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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 25.04.13

Deutsche Verhältnisse

Hans-Ulrich Wehlers Analyse der sozialen Ungleichheit in
Deutschland
behandelt einen gesellschaftspolitischen Skandal:
Die Umverteilung nach ganz oben in den letzten zwanzig Jahren
sowie die zunehmende Verknöcherung der deutschen Gesellschaft.
Soziale Mobilität findet kaum noch statt in diesem Land – wer oben ist,
bleibt oben, wer unten ist, bleibt unten.


Von Michael Knoll

Hans-Ulrich Wehler könnte auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Er ist heil durch den Zweiten Weltkrieg gekommen, der ihn dennoch entscheidend geprägt hat. Er hat die Bonner wie die Berliner Republik intellektuell entscheidend geprägt. Er ist politischen Debatten nie aus dem Weg gegangen, selbst denen nicht, die er kaum gewinnen konnte. Er ist Vater der so genannten Bielefelder Schule, die in den 70er Jahren die bräsig-konservative historistische Geschichtswissenschaft um sozialwissenschaftliche Ansätze erweitert hat. Seine 1987 begonnene, 2008 abgeschlossene fünfbändige »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« gilt als Standardwerkt der Geschichtsschreibung. Wehler könnte auf ein erfülltes Leben zurückblicken.

Er tut es nicht, sondern mischt sich weiterhin in die aktuellen politischen Debatten ein. In einem Wahlkampfjahr, das vor allem durch das Thema »soziale Gerechtigkeit« geprägt sein wird, ist sein neuestes Buch als dezidiert politisches Statement zu verstehen. »Die neue Umverteilung – Soziale Ungleichheit in Deutschland« behandelt einen gesellschaftspolitischen Skandal: Die Umverteilung nach ganz oben in den letzten zwanzig Jahren sowie die zunehmende Verknöcherung der deutschen Gesellschaft. Soziale Mobilität findet kaum noch statt in diesem Land – wer oben ist, bleibt oben, wer unten ist, bleibt unten.

Wehlers Analyse fällt politisch deshalb so dramatisch auf, weil sie eben nicht von einem linken Außenseiter stammt, sondern von einem, der eher einer konservativ orientierten Sozialdemokratie zuzurechnen ist. Sie entfaltet ihre Wirkung, weil Wehler über ein profundes Repertoire sozialwissenschaftlicher Theorien, über ein beeindruckendes historisches Wissen über die Sozialstrukturen in Deutschland der letzten Jahrhunderte und über einen klaren analytischen Blick auf die gesellschaftlichen Prozesse Deutschlands verfügt. Welch intellektuelle Kraft immer noch in ihm steckt, beweist er in den 45 Seiten, in denen er über Sozialhierarchie und Hierarchietheorien referiert und sein analytisches Rüstzeug ausbreitet. Seine Fähigkeiten, das Theorienangebot von Max Weber wie Pierre Bourdieu für die Geschichtsschreibung zu nutzen, sind unübertroffen. Wehlers Analysen zur Umverteilung bleiben daher auch nicht im Ökonomischen stecken, sondern verweisen auf die ideologische Grundlagen und machen die sozialen Ein- und Ausschließungsmechanismen sichtbar.

Wehlers Befunde sind erschreckend, trotz aller Anerkennung für die Leistung der deutschen Wirtschaft und die Wohlstandssteigerung für die Bevölkerung in Deutschland. So stieg das Volkseinkommen in den Jahren zwischen 1950 und 1973 um den Faktor zehn. Von der Wohlstandssteigerung nach dem Zweiten Weltkrieg profitierten alle Schichten in gleichem Maße. Dier Verteilung von Einkommen und Vermögen blieben laut statistischem Bundesamt zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten über 45 Jahre lang gleich verteilt. Die obersten 20 Prozent der Bevölkerung banden davon etwa 45 Prozent, das unterste Quintil sieben Prozent, die restlichen 48 Prozent der Einkommen und Vermögen verteilten sich auf die restlichen drei Quintile. Diese strukturelle Verteilung blieb bis in die 90er Jahre erhalten. Für die letzten zwölf Jahre allerdings verzeichnet Wehler eine rasante Aufwärtsbewegung zugunsten der oberen zehn Prozent, abzulesen etwa an den Einkommen der DAX-Vorstände. War das Verhältnis der Einkommen dieser Vorstände zu denen ihrer Mitarbeiter in den späten 80er Jahren von 20 zu eins, so liegt dieses Verhältnis nun bei 200 zu eins. Wehlers Urteil: »Dieser Schließungsfähigkeit der Oberklasse, die ihr Einkommen und Vermögen in einem obszönen Ausmaß zu steigern versteht, entspricht die Exklusion der regulären Arbeitskräfte von solchen atemberaubenden Beförderungsprozessen. Die Verteilungsgerechtigkeit ist völlig verloren gegangen.« (S.63) Meint nicht nur Wehler, meint auch Bundestagspräsident Norbert Lammert, wie der Historiker bemerkt.

