur, die vielversprechend eingeführt wird, taucht im späteren »Bürokratengewimmel« nie mehr auf. Auch wechseln sich Kapitel von einer halben oder einen Seite mit ellenlangen und zuweilen ermüdenden ab. Da erzählt im Rahmen einer Art Mitarbeiterbefragung (inszeniert von Leo Stecyk) Chris Fogle über einhundertsieben Seiten über seine Kindheit und Jugend der 1970er Jahre – aber inmitten der beim Leser sich einstellenden Ermüdung wird immerhin ein Zeit- und Sittenbild des amerikanischen Mittelstands in der Provinz geliefert. Gegen Ende gibt es ein 79seitiges Kapitel, welches im Großen und Ganzen aus einem Dialog zwischen Shane Drinion und Meredith Rand im Meibeyer's besteht, einem (fiktiven) Happy-Hour-Feierabendlokal in Peoria, welches von etlichen IRS-Mitarbeitern aufgesucht wird, wobei Shane sich als eher gefühllos-kauziger Junggeselle zeigt, während die schöne »Sahneschnitte« Meredith nassforsch und spöttisch sich ausgerechnet diesem Shane offenbart und sukzessive ihre Eheprobleme mit dem angeblich schwerkranken Edward ausbreitet, den sie mehr aus Mitleid und in Erwartung eines baldigen Todes geheiratet hatte, der sich aber nun nicht einstellt.
Bemerkenswert in diesem Kapitel ist weniger das Gesagte als die laufenden Einschübe, die erzählen, wie Shane immer ein bisschen mehr von seinem Stuhl levitationsartig zu schweben beginnt, was – welche Überraschung – weder Meredith noch die Kollegen bemerken, die sich lieber ein Baseballspiel im Fernsehen ansehen. Gegen Ende sind es 4,45 cm, die Shanes Gesäß von der Sitzfläche des Stuhls trennt. Vor allem von diesem Kapitel, welches vielversprechend beginnt, wird man mit der Zeit einigermaßen enttäuscht, da die Ausformung der Charaktere (sowohl der beiden direkt Beteiligten als auch von Meredith' Ehemann, der zum Gegenstand des Gesprächs wird) nicht fortschreitet, vielleicht aber auch, weil die Erwartung des Lesers (radikaler Eheeinblick und/oder heißer Flirt mit dem Kauz) einfach nur ausbleibt und das Gespräch in etwa so verläuft, wie solche Gespräche auch im »richtigen Leben« verlaufen – nämlich ins Nichts, in Unverbindlichkeiten und die scheinbar intime Atmosphäre verflüchtigt sich gerade als es beginnen könnte interessant werden zu Gunsten des allgemeinen Smalltalk, nur das im »richtigen Leben« niemand vor gespannter Aufmerksamkeit oder was auch immer auf seinem Stuhl zu schweben beginnt. Schwebender statt magischer Realismus.

Nicht auszudenken, was Wallace da noch gestrichen, verändert, eingefügt und wie er weitergeschrieben hätte. Intensiv gelangen ihm die Kapitel, in denen es um die trockenen, spröden Arbeitsabläufe, die Regeln des Formularwesens nebst Ausnahmen und die innerbehördlichen Interaktionen und Kommunikationen geht und das »Dienstwelsch« nicht nur in den Dialogen bestimmend wird. So werden die Mitarbeiter zusätzlich zu ihren Namen mit ihrer Gehalts- bzw. Besoldungsgruppe versehen wie Soldaten in einer Armee mit ihrem Dienstgrad. Zum Teil exzessiv wird da in die Materie des amerikanischen Steuerrechts eingedrungen und bei der Lektüre erinnert man sich manchmal daran, dass von sogenannten Experten das deutsche Steuerrecht als wesentlich komplizierter bzw. komplexer betrachtet wird, was in Anbetracht dessen, was man dort über das amerikanische Steuerwesen der 1980er Jahre liest, merkwürdig anmutet, aber dann spielen die politischen Implikationen hinein: Diese 1980er Jahre sind der Beginn des Markt- bzw. Wirtschaftsliberalismus, Reagan ist Präsident und die gravierenden, politisch motivierten Änderungen stehen womöglich unmittelbar bevor. Insbesondere hierauf wäre der Roman sicherlich noch zurückgekommen: Von dieser Zeit an nahm nicht nur die Steuerpolitik in den USA eine Wende, deren Folgen (durchaus zunächst neutral gemeint) bis zum heutigen Tage bis weit über deren Landesgrenzen hinaus wirken.

