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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Von Empörung durchdrungene Melancholie

Über Josef Winklers Zwischenbuch
»Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel.«

Von Lothar Struck

Ein Buch mit einem monumentalen Titel. Aber ist es auch ein monumentales Buch? Oder eher eine Zwischenstation zum großen Josef-Winkler-Buch, jenem Selbstexorzismus der Kindheit und Jugend in diesem österreichischen Dorf Kamering, dieser Umgebung der Dumpfheit, Bücher- und Menschenfeindlichkeit? Wer glaubte, mit Roppongi, der Erzählung des Todes des Vaters sei Winklers Beschäftigung mit und über seine "Kärnten-Trilogie" wenn nicht beendet so doch besänftigt wird durchaus widerlegt.

Denn Winkler schreibt weiter in diesen teilweise empörungsgetränkten Schachtelsätzen, psalmodierend und suggestiv. Da ist sie wieder, die Familie Winkler, die Großmütter und Großväter, die nie gekannten, im Krieg gefallenen Onkel, der Vater, dessen Liebe so ersehnt, aber zu selten gefühlt werden wird. Winkler schreibt chronologisch, ja, er fügt Jahreszahl um Jahreszahl hinzu und manchmal möchte man die "alten" Bücher wieder hervorholen um die Verfremdungen und Volten herauszuarbeiten. Und auch die beiden Buben kommen wieder vor, die sich, weil sie es nicht mehr aushielten ob ihrer Homosexualität im Dorf denunziert zu werden, mit einem Strick erhängt hatten.

Winkler erzählt von seinem Leserausch und wie er die Eltern bestiehlt, um Bücher kaufen zu können. Er erzählt von seinen Lektüreeindrücken, die sein Leben verändern, ja: erschüttern sollten. Von Peter Weiss, Jean Genet, Albert Camus, Hans Henny Jahnn und so vielen anderen. Er zählt von seinen Versuchen, auf der Handelsschule die Erwartungen seiner Eltern zu erfüllen. Und vom Scheitern, wenn er sich stattdessen im Café mit einem Buch niedersetzt. Er erzählt von den wenigen innigen Momenten mit seinem Vater, etwa wenn sie in einem wortlosen Verstehen Vorbereitungen treffen, um Ratten in der Scheune totschlagen. Bei all dem wird früh kein Zweifel daran gelassen, dass "ich" hier gleichbedeutend mit Josef Winkler ist. Etwas, das durchaus irritiert, auch (oder gerade?) wenn man Winklers Bücher kennt und seine (bisherigen) Hinweise, er sei eben auch ein "Schwindler".     

Sie kommen früh, diese "Wortanfälle", die Selbstvergewisserungen und gleichzeitig Selbstverunsicherungen sind. Im zweiten Kapitel sucht Winkler die Schauplätze des Lebens und Sterbens von Jean Genet auf - auch dies kennt der aufmerksame Leser bereits. Zum Teil gelingen dabei wunderbar spröde-pittoreske Landschafts-, Natur- und Menschenbeschreibungen - Gegenbilder zum Beerdigungs- und Sterbekosmos von Kamering, obwohl auch hier in einer zuweilen fast zwanghaft anmutenden Genauigkeit erzählt wird. Eine Genauigkeit der Anschauung, mit der auch abseitige und hässliche Phänomene erzählt werden; eine von Empörung durchdrungene Melancholie, mit der Winkler seine Weltverzweiflung beherrschen möchte (und gleichzeitig auch ein wenig pflegt). En passant wird dann die Lebensgeschichte von Genet mit großer Ehrfurcht und Sorgsamkeit, immer mit kursiv gesetzten Zitaten aus dessen Werk, fast zelebriert. Das Kapitel endet großartig mit der Schilderung einer Massenhochzeit in der Strafkolonie von Mettray, an der auch der homosexuelle Genet beteiligt war, einen Tag vor seiner Entlassung aus der Anstalt, "Jeannot [Genet] war die Braut, und der Zögling Divers war der Bräutigam." 