Der Autor beschäftigt sich nicht nur mit ökonomischen Verteilungen, sondern befasst sich auch mit der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit von sozialen Gruppen, von inkludierenden und exkludierenden Mechanismen. Warum rekrutieren sich inzwischen 80 Prozent der Unternehmensvorstände aus Unternehmerfamilien? Warum werden Eheschließungen noch immer sozial geregelt? Warum stellte sich der erhoffte sozialstrukturelle Mobilisierungseffekt der Bildungsoffensive in den 70er Jahren nicht nachhaltig ein? Und warum haben die Frauen in der Bundesrepublik, trotz aller Erfolge der letzten vier Jahrzehnte, immer noch nicht die gleichen Chancen in der Arbeitswelt wie ihre männlichen Kollegen? Erfreulich ist Wehlers Kämpferherz: er hält wenig von moderaten Vorschlägen. Sein Plädoyer für eine Quote von 50 zu 50 in Unternehmensvorständen ist ein mutiges und erfrischendes Signal an viele jüngere Männer und Frauen:

Frauen können »Leitungsfunktionen mindestens so gut, wenn nicht besser als Männer ausfüllen, da sie teambewusster, kommunikativer, innovativer, entscheidungsfreudiger, planungsfähiger und dazu noch wirtschaftlich erfolgreicher operieren. Das sollte in einem kapitalistischen Marktsystem das durchschlagende Argument sein. Warum aber eine Quote von 30 Prozent fordern anstatt gleich 50 Prozent, wie das der weiblichen Hälfte der Bevölkerung unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten entspräche?« (S.118)

So erfreulich erfrischend und bewundernswert progressiv Hans-Ulrich Wehler viele Aspekte der sozialen Ungleichheit bewertet, so gibt es doch ein Kapitel, das er besser nicht geschrieben hätte. Oder besser noch: ganz, ganz anders. Der große Schwachpunkt des Buches ist der Abschnitt über die »ethnisch-konfessionelle Ungleichheit« (S.139-146). Fangen wir mit dem Positiven an: Recht hat der Autor, wenn er darauf verweist, dass Deutschland bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein Zuwanderungsland ist und Einwanderung nicht erst mit den sogenannten Gastarbeiter aus Italien, Spanien und Griechenland begann, die in den späten 50er Jahren des 20. Jahrhunderts nach Deutschland kamen. Im Zuzug türkischer Migranten Anfang der 60er Jahre allerdings erkennt er einen qualitativen Unterschied. Erwiesen sich Griechen, Spanier und Italiener »als relativ leicht integrierbar« (S.140), segregierten sich die Zuwanderer aus der Türkei und etablierten »ghettoähnliche Wohnquartiere«, »in denen das türkische Fernsehen läuft und Türkisch die gängige Familien- und Umgangssprache bleibt« (S.141). Leider ist diese Passage kein rhetorischer Ausrutscher, sondern gibt den Sound der Wehlerschen Ausführungen über Türken und die Türkei wieder. Der Doyen der Historischen Sozialwissenschaften vergaloppiert sich enorm, sprachlich wie inhaltlich. Er reproduziert Mythen, er differenziert wenig und er vermengt Argumente in ungehöriger Weise. Was hat die Behauptung von der »äußerst mangelhaften Integrationsbereitschaft der zugewanderten Türken« (S.143) mit den Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU zu tun hat? Was die Leugnung des Genozids an den Armeniern mit den Verhältnissen in Deutschland? Oder die »türkische Unfähigkeit, mit Minderheiten umzugehen« (S.145) mit den ethnisch-kulturellen Ungleichheit in der Bundesrepublik. Warum macht die Aufnahme der Türkei als »osmanischen Großstaat« (S.146) in die EU die Integrationsaufgabe der deutschen Gesellschaft unmöglich? Wehlers Meinung zur Aufnahme der Türkei in die EU ist eine legitime, auch wenn ich sie für falsch halte. Sein Furor allem Türkischen gegenüber weist beinahe paranoide Züge und ist seiner Klasse nicht würdig.