So wird auch noch das Lochkartensystem der IRS umgestellt, was einen nicht geringen Aufwand bedeutet und mehrmals schimmert durch, dass im dann folgenden, nächsten Schritt darauf hingearbeitet werden soll, dass die einfacheren Arbeiten mehr und mehr von Maschinen, d. h. Computern übernommen werden soll, die entsprechend auf die Formulare programmiert werden. Die ganzen Prüfungsvorgänge, die noch von Menschen vorgenommen werden, wären dann automatisiert. Wer - falls vorhanden - auf seine eigene Erwerbsbiografie in dieser Zeit zurückblickt, wird nachträglich den sich auf verschiedene Art und Weise ankündigenden Epochenwandel ausmachen, der sich in Deutschland etwas später ereignete, aber schleichend und fast unbemerkt von statten ging (wie fast alle wirklichen Revolutionen, die dauerhafte und unwiderrufliche Veränderungen erzeugen und die ja nur ganz selten ruckartig und affektiv erfolgen). 

Wallace zieht nicht uncharmant etliche literaturtheoretische Kaninchen aus dem Zylinder: Das Spiel mit den Zeiten wurde schon erwähnt. Auch die Figuren, die man zum Teil nur durch den Sprachduktus identifizieren muss (beispielsweise wird eine Person sofort auffällig und verfolgbar, die in schätzungsweise jedem dritten Satz die Phrase »so die Schiene« einfügt wie das Klischee es bei Schweizern mit ihrem »odr?« vorsieht), sind trotz des gelegentlichen Hangs zur Groteske komplex angelegt und bieten Exegeten mannigfaltig Möglichkeiten zu ausgiebigem Theoretisieren und Reflektieren. Wallace verlegt gerne und zahlreich doppelte Böden, die häufig genug tragen. Etwa wenn ein Angestellter von einem angeketteten Hund erzählt, der, in dem er sich aus freien Stücken auf ein Gebiet beschränkte, dass nicht den gesamten Radius der Kette umfasste, seine Würde wieder erlangte. »Außerhalb dieses Gebiets«, das er sich selber absteckte, »interessierte ihn nichts. […] Also nahm er die Kette nie zur Kenntnis. Er hasste sie nicht. Die Kette. Er hatte sie einfach unwichtig gemacht. […] Er hatte ganz eigene Macht. Sein ganzes Leben an dieser Kette.«

Gelegentlich meldet sich aus dem Jahr 2005 ein Ich-Erzähler, ein gewisser David Wallace, der ebenfalls damals für kurze Zeit in diese Behörde eintrat, davon ausgiebig und -ufernd mit exzessiven Fußnoten berichtet, etwa wie er von einer Frau empfangen wird (im Gegensatz zu den anderen, zahlreichen Ankommenden), sogar einen Fellatio von der Abholerin erhält, alle Schlangen umgeht bzw. vorgelassen wird und schließlich in einem Kollegenfeld von lauter hoch dotierten Steuerprüfungs-Experten gerät, bis ihm langsam klar wird, dass es sich um eine Namensverwechslung mit einem anderen David Wallace handelt was dann dazu führt, das der Erzähler Wallace das Namenerkennungssystem der Behörde auf das Ausführlichste beschreibt und die Unzulänglichkeiten dieses Programms deutlich hervorhebt. Und dieser Wallace erzählt dann auch was das vorliegende Buch eigentlich genau ist, nämlich »eine nicht fiktionale Autobiografie mit Einsprengseln aus rekonstruktivem Journalismus, Organisationspsychologie, elementarer Staatsbürgerkunde, Steuertheorie, usw«.

Nein, ich möchte nicht in den Chor derjenigen einstimmen, die »Der bleiche König« langweilig oder passend spießig zur Materie finden. Ja, es steht irgendwo, dass Langeweile auszuhalten der Schlüssel der Bürokratie sei und die von Verteidigern gelegentlich vorgebrachte These, dass gerade im Erzeugen der Langeweile diese besonders plastisch wird und daher das Erzeugen von Langeweile vom Autor geradezu beabsichtigt war, finde ich eher mittelmäßig. Auch den Lobenden, die ob der zuweilen überbordenden Terminologie des Buches (der echte David Foster Wallace hat wohl tatsächlich Seminare besucht, um dieses Steuersystem zu verstehen) ihre Gunst etwas voreilig verteilen, folge ich nicht.

