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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik |
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Warum?
Im Mai 2010 starb Tonio van der Heijden, das einzige Kind von A.F.Th. und Mirjam Rotenstreich, mit knapp 22 Jahren an den Folgen eines Autounfalls. Wenige Tage später beginnt A.F.Th. sein Requiem, um, wie er schreibt, nicht verrückt zu werden. Es ist ein „Bericht von innen“, aus unmittelbarer Nähe zur Katastrophe, verbunden mit der schwachen Hoffnung, das Buch, bestehend aus Erinnerungen an das Leben des Sohnes und Reflexionen über die eigene Gefühlswelt in den Wochen nach dessen Tod, helfe ihm, seine Angst abzubauen. Bekannt geworden ist der niederländische Schriftsteller in Deutschland durch seinen Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“, vor allem jedoch durch seine Adaption von Dramen und Tragödien antiker Helden, die er in der Gegenwart wiederaufleben lässt und sie in einem Schwindel erregenden, stellenweise gewalttätigen Schauspiel rastlos und vom Schicksal verfolgt durch ihre Zeit jagt. Jedes Buch, heißt es bei van der Heijden, gleiche dem Entkrusten der Wirklichkeit. Dem zuletzt begonnenen Zyklus „Homo duplex“ gelingt dies mehr als eindrucksvoll. Er gehört schon jetzt zu den faszinierendsten Werken der Weltliteratur. Tonio aber ist nicht einfach ein Roman wie alle anderen. Es handelt von der Urkatastrophe überhaupt, dem Tod des eigenen Kindes. Nichts ist schlimmer auf dieser Welt, nichts wäre verständlicher als daran zu zerbrechen. Und nichts wäre anmaßender als ein Buch wie Tonio zu rezensieren als wäre es eines unter vielen Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt.
Ich gebe zu, dass es mich nahezu sprachlos macht, was Adri van der Heijden und
seiner Frau zugestoßen ist, und ich scheue davor zurück, wirklich auf das Buch
einzugehen, das mir ein ums andere Mal die Tränen in die Augen getrieben und
mich mit einem Leeregefühl ausgefüllt hat. Denn immer wieder ruft es die eigenen
Ängste und Sorgen ins Bewusstsein, die sich zwangsläufig einstellen, wenn man
Kinder hat, auch wenn der Tod der Nachkommen das ewig Unvorstellbare bleibt.
Deshalb weiche ich immer wieder aus und blättere in Adris vorangegangenen
Romanen sowie in seinen Tagebuchaufzeichnungen „Engelsdreck“ herum, während ich
diese Zeilen notiere. Doch auch hier ist Tonio omnipräsent: „… und endlich
traute ich mich, meine Hand auf ihren Bauch zu legen. Drinnen, in diesem
blassen, knetbaren Schildkrötenei, strampelte es“ schreibt er eine Woche vor
Geburt seines Sohnes Anfang Juni 1988 ins Tagebuch.
Zugleich plagen ihn Selbstvorwürfe: „Ich schäme mich, ja, weil ich meinen Sohn
verloren habe. Ich schäme mich … vor der ganzen Welt, weil ich seinen Tod nicht
verhindern konnte. Ich habe versagt. Ich schäme mich für meine Niederlage.“
Gegen das Schicksal aber kann man nicht gewinnen; der Tod macht den Sohn zu
einer metaphysischen Instanz: „Tonio ist überall. Der Verlust hat sich in allem
Sichtbaren eingenistet. Alles ist beseelt mit unserem Verlust.“
Der Schmerz, so berichten sowohl Frick als auch van der Heijden, schwelle mit
voranschreitender Zeit immer weiter an. Im Tonio heißt es: „Das Unglück
liegt jetzt sechs Wochen zurück … Der Schmerz. Er hat gerade erst begonnen“, und
das ganze eigene Leben erscheint als eine Vorbereitung auf den Tod des Sohnes.
So wie Henri ist auch Tonio ein literarisches Denkmal, 670 Seiten der sprachgewaltigen Sprachlosigkeit, die den eigenen Sohn weiterleben lassen. Das Requiem ist von einer so unbegreiflichen emotionalen Wucht, dass es einzig dasteht in der Welt der Literatur. Aber was bedeutet das schon angesichts der Hintergründe, die zum Verfassen der Schrift geführt haben?
An dieser Stelle
kann ich lediglich auf die 16 000 Fragezeichen verweisen, die angeblich
Shakespeares Werk Struktur verleihen und von denen Adri van der Heijden an einer
Stelle seiner Erinnerungen an Tonio spricht. Diese Fragezeichen bilden seit dem
Tod Tonios den Mittelpunkt von Adri van der Heijden und Mirjam Rotenstreich. Es
kann keinen Trost für sie geben, weil täglich mehr Fragezeichen auftauchen… |
A. F. Th.
van der Heijden |
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