Dabei verweist Wehler zu Recht auf Grundfehler des Zuzugs von Türken nach Deutschland. Die deutsche Wirtschaft suchte eben nicht diejenigen mit guter Ausbildung und ausbaufähigen Sprachkenntnissen, sondern sie war auf der Suche nach billigen Arbeitskräften. Sie schadete sich in doppelter Hinsicht: Sie investierte nicht in die technische und technologische Verbesserung bestehender Produktionsprozesse, sondern sie etablierte die Lebenslüge von Gastarbeitern, von Menschen, die kommen und arbeiten, die vor allem aber wieder gehen. Diese Menschen sind nun aber hier. Und sie haben in den letzten Jahrzehnten Enormes für die deutsche Wirtschaft wie die Gesellschaft in Deutschland geleistet. Ja, es gibt Probleme. Probleme, die damit zu tun haben, dass das Leben in Deutschland, verglichen mit dem in Anatolien, sehr anders ist. Dass das Leben in Deutschland die Menschen aus der Türkei vielfach kulturell überfordert und sozial segregiert hat, dass die Bildungsinstitutionen den Mangel elterlicher Unterstützung nicht wettgemacht haben. Die Mängel des deutschen Bildungssystems, das Wehler in seinem Kapitel über die »Ungleichheit der Bildungschancen« so pointiert herausgearbeitet hat, trafen Kinder und Jugendliche aus der Türkei besonders hart. Aber nicht nur sie. Wer die Statistiken richtig kennt, weiß auch um die Probleme vieler Zuwandererfamilien aus Italien. Aber das hat in Wehlers Argumentation wohl nicht gepasst.

Auf einen Punkt verweist er zu Recht. In einer wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft, die immer mehr hoch geschulte Experten benötigen, benötigen wir dringend bessere Ausbildungen für Kinder und Jugendliche, die das Glück gut ausgebildeter oder engagierter Eltern nicht haben. Das bedeutet enorme Anstrengungen im Bildungsbereich, dessen Defizite beseitigt werden müssen. Hier sind auch die Unternehmen gefordert, die lange von billigen Arbeitskräften profitiert haben. Gewinne zu privatisieren, Verluste zu sozialisieren – diese neoliberale, diese zutiefst egoistische Denke gilt es zu überwinden.

Generell gilt es, die Chance auf soziale Mobilität in diesem Land wieder zu etablieren. »Leistung muss sich lohnen« – dieses liberal-konservative Versprechen auf eine gerechtere Gesellschaft benötigen wir dringender denn je. Es zeugt vom ideologischen Zerfall und von der politischen Unfähigkeit dieses Lagers, dass, wie jüngst geschehen, Möglichkeiten für soziale Mobilität nicht erarbeitet werden, sondern die störende Realität im »Armutsbericht der Bundesregierung« in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Die Etablierung gerechter Strukturen ist eine moralische Aufgabe. Weder hilft der abfällige Blick von oben nach unten noch das Verharren in scheinbar aussichtsloser Lethargie. Es ist gut, dass das Thema »soziale Gerechtigkeit« eines der Schlüsselthemen in diesem Bundestagswahlkampf ist. Was in diesem Land alles verkehrt läuft, darauf hat Hans-Ulrich Wehler in seinem Buch exzellent verwiesen. Aber Gott sei Dank wird er nicht zum Integrationsbeauftragten der nächsten Regierung.

 

Hans-Ulrich Wehler
Die neue Umverteilung
Soziale Ungleichheit in Deutschland
C.H.BECK
192 Seiten,  Klappenbroschur
14,95 €
978-3-406-64386-6

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