Im dritten Kapitel rekurriert Winkler auf seine Handelsschulzeit als 16jähriger und erzählt über seinen Lehrer Georg Rudesch, der sich eigentlich als Kunstmaler verstand und im Brotberuf das "alle langweilende Fach Betriebskunde" unterrichtete. Er wurde, wie Winkler berichtet, "von den Schülern tagtäglich gehänselt und verspottet" und "schlug aus Verzweiflung" gelegentlich Schüler mit der "Linealkante auf den Schädel". Dagegen wird dann Winklers immer vertrauter werdender, privater Umgang mit Rudesch gestellt und sehr dezent eine homoerotische Anziehung Rudeschs zu seinem Schüler geschildert ("Wenn ich Sie in meiner Jugend getroffen hätte, wäre ich ein ganz anderer Mensch geworden") - die wohl durchaus erwidert wurde. Durch Rudesch lernt Winkler nicht nur die Welt der Malerei und Kunst kennen, sondern im emphatischen Sinn "Sehen". Ein Lehrer im doppelten, vielleicht dreifachen Sinn.

Dabei wird vor allem die Begegnung mit den Bildern von Chaim Soutine zu einer Art Initiation. Winkler besucht Soutines Grab auf dem Friedhof Montparnasse. Der jüdisch-weißrussische Maler starb 1943, gerade einmal 50jährig, "elendig", magenkrank und auf der Flucht vor den Nazis. Die Lebensgeschichte Soutines erzählt er ergreifend und aufregend, verknüpft sie immer wieder mit Momenten des Zusammenseins mit Rudesch, die in einer fast zärtlichen Verbundenheit evoziert werden. Der Leser beginnt sofort die Bilder von Chaim Soutine zu googlen (das einzig abgedruckte Bild reicht nicht) - sie sind selbst auf dem Computer von großer Faszination.

Das Buch schließt mit der etwas pathetisch formulierten "Heimkehr" des verlorenen Sohnes. Winkler kehrte nach Beendigung seines Romans "Muttersprache" um 1982/83 zurück in sein Dorf und zu seinem inzwischen 75jährigen Vater, jenem "Ackermann aus Kärnten", den der Sohn in seinen Büchern nicht schont. Naturgemäß war er durch seine expressionistisch-wütenden Erzählungen über Kamering und deren Bewohner nicht besonders willkommen im Ort. Die Ausnahme bildete der überraschend nachsichtige Vater, der den Sohn lediglich bat, nicht mehr über die beiden Buben zu schreiben und deren Selbsttötung zu schreiben. Einige drohten Winkler an, ihn zu "schädeln". Winkler schreibt mit Schwierigkeiten an einem weiteren Buch und beginnt zwischen Kamering und Rom zu pendeln. Er überwindet eine Schreibkrise und gibt einen kleinen Einblick in die Entstehungsgeschichte seines vermutlich besten Buches ("Der Friedhof der bitteren Orangen"). Fast nebenbei erfährt man von seiner Verheiratung und die letzten rund 15 Jahre - inklusive der Aufenthalte in Italien, Indien und Mexiko - werden in rasender Geschwindigkeit abgehandelt. Ein bisschen macht das Buch hier den Eindruck einer hektischen, ungeordneten Fortsetzung der Lebensgeschichte. Winkler hätte besser getan, diesen Parforceritt wegzulassen und Genaueres zu einem späteren Zeitpunkt zu schreiben.

Teile dieses Buches sind in den letzten Jahren vor allem in der österreichischen Zeitung "Die Presse" erschienen (allerdings gibt es durchaus kleine, und zum Teil interessante Korrekturen). So ein Teilstück aus dem Genet-Kapitel (im "Standard" ist eine andere Stelle paraphrasiert), in zwei Teilen die Erzählungen über Georg Rudesch und dem Maler Chaim Soutine und fast das gesamte Kapitel über den heimkehrenden Sohn. Man hofft inständig, dass die Print-Ausgaben besser gesetzt wurden als es die zum Teil einer solchen Prosa unwürdigen weil fehlerhaften Formatierungen, die im Internet angeboten werden. Und ist froh, dieses Buch in den Händen zu halten. Auch wenn es vielleicht nur ein Nebenwerk sein dürfte. Aber von manchen Autoren sind die Nebenwerke kräftiger und lebendiger als so manches Hauptwerk eines Wichtigtuers. Lothar Struck
 










Josef Winkler
Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel
Suhrkamp
Gebunden, 163 Seiten
17,90 €
ISBN: 978-3-518-42137-6

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