Der Leser sollte nicht voreilig vor den zuweilen reichlich ausgewalzten Fachtermini die Waffen strecken (einfach weiterlesen!) und aus der Tatsache, dass das Buch in den 80ern angesiedelt ist, keine falschen Schlüsse ziehen. Die im Subtext beschriebenen sozialen Interaktionen, Firmenpräsentationen und innerbetrieblichen Seil- und Feindschaften könnte man sich so auch heute noch sehr gut vorstellen, daran dürfte sich im Kern nichts verändert haben. Die Behörde wird, wie man nach und nach erfährt, eben auch zu einer Art Sammelpunkt für Leute mit merkwürdig anmutenden kognitiven, sozialen oder sonstigen Fähigkeiten. Die IRS bietet Anonymität und Gemeinschaft, Hierarchie und Sicherheit. Man erhält bei Anstellung eine neue Sozialversicherungsnummer beginnend mit einer »9«, die man Zeit seines Lebens behält und wie ein Stigma als Mitarbeiter der Behörde ausweisen wird und das auch, wenn man längst anderweitig beschäftigt wind. Die Figuren selber fachsimpeln in ihrer ganz eigenen Beflissenheit auch noch in den spärlichen aber genau festgelegten Pausen und in Kantinenrunden über progressive Mehrwertsteuersätze, Bearbeitungsquoten, Haftungsausschlüsse oder veränderte Formulare mit entsprechend neu zu beachtenden Ziffern (6c und 6d statt früher 5c und 5d) und sehen sich als »Cowboys von heute«, die für das Gemeinwohl Steuererklärungen überprüfen. 

Dabei kommt dieser polyphone, gelegentlich eben kakophone Romankosmos ohne Kafka-Bleiweste, plakativer Kapitalismuskritik oder Adam Smith' Gesellschafts- und Staatsentwurf aus. Weit und breit keine Dystopie, die eine Weltherrschaft finsterer Ärmelschonerträger vorbereitet. Auch die Chefs, die Wallace auflaufen lässt, sind fast alle fachlich fähige Köpfe. Von sozialromantischem Kitsch mit Mobbing-, Streß- und anderen, willigen Opfern und all den Klischees über die Tristesse des Angestelltendaseins und der geisttötenden Monotonie des Büroalltags bleibt der Leser verschont. Kurz gesagt also: Ein Glücksfall, da sämtliche ausgetretenen Wege nicht begangen werden. Dafür nimmt man manchen Trampelpfad gerne in Kauf und lernt schräge Personen kennen, die mit ihrer »forensischen Buchprüfung« in einer ganz eigenen Welt zu leben scheinen. Das alles ist eine Mischung aus Dilbert-Comics, Bret Easton Ellis (freilich ohne Massenmörder), einer Prise Loriot, Thomas Bernhard und vor allem ganz viel amerikanischer Serienästhetik, die in den 80er Jahren begann und inzwischen längst als neue Erzählkunst des 21. Jahrhunderts gefeiert wird. Es gibt viele, vielleicht zu viele Stellen, die unfertig, überflüssig oder einfach nur redundant daherkommen und an Claude Sylvanshines Faktenhuberei erinnern. Hat man sich jedoch erst einmal auf Zeit und Gegenstand ein bisschen eingelassen und ein gut funktionierendes Personenverzeichnis angelegt, kann man dieses Buch durchaus genießen.      

Und der Titel? Wer ist der »bleiche König«? Ist es Meredith' Mann, der »bleiche Edward«, der Kränkliche, der damit zur Allegorie würde? Vielleicht ist es eine Metapher für die allgegenwärtige und notwendige Vorschriften- und Regel-Bürokratie, die sowohl herrisch als auch spröde daherkommt mit ihren chlorgebleichten Formularen daherkommt? Oder eine selbstironische Anspielung des Autors auf sich und/oder sein Opus? Und während man darüber grübelt, ist man wieder mittendrin…  Gregor Keuschnig

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David Foster Wallace
Der bleiche König
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach
Kiepenheuer & Witsch
640 Seiten, gebunden
29,99 €
978-3-462-04556-7


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