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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Warum?


alles / is denkbaar zolang men er is
(alles / ist denkbar solange man da ist)
(Gerrit Kouwenaar, drijvend)


Tonio sprach nicht. Er empfand Schmerz. Indem er seine etwas schräg stehenden Brauen zusammenzog und die Lippen zum Pfeifen gerundet hielt, blickte er seitwärts geneigten Kopfes ins Weite. Diese Haltung und Miene war ihm eigentümlich (Thomas Mann, Tonio Kröger)

Im Mai 2010 starb Tonio van der Heijden, das einzige Kind von A.F.Th. und Mirjam Rotenstreich, mit knapp 22 Jahren an den Folgen eines Autounfalls. Wenige Tage später beginnt A.F.Th. sein Requiem, um, wie er schreibt, nicht verrückt zu werden. Es ist ein „Bericht von innen“, aus unmittelbarer Nähe zur Katastrophe, verbunden mit der schwachen Hoffnung, das Buch, bestehend aus Erinnerungen an das Leben des Sohnes und Reflexionen über die eigene Gefühlswelt in den Wochen nach dessen Tod, helfe ihm, seine Angst abzubauen.

Bekannt geworden ist der niederländische Schriftsteller in Deutschland durch seinen Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“, vor allem jedoch durch seine Adaption von Dramen und Tragödien antiker Helden, die er in der Gegenwart wiederaufleben lässt und sie in einem Schwindel erregenden, stellenweise gewalttätigen Schauspiel rastlos und vom Schicksal verfolgt durch ihre Zeit jagt. Jedes Buch, heißt es bei van der Heijden, gleiche dem Entkrusten der Wirklichkeit. Dem zuletzt begonnenen Zyklus „Homo duplex“ gelingt dies mehr als eindrucksvoll. Er gehört schon jetzt  zu den faszinierendsten Werken der Weltliteratur.

Tonio aber ist nicht einfach ein Roman wie alle anderen. Es handelt von der Urkatastrophe überhaupt, dem Tod des eigenen Kindes. Nichts ist schlimmer auf dieser Welt, nichts wäre verständlicher als daran zu zerbrechen. Und nichts wäre anmaßender als ein Buch wie Tonio zu rezensieren als wäre es eines unter vielen Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt.

Ich gebe zu, dass es mich nahezu sprachlos macht, was Adri van der Heijden und seiner Frau zugestoßen ist, und ich scheue davor zurück, wirklich auf das Buch einzugehen, das mir ein ums andere Mal die Tränen in die Augen getrieben und mich mit einem Leeregefühl ausgefüllt hat. Denn immer wieder ruft es die eigenen Ängste und Sorgen ins Bewusstsein, die sich zwangsläufig einstellen, wenn man Kinder hat, auch wenn der Tod der Nachkommen das ewig Unvorstellbare bleibt. Deshalb weiche ich immer wieder aus und blättere in Adris vorangegangenen Romanen sowie in seinen Tagebuchaufzeichnungen „Engelsdreck“ herum, während ich diese Zeilen notiere. Doch auch hier ist Tonio omnipräsent: „… und endlich traute ich mich, meine Hand auf ihren Bauch zu legen. Drinnen, in diesem blassen, knetbaren Schildkrötenei, strampelte es“ schreibt er eine Woche vor Geburt seines Sohnes Anfang Juni 1988 ins Tagebuch.
Dann, wenige Seiten weiter, Herbst 1989: „Solange ich bin, ist der Tod nicht da. Und ist der Tod da, dann bin ich nicht mehr. Was haben wir also miteinander zu schaffen?“ Die Antwort gibt er selbst in seinem Requiem für Tonio: „Sonntagmorgen. Früher als das verkaterte Gefühl war das ekelerregende Bewusstsein da: Ich habe gestern meinen Sohn beerdigt.“

Zugleich plagen ihn Selbstvorwürfe: „Ich schäme mich, ja, weil ich meinen Sohn verloren habe. Ich schäme mich … vor der ganzen Welt, weil ich seinen Tod nicht verhindern konnte. Ich habe versagt. Ich schäme mich für meine Niederlage.“
Dieses Gefühl der Niederlage lässt sich vielleicht am ehesten begreifen, wenn man folgende Stelle hinzuzieht: „Züge einer Zwangsneurose treten deutlich hervor. In einem fort gehe ich Tonios Leben durch auf der Suche nach leeren Momenten, die möglicherweise, ohne sein Dasein völlig umzukrempeln, zu verlängern oder zu verkürzen gewesen wären, damit viele Jahre später, am Pfingstsonntag 2010, Tonios Fahrrad und das unbekannte Auto haarscharf aneinander vorbeigeschossen wären.“

Gegen das Schicksal aber kann man nicht gewinnen; der Tod macht den Sohn zu einer metaphysischen Instanz: „Tonio ist überall. Der Verlust hat sich in allem Sichtbaren eingenistet. Alles ist beseelt mit unserem Verlust.“
Von diesem Zustand der anwesenden Abwesenheit berichtet auch Hans Frick, der seinen Sohn Henri am 14. Juni 1968 ebenfalls bei einem Verkehrsunfall in Frankfurt am Main verliert. Henri verblutet auf der Straße, weil der durch starken Verkehr behinderte Rettungswagen zu spät eintrifft. Hans Frick schreibt in seinen markerschütternden Erinnerungen: „Dein Gesicht, es ist überall, in den Bäumen, du lachst, kommst näher, schaukelst wie ein lebloser Gegenstand an Drähten, meine Hände öffnen sich, die Glieder lösen sich aus einer seit Stunden anhaltenden Verkrampfung…“

Der Schmerz, so berichten sowohl Frick als auch van der Heijden, schwelle mit voranschreitender Zeit immer weiter an. Im Tonio heißt es: „Das Unglück liegt jetzt sechs Wochen zurück … Der Schmerz. Er hat gerade erst begonnen“, und das ganze eigene Leben erscheint als eine Vorbereitung auf den Tod des Sohnes.
Wie hält jemand ein so großes, den Verstand auf die Probe stellendes Unglück aus? „An Tonios Vernichtung zugrunde zu gehen: Das bleibt in seiner ganzen verzweifelten Bitterkeit ein verlockender Gedanke. Im nächsten Augenblick wehre ich mich dagegen. Dieses eine, unersetzliche Leben muss zu Ende gelebt werden, bei bestmöglicher Entwicklung all meiner Kräfte und Fähigkeiten.“ Doch immer wieder wirkt alles Leben wie ein „fruchtloses Geschluder mit Tagen und Monaten und Jahren … Um dir die Wahrheit zu sagen, Tonio, ich bin wütend auf die ganze Welt. Für mich war es eine große Verschwörung gegen deine Zukunft. Meine Aufgebrachtheit ist allesdurchdringend.“
Die Wut auf die ganze Welt kennt auch Hans Frick, der gar von der Ermordung des Sohnes spricht und die Grausamkeit der Gesellschaft anklagt, ihren Egoismus, den sie zur Tugend erhoben hat, ihre Kaltherzigkeit, die den Anderen nur als Konkurrenten in einem ewigen Wettlauf um die bessere Position sieht. Henri, so lautet Fricks bitteres Fazit, „starb an uns.“

So wie Henri ist auch Tonio ein literarisches Denkmal, 670 Seiten der sprachgewaltigen Sprachlosigkeit, die den eigenen Sohn weiterleben lassen. Das Requiem ist von einer so unbegreiflichen emotionalen Wucht, dass es einzig dasteht in der Welt der Literatur. Aber was bedeutet das schon angesichts der Hintergründe, die zum Verfassen der Schrift geführt haben?

An dieser Stelle kann ich lediglich auf die 16 000 Fragezeichen verweisen, die angeblich Shakespeares Werk Struktur verleihen und von denen Adri van der Heijden an einer Stelle seiner Erinnerungen an Tonio spricht. Diese Fragezeichen bilden seit dem Tod Tonios den Mittelpunkt von Adri van der Heijden und Mirjam Rotenstreich. Es kann keinen Trost für sie geben, weil täglich mehr Fragezeichen auftauchen…
 

A. F. Th. van der Heijden
Tonio - Ein Requiemroman
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp
Gebunden, 671 Seiten
29,60 €
ISBN: 978-3-518-42259-